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Siebentes Kapitel.

Unter den Gästen, welche in jener Zeit das Haus des Grafen St. Brezan besuchten, hatte sich auch ein junger Russe befunden, der ein halb Jahr später, bei einer Opernaufführung, in der Fremdenloge des Berliner Opernhauses saß.

»Seit wann sind Sie hier?« fragte ihn ein älterer Mann, der den vordern Platz neben ihm eingenommen hatte.

»Seit vorgestern, Excellenz!«

»Und Sie kommen?«

»Von Neapel! Ich habe im vorigen Herbste Depeschen überbracht, darauf die Ordre erhalten dort zu bleiben, weil der dortige Attaché Urlaub hatte, und will nun morgen mit dem Dampfer von Stettin zurück.«

»Sind viele Fremde in Neapel?«

»Ja! aber bis jetzt noch wenig Russen und im Grunde Nichts von Distinction. Die einzige Frau von Bedeutung ist überhaupt die Gräfin St. Brezan!«

Die Unterhaltung, auf deren letzte Worte ein anderer junger Mann, welcher sich neben den Sprechenden in der Loge befand, plötzlich aufmerksam geworden war, hatte durch den Beginn des neuen Actes ihr Ende erreicht. Als sich der Vorhang wieder senkte, nahm jedoch der ältere Herr das Thema wieder auf.

»Was ist die Gräfin St. Brezan für eine Geborene?« fragte er.

»Ich habe den Namen vergessen, indeß sie ist eine Deutsche und eine prächtige Brünette! Die Italiener haben einen wahren Fanatismus für sie. Ihre Liaison mit dem bekannten Cavaliere Camillo, von dem Excellenz das große Bild im Zimmer der Kaiserin gesehen haben werden, und für den die Gräfin jetzt ausschließlich lebt, hat sie unter den Künstlern zum Idol gemacht!«

Die alte russische Excellenz that lächelnd noch eine Frage, der Petersburger Gesandtschaftsattaché antwortete ebenfalls lächelnd und die Schultern ziehend, indeß die letzte Rede und Gegenrede wurde sehr leise geführt, so daß der dritte Anwesende sie unmöglich verstanden haben konnte. Dennoch zuckte er zusammen und verließ die Loge.

»Kannten Sie den Herrn?« fragte der Alte.

»Ich bin sehr fremd in Berlin, Excellenz! und kenne fast Niemand außer unserer Gesandtschaft!« entgegnete der Attaché, während Erich von Heidenbruck die Corridors durchschritt und in die erleuchtete Frühlingsnacht hinaustrat.

Er hatte nichts ihm Neues erfahