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Neunzehntes Kapitel.

Das Leben auf dem Lande war für Friedrich eben so neu als die Muße, welche er genoß. Er hatte seine Unterrichtsstunden aufgegeben, seine Collegia geschlossen und den Vorsatz gefaßt, beide nicht wieder zu beginnen, sondern sich auf dem Gute für sein künftiges Landleben vorzubereiten. Seit dem Knabenalter war seine Zeit stets einer strengen Einteilung unterworfen gewesen. Frühe Noth, frühe Liebe, Ehrgeiz und Wissensdrang hatten ihn in ihren Bahnen umhergetrieben, so daß er der Ruhe, die er sich bereitet, jetzt als einer wahren Heiligung genoß.

Früh bei Tagesanbruch die Felder zu durchschweifen, Mittags im Waldesschatten zu rasten, oder am schilfbewachsenen Teich sinnend dem Spiele der Wasserinsekten zuzuschauen, den Abend im Freien auszukosten, und mit diesen Bildern in der Seele einzuschlafen, wenn das Mondlicht durch seine Fenster zitterte, das war Alles, was er begehrte. Jener Egoismus, welcher den Kranken eigen und der ihre größte Hülfe in der Genesung ist, hatte sich plötzlich seiner bemächtigt, als er die Ruhe kennen und fühlen lernte, wie nöthig er ihrer bedurfte.

Es ist ein doppelter Zug im Menschen, der ihm den Besitz erstrebenswerth und das Nichtbesitzen erwünscht macht. Haben wir gearbeitet und getrachtet, uns einen festen Wohnsitz, Hab und Gut zu schaffen, so fühlen wir, wenn wir den Reisewagen besteigen, daß der Besitz eine Last ist, und genießen es als eine Freude, los und ledig uns mit leichtem Gepäck auf uns selbst gestellt zu finden. Dann schätzen wir gering, was wir mühsam erworben, dann möchten wir von uns werfen, was uns bald wieder wesentlich und unentbehrlich scheint, und unsere Natur verhilft uns auf diese Weise zu immer neuer Zufriedenheit, zu immer neuem Genusse. Eine ähnliche Erfahrung hatte Friedrich in Bezug auf seine Kenntnisse zu machen.

Hier in der Stille des Landlebens dünkten ihn plötzlich alle seine Studien überflüssig, sein Wissen nutzlos. Der Bauer, der seinen Acker zu bestellen, den Jahreszeiten zu begegnen und ihnen ihre Früchte abzugewinnen weiß, kam ihm beneidenswerth vor, weil derselbe, mit keinem unwesentlichen Wissen beladen, Zweck und Erfolge seiner Arbeit in jedem Augenblick zu überschauen vermag. Eine Geringschätzung aller Abstraction und Speculation bemächtigte sich seiner, die Bücher, welche er zu fleißigem Studium sich mitgenommen, lagen unangerührt und staubbedeckt, die Tinte trocknete ein, aber Friedrich's Auge schaute immer heller umher, sein Herz wurde leicht und frei; wie ein veränderter Standpunkt uns alle Gegenstände unter neuem Lichte zeigt, so änderte sich auch seine Ansicht über die eigene Vergangenheit.

Hatte er es sonst stets für ein Unglück gehalten, in niederm Stande und in Dürftigkeit geboren zu sein, so sah er dies jetzt als einen Vortheil an. Das Wenige, was er vom praktischen Leben und von der Arbeit für dasselbe kannte, stammte aus jener Zeit, dankte er dem engen Vaterhause, und die Erinnerung an dasselbe bahnte ihm den Weg, sich mit den Menschen zu verständigen, für die er künftig zu leben und zu wirken dachte. Auch den Verlust Helenens lernte er hier als eine durch die Verhältnisse gebotene Nothwendigkeit betrachten, und das Gefühl einstiger Kränkung, erlittenen Unrechts, das sich bisher in ihm stets mit der Erinnerung an seine Jugendliebe gepaart hatte, schwand hier mehr und mehr dahin.

Wenn er Abends durch die Felder ging und das stattliche Schloß mit seinen vier Thürmen sich vor ihm ausbreitete, wenn er die Unterthänigkeit sah, die der Baron von seinen Leuten für alle Glieder seiner Familie forderte und empfing, und wenn er die huldigende, durch mannigfache Wohlthat erzeugte Liebe der Dorfbewohner für die Schloßherrschaft gewahrte, so konnte er es sich nicht verbergen, daß Helene auch im günstigsten Falle eine Menge gewohnter Befriedigungen an seiner Seite entbehrt haben würde; er konnte sich es nicht verhehlen, daß die selbstherrliche Freiheit, die menschlich gesunde Schönheit eines Lebens, welches im Besitz des festen Grundes und Bodens wurzelt, kaum durch etwas Anderes zu ersetzen sei. Je öfter ihm hier die Frage in den Sinn kam, ob Helenens Liebe stark genug gewesen sein würde, auf alle diese Vortheile zu verzichten, je deutlicher ihm die Verantwortlichkeit zu werden begann, die er in der Unerfahrenheit der Jugend über sich zu nehmen bereit gewesen war, um so mehr trat die Erinnerung in ihm zurück, daß er Helene einst zum Weibe begehrt hatte, um so andächtiger liebte er in ihr sein Ideal, und diese Verheißung, welche die Baronin einst tröstend der Tochter gegeben, erfüllte sich für ihn.

Schon seit lange hatte er es vermieden, nach dem Ergehen der Gräfin zu fragen, denn fast Alles, was er in den letzten Jahren über sie vernommen, war ihm schmerzlich gewesen. Hier aber, wo sie als Kind gespielt, als Mädchen geweilt, hier, wo ihr Andenken geliebt und freundlich in dem Gedächtniß aller Dorfbewohner lebte, hier ward er es nicht müde, nach ihr zu fragen und von ihr zu hören; denn überall begegnete er dem reinen Bilde, das er in sich trug. In dem Hause des Predigers, der sie unterrichtet und getraut, in der alten Anna Wohnung war er bald ein gern gesehener Gast geworden, und auch die Bauern und Dienstleute hatten sich schnell an den fremden Herrn vom Schlosse gewöhnt, dem sie mit dem Inspector oder mit dem Jäger in Feld und Wald zu allen Stunden begegneten.

Eines Tages, zur Zeit der zweiten Heuernte, ging Friedrich am Nachmittage hinaus, den Inspector auf der Wiese zu treffen, die jenseits des Flusses gelegen war. Die Sonne stand hoch am Himmel, und rüstig zuschreitend, um die Erlen zu erreichen, welche das Bächlein des Dorfes bis zu seiner Mündung in den Fluß begleiteten, hatte er bald einen Mann eingeholt, der ein tüchtig Ende vor ihm voraus gewesen war.

»Guten Tag! Herr Schöne!« rief er ihm zu.

Der Andere, ein starker, kräftiger Sechsziger, drehte sich langsam um, rückte den Hut und sagte: »Guten Tag! Herr Candidat!«

»Was ist das für eine furchtbare Hitze!« bemerkte Friedrich und trocknete sich den Schweiß von der Stirne.

»Ja! schön Wetter!« entgegnete der Landmann, »es kommt heute Alles 'rein!« er setzte dabei den kleinen schwarzen Filzhut wieder auf, klopfte im Gehen sorgfältig die kurze Pfeife aus, und steckte sie in den Stiefel, den er über die graue Tuchhose gezogen trug. Als das geschehen war, sah er in Friedrich's, vom raschen Gehen hoch geröthetes Gesicht und fragte: »Sie kommen doch wohl nicht vom Schloß?«

»Ja wohl!« – Der Bauer schüttelte den Kopf und schwieg, bis Jener zu wissen verlangte, wie weit es nach dem großen Vorwerk sei.

»Da wollen Sie doch nicht hin?« meinte der Alte.

»Noch darüber hinaus, nach der Schloßwiese hinunter!«

»Das ist 'ne gute Stunde Wegs und noch was drüber. Ich muß auch nach der Seite!«

»Der Inspector sagte mir, es sei nicht weit!« wendete Friedrich ein.

»Ja, auf dem Sattel! aber fragen Sie 'n mal sein Pferd! Wer's laufen muß, der kennt's!«

Sie gingen, während sie so sprachen, vorwärts, wobei der Alte durch seine Ruhe den schnellen Schritt des Jüngern mäßigte. Auf den Wiesen war munteres Leben, der sammetweiche, frisch gemähte Plan funkelte goldig grün in der Sonne, überall sah man die Mädchen mit den Rechen das Heu zusammenbringen, das bei dem Aufladen von den Wagen herunterfiel, oder bepackte Wagen davon fahren. Es war ein heiterer Anblick.

»Solche Arbeit ist eine wahre Lust, wenn man sie mit der Arbeit vergleicht, die in den Städten gethan wird!« meinte Friedrich. »Wie Viele sitzen dort vom Morgen bis in die Nacht in ihren engen Werkstuben, die das ganze Jahr nichts Grünes sehen!«

Der Bauer antwortet selten auf eine Reflexion, auch schwieg der Alte, und der Andere bemerkte: »Man sieht recht, welch ein Segen es ist. Wie gesund sehen die Leute aus, wie wohlgenährt und frisch sind sie Alle!«

»Es fällt hier auch Nichts vor!« erwiderte der Alte.

»Es fällt Nichts vor? Was soll das heißen?« fragte Friedrich.

»Es geschieht hier Nichts! Seit Jahren und Jahren ist hier Nichts gestohlen und sonst Nichts vorgekommen!«

»Das sagte mir der Pfarrer auch mit großem Stolz.«

Der Alte hob lächelnd den Kopf empor. »Der Stolz sollt' ihm wohl vergehen, wenn sie hier hungerten! Aber so sind sie Alle!«

»Ich meine, Herr Schöne! Sie müßten mit dem Herrn Pfarrer wohl zufrieden sein, er ist ein braver und gelehrter Mann und ein treuer Seelsorger.«

»Da sag' ich Nichts dagegen, Herr Kandidat! gar Nichts dagegen! Wir sind mit ihm zufrieden und er wird's auch mit uns sein, denn er bekommt das Seinige. Aber das Seelsorgen sollt' ihm schon vergehen, wenn's anders wäre. Da drüben in Lippkenfeld, da predigt sich der Pastor die Lunge aus dem Leibe, und der Schulmeister bringt den Jungen die zehn Gebote bei, so wie sie auf den Beinen stehen können, aber gehen Sie mal hin und sehen Sie sich dort um. Wer Hände hat, der stiehlt, Alles ist dort herunter gekommen, und kein Pastor hat's hindern können mit allem Predigen. Das Predigen macht's just am wenigsten!«

Friedrich war überrascht. »Aber ich habe Sie doch Sonntags immer in der Kirche gesehen, und Sie schienen von der Predigt viel zu halten!« wendete er ein.

»Das thu' ich auch, und unser Herr Pastor macht's auch sehr erbaulich und sehr gut, man muß nur dazu haben!«

»Was muß man haben und wozu?«

»Sehen Sie, Herr Candidat!« antwortete der Alte, »zu Allem muß man's haben und zum Rechtthun zu allermeist, denn Noth kennt kein Gebot. Da drüben in Lippkenfeld haben sie nicht das Hemd auf dem Leibe und keinen Bissen im Munde, und kommt die schlimme Jahreszeit, so stehlen sie im Busch wie die Raben, und keine Scheune und kein Stall ist vor ihnen sicher. Verhungern will Keiner und seine Kinder hungern lassen erst recht nicht!«

Er hielt eine Weile inne und fuhr dann fort: »Sie lernen dort drüben auch: Du sollst Vater und Mutter ehren! und unter den paar Bauern, die dort noch etwas haben, da liegen sich Vater und Sohn beständig in den Haaren.«

»Aber woher kommt das?« fragte Friedrich, immer lebhafter von der Unterredung angezogen.

»Das kommt von der schlechten Wirtschaft, blos von der Wirthschaft. Ein Stein, der rollt, der setzt kein Moos an, kein Thier hält sich drauf! Drüben das Gut, das ist wohl in acht, neun Händen gewesen, daß ich denken kann! Erst hatte es der Sohn vom alten Grafen, der hatte sich im Krieg das Spielen angewöhnt und hat's verkaufen müssen. Dann kam's an Einen, der ließ Torf graben und Glashütten anlegen, da lief Alles in die Fabrik, sogar die Kinder wurden auch 'reingesteckt. Nachher, wie's schief ging und die Hütte Nichts brachte, da saß Alles da. Die Aecker waren 'runtergekommen, denn Alle hatten sich auf's Speculiren gelegt und hatten sich Alle verspeculirt; da ging's an's Verkaufen – der Bauer wie der Herr. Erst von jedem Bauergute eine halbe Hufe an den Müller oder an den neuen Gutsherrn, dann wieder ein Stück an den nächsten Gutsherrn. Der Jetzige hat's All in der Hand, und es sitzen nicht mehr drei Bauern auf den alten Hufen, und die da sind, die sind in Noth und sind alt, können aber doch nicht fort vom Hofe, kommen nicht in's Ausgeding, denn für Zwei trägt's das verarmte Wesen nicht, und ein Alter kann doch nichts Rechts mehr schaffen. Das wird den Jungen zu lang, und es ist Zank ohn Absehen und End' zwischen Vater und Sohn. Da lassen Sie denn einmal den Pastor davon predigen, daß sie Vater und Mutter ehren sollen und nicht begehren des Nächsten Hab' und Gut! – Wer gottesfürchtig sein soll, der muß es dazu haben, das ist die Hauptsache!«

Friedrich hörte dem Alten mit Erstaunen zu. Es war einer der vermöglichsten und bravsten Bauern des, Dorfes. Wie er sechzig Jahre alt geworden, hatte er dem Sohne die Wirthschaft übergeben und war in's Ausgeding, in ein kleines Haus gezogen, das zu seinem Gut gehörte. Seinen Unterhalt bezog er nach einem festen Abkommen von seinem Sohne. Er selbst bestellte nur das Stück Gartenland, das er sich vorbehalten, und hatte sich nun ganz auf die Bienenzucht gelegt, die er mit Glück und Vorliebe betrieb. Dabei galt er für einen guten Nachbar, und ihm und seinem Sohne ward es nachgerühmt, daß nie ein Armer hülflos von ihrer Schwelle ging. Aus dem Munde eines solchen Mannes bekamen diese Worte für den künftigen Landgeistlichen ein bedeutendes Gewicht.

»Wenn man Sie so sprechen hört, Herr Schöne,« sagte er, »so sollte man eigentlich meinen, der Pastor wäre ganz überflüssig auf dem Dorfe!«

Der Bauer antwortete nicht gleich. Er nahm den Hut ab, kämmte sich mit dem runden, breiten Kamme, der sein Haar im Nacken zwischen den beiden Ohren zusammenhielt, mehrmals über den Kopf, und sah sich dabei seinen Gefährten behutsam an, als wolle er erforschen, wie weit man mit ihm gehen dürfe. Dann setzte er den Hut wieder auf, drückte ihn tief in die Stirne, so daß er ihm die Augen ganz beschattete und meinte: »Ueberflüssig? I nun! just überflüssig ist der gewiß nicht, denn wie soll man sich taufen und einsegnen und trauen und begraben lassen ohne einen Pastor, und unserer ist von den Allerbesten Einer – aber anders könnt' es freilich sein!«

»Ja! wie denn aber?« fragte Friedrich.

»Zu arbeiten giebt's immer, Herr Candidat! ist's nicht das Eine, ist's das Andre, und wer richtig arbeitet, der wird auch satt. Da war hier der Weber im Dorf, der hungerte mit Weib und Kind, denn die Weberei ging nicht, und all' Augenblick hatte ich einen von seinen Jungen in meinem Garten beim Rübenausziehen und Apfelstehlen abzukallaschen. Aber kaum war ihnen der Buckel heil, so waren sie wieder da, und es waren Jungens, die kaum die Haut über die Knochen hatten. Zuletzt sah ich, das Prügeln nutzte Nichts, sie stahlen anderwärts und der Eine kam zuletzt in's Loch.«

»Und was wurde dann aus ihnen?« fragte Friedrich.

»Was dann geworden ist? Ich bin dann hingegangen und hab' den Weber genommen und ihm gesagt: Wenn ich seh, mein Acker will keine Kartoffeln mehr tragen, so muß ich Rüben setzen. Wenn Deine Weberei Nichts abwirft, da bist Du ein Narr, wenn Du immer weiter webst und die Jungens Nichts lernen läßt, als die Weberei, bei der sie aus Noth stehlen und alle noch in's Zuchthaus wandern. Du hast ja ab und zu 'nen Korb gemacht, wenn's nöthig war, und hast es gut bezahlt bekommen, mach' Körbe. – Und nun sind sie auf dem Strumpf Alle sammt, fahren mit 'nem eigenen Esel 'rum durch's Land bis in die Stadt, und es stiehlt keiner mehr. Sind's nicht Körbe, so ist's was Andres!« –

»Sie meinen also, der Pastor sollte darauf sehen, daß die Leute Arbeit und ihr Auskommen hätten, damit der Mangel sie nicht zu Verbrechen treibe?«

»Es sollt' wohl gut sein, Herr Candidat! Es sollte manch' Einer in den Himmel kommen, wenn's ihm nicht gar zu schlecht ging in der Welt. Blos pred'gen, was man nicht soll und wie man nicht in den Himmel kommt, das macht's lange nicht!«

Sie waren dabei bis zu dem Punkte gelangt, an dem ihre Wege sich trennten. Der Bauer blieb stehen, zeigte Friedrich den Fußpfad, den er einzuschlagen hatte, und sagte dann: »Nichts für ungut, Herr Candidat! und es mag auch sein Gutes haben mit der Gelehrsamkeit, nur hier uns draußen nutzt's nicht viel! Also Nichts für ungut!«

»Im Gegentheil! ich will mir's merken, und ich danke Ihnen, daß Sie mir es sagten! Ich will von Ihnen lernen, wie man helfen kann!« rief Friedrich warm.

»Lernen? lernen kann so 'n studirter Mann wohl Nichts von unsereinem, Herr Candidat! aber was ich so gesehen hab', das will ich Ihnen sagen, wenn Sie's hören wollen! Guten Weg und Adjes! Herr Candidat!«

Damit wendete er sich zur Rechten, und Friedrich schlug den Steg zur Linken ein, immer dem Wasser entlang, dessen leises Murmeln ihn begleitete. Aber so liebevoll er sich sonst in den Genuß der Natur versenkte, heute sah er Nichts von all' der sanften Schönheit um ihn her. Die Unterredung mit dem Bauern beschäftigte ihn ganz allein, sie hatte eine Menge von Fragen und Gedanken in ihm angeregt, die ihn alle in das praktische Leben hinauswiesen. Was hatte auch das Studium der Kirchenväter, dem er durch lange Jahre die ganze Thätigkeit, die ganze Kraft gewidmet, mit den Bedürfnissen, mit der Moral des täglichen Lebens gemein? Was hatte es im Grunde in ihm selbst gefördert, als jene Zweifel und Anschauungen, welche seinem Vater und diesem Bauern aus der eigenen Vernunft gekommen waren, weil dieselbe nicht durch absichtliche Erziehung für die Theorie und für das Jenseits von der Erde und von der Thätigkeit auf ihr abgewendet worden waren.

Der Nachtheil, welchen der Alte in dem Wechsel der Gutsbesitzer für das Dorf erblickt, die üblen Folgen der Fabriken auf den ruhigen Erwerbfleiß der Landbewohner, die Nothwendigkeit des Erwerbwechsels bei wechselnden Culturzuständen und eine Menge sich daran knüpfender Fragen, drängten sich ihm plötzlich als ein Naheliegendes auf, und des Doctors Voraussagung, daß ein Aufenthalt auf dem Lande ihn lehren werde, wie wenig die Geistlichen durch ihre theologischen Studien darauf vorbereitet würden, Seelsorger und Volkserzieher zu werden, machte sich ihm nur zu sehr als Wahrheit geltend.

Wie es in solchen Augenblicken geht, hatte Friedrich kaum die Schloßwiesen erreicht und den Inspector aufgefunden, als er von den Dingen zu reden begann, die ihm im Sinne lagen. Er erzählte, welches Gespräch er mit dem Bauern gehabt hatte. Der Inspector hörte ihm ruhig zu, und meinte dann: »Es hat seine Nichtigkeit mit Vielem, was er Ihnen sagte, aber der Alte ist doch ein Fuchs!«

»Ich habe nichts Listiges, nichts Habsüchtiges in ihm und seinen Behauptungen bemerken können!« entgegnete Friedrich.

»Ich meine auch nichts Schlimmes damit, er ist eben ein Bauer, und in jedem Bauer steckt ein Fuchs und ein Aristokrat zugleich!« lachte der Inspector, »denn gegen den Hochmuth und den Stolz des Bauern, der auf seinem Hofe sitzt, da ist der Adelstolz unseres Herrn Barons nur Kleinigkeit.«

Er ging dabei mit Friedrich auf der Wiese umher, hatte die Augen überall, und gab ab und zu einen Befehl oder eine Anweisung, wenn das Laden der Wagen nicht nach seinem Sinne geschah oder sonst irgendwo eine Versäumniß sich entdecken ließ.

»Ich glaube,« sagte er nach einer Weile, »wenn der junge Schöne sich's beikommen ließe, den Tausch einzugehen, den wir ihm vorgeschlagen haben, der Alte ginge nicht mehr über seine Schwelle, und der Sohn ist grade so.«

»Von welchem Tausche sprechen Sie?«

»Sie haben anderthalb Morgen Wiese, dicht am Wasser hier bei der unsern, die ihnen viel zu weit vom Hofe liegt und also unnütz Zeit wegnimmt. Uns paßte die Wiese, denn sie ist von der unsern umschlossen, und Schöne muß fortwährend über unsern Grund und Boden. Da hat ihm der Baron vorgeschlagen, ihm eine Trifft dafür zu geben, die offenbar vortheilhafter für den Hof und ihm für die Schaafe besser wäre, aber so sehr er sonst auf seinen Vortheil sieht, er geht nicht darauf ein, und hat nur eine Antwort: Was zum Hof gehört, das gehört dazu, und es sind ja noch Alle bisher damit zurecht gekommen, also kann ich's auch. – Das ist aber das gewöhnliche Bauernraisonnement.«

»Das Herunterkommen des Nachbardorfes durch den Wechsel der Gutsherrschaft und durch die Parcellirung mag ihn stabil gemacht haben!«

»Ach Gott bewahre! was ein rechter Bauer ist, das ist überall und von jeher dasselbe gewesen. Wären Adams erste Nachkommen Bauern gewesen, sie säßen noch heute zusammengepfercht auf ihrer Hufe, dicht vor der Paradiespforte. Der häufige Gutsverkauf taugt sicher Nichts, das allzu viele Parcelliren ist ein Unglück hier im Norden, wo der Boden nicht viel abwirft, und in so fern hat der Alte Recht; indeß das Festsitzen hat auch sein Aber auf den kleinen so wie auf den großen Gütern.«

Er machte dabei eine wegwerfende Bewegung, und es konnte Friedrich kein Zweifel darüber bleiben, daß der Inspector mit der Wirthschaft des Barons nicht einverstanden war. Doch hielt er's nicht für angemessen, ihn danach zu fragen, und begnügte sich mit der Bemerkung, daß im Ganzen ein großer Wohlstand auf dem Gute des Barons zu herrschen scheine.

»Ja!« sagte der Inspector, »wer hier geboren ist und ihm parirt, dem hilft er; heranziehen läßt er Niemand, und doch schadet er sich selbst damit, denn es fehlt bei uns an Arbeitskraft. Wir könnten zehn, funfzehn Familien mehr ernähren und hätten nur Profit davon. Aber« – fügte er lächelnd dazu – »es heißt, wenn ich das sage, auch bei uns: Wir sind ja auch so fertig geworden, und ich will kein Gesindel haben hier in Wogau, also soll's so bleiben. – Darin halten der Herr Baron und die Bauern ganz vortrefflich zusammen. Sie denken immer noch, der Mensch sei eine Last, weil sie Nichts mit ihm anzufangen wissen!«

Friedrich's Theilnahme an diesen Dingen wuchs durch Alles, was er hörte. Er hatte nur den einen Gedanken, die Landwirthschaft zu erlernen, und als er sich von dem Inspector getrennt hatte und in der beginnenden Kühle den Rückweg nach dem Dorfe machte, waren die Farbenschönheiten, mit denen die tiefstehende Sonne die Erde schmückte, war die Erfrischung der Luft für ihn verloren, denn wie es dem Kenntnißlosen immer geht, beunruhigte und reizte ihn die Masse dessen, was ihm zu erlernen blieb, je schärfer er die Augen darauf richtete. Nur das Eine stand fest in ihm, der Landgeistliche müsse ein erfahrener Landwirth sein, um der Rathgeber und dadurch der wahre Seelsorger der ihm anvertrauten Gemeinde werden zu können.

Voll von diesen Gedanken und Plänen, sie zu verwirklichen, kam er in das Dorf und wollte eben über den großen Fahrweg fort sich durch die Felder nach dem Parke wenden, als ihn die alte Anna gewahr ward, deren Häuschen hart am Wege lag.

»Na! machen Sie nur, daß Sie hinkommen, Herr Brand!« rief sie ihm zu, während sie die Brille abnahm, ihr Strickzeug fortlegte und an die Stachelbeerhecke herantrat, die das Gärtchen vor ihrer Thüre einschloß.

»Wo denn hin?« fragte er.

»Auf's Schloß, da sind sie Alle!«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!« versicherte er.

»Mein Gott!« rief die Alte, »Sie wissen noch Nichts? Das ganze Dorf ist ja voll davon, da kommen Sie doch nur ein Augenblickchen herein!«

»Aber was ist denn vorgefallen?« drängte er, und wollte vorübergehen.

»Sie sind Alle ganz außer sich vor Freude! Kein Mensch hat es gewußt, wie sie kamen.«

»Wer, wer ist denn gekommen?«

»Von Neapel sind sie gekommen!« rief die Alte. »Ich sah sie zuerst, den großen gelben Wagen; und wie ich nun noch denke, wer es sein kann – –«

Friedrich hörte es nicht mehr, schon bei den ersten Worten war er zusammengefahren und hatte sie verlassen, aber nicht nach dem Schlosse hatte er sich gewendet, sondern zurück, zum Dorfe hinaus.

Flüchtigen Fußes eilte er davon, vorwärts, immer vorwärts. Die Arbeiter, die vom Felde kamen und grüßend an ihm vorüberzogen, wunderten sich, daß er ihnen keinen Gruß erwiderte. Er sah sie nicht, er wußte auch nicht wohin er wollte. Ein unklares Empfinden hatte ihn von dannen getrieben, endlich zwang die Ermüdung ihn an sich zu denken, und er stand stille.

Die Dämmerung war angebrochen, in mattem Blau zeichnete sich die lange Linie des Horizontes vor ihm ab. Der Nebel stieg aus den Wiesen empor, denn der Abend war kühl geworden. Erhitzt wie Friedrich es war, schauerte er fröstelnd zusammen. Er befand sich auf der Brücke. Das Wasser floß langsam unter dem Bogen hin, still und kühl. Er blickte hinab, als solle ihm von dort her Lösung kommen. »Auf welche Frage bedarf ich denn der Lösung? was ist mir denn geschehen?« fragte er sich.

Er hatte keine Antwort darauf, aber er fühlte alle Schmerzen und Freuden der Vergangenheit aufzucken in seiner Brust, er fühlte, daß er wieder der Ruhe entrissen war, die er so schwer errungen hatte, und er fragte sich, ob es nicht weiser sei, sich und der Gräfin ein Wiedersehen zu ersparen, das Beiden doch nur traurig sein konnte.

Da wendete er seine Augen nach dem Dorfe hinüber, – die Fenster des Schlosses waren erleuchtet. »Dort also ist sie!« dachte er. Sein Herz wallte auf – und gezogen von dem Verlangen, sie nur einmal noch zu sehen, kehrte er in's Dorf zurück.

Als er durch die dunklen Alleen des Parkes ging, trat ihm in deutlicher Erinnerung die Nacht entgegen, in der er sich von ihr getrennt. So oft ein Luftzug sich regte, glaubte er, sie müsse nahen, der Zufall müsse ihm wie damals günstig sein. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihr in Gegenwart des Grafen, in Gegenwart der Anderen zu begegnen – aber Niemand kam und einsam gelangte er an's Schloß.

In der Halle war Alles leer. Keine ungewöhnliche Bewegung verrieth der Gäste Ankunft. Erst im Vorsaale des obern Stockes fand er einen Diener, den er fragen konnte, wo die Herrschaft sei?

»Im Theezimmer!« erwiderte dieser und schien verwundert über seine Frage.

Der Athem stockte ihm in der Brust, nur noch ein Zimmer trennte ihn von ihr. Wie würde er sie wiederfinden? Wie würde sie ihn entgegentreten? Er zauderte. – Noch konnte er zurück – aber er mußte sie sehen. Mit raschem Entschlusse öffnete er die Thüre des Gemaches, das sich zwischen dem Vorsaale und dem Theezimmer befand, ein lebensgroßes Brustbild, von der Lampe hell beleuchtet, stand auf einer Staffelei – es war Helene.

Wie angewurzelt blieb er vor demselben stehen. Ein dunkelrothes Sammtkleid umgab ihren Leib, ein Diadem von Brillanten krönte ihre Stirne. Ein strahlendes Siegesbewußtsein war über die ganze Erscheinung ausgegossen. Sein Herz krampfte sich zusammen, diese Gräfin St. Brezan war nicht mehr Helene, sie war ihm eine Fremde.

In schmerzlicher Versunkenheit konnte er die Blicke nicht von dem Bilde wenden. Es war ihm, als müsse der Ausdruck der Gräfin sich unter seinem Auge ändern, als müsse die Geliebte seiner Jugend daraus hervorgehen in ihrer unschuldsvollen Schöne, aber das strahlende Lächeln regte sich nicht, und mit Thränen in den Augen seufzte er: »Mußtest Du mir auch noch die Erinnerung nehmen, unglücksel'ges Weib?«

Er schreckte auf, als die Thüre sich öffnete. Es war Cornelie, die hereintrat.

»Wie finden Sie das Bild?« rief sie ihm entgegen. »Helene schreibt, es sei das Beste, das von ihr gemacht ist!«

»Sie schreibt?« – wiederholte er, als verstehe er sie nicht.

»Auch Feldheim und die Frau, die es mitgebracht haben, halten es für gelungen,« sagte Cornelie. »Die Pastorin war eben mit ihnen hier und ganz außer sich vor Freude über ihres Bruders Ankunft. Seit zehn Jahren hatten sie sich nicht gesehen!«

Der Umschwung in Friedrichs Ideen und Empfindungen war zu heftig gewesen. Seine Glieder versagten ihm den Dienst, er mußte sich setzen. Sein Kopf brannte, bunte verschwimmende Funken flirrten vor seinen Augen auf und nieder, und zwischen ihnen durch blickte ihn immer das Bildniß der Gräfin mit seinem strahlenden Lächeln an, das ihm das Herz zerriß. Er glaubte sich auf der Brücke zwischen den Wiesen, die kalte Abendluft durchschauerte ihn wieder, die Tiefe dunkelte unter ihm, und schwindelnd sank er hinab, während er einen Hülfe ruf Corneliens zu vernehmen glaubte.


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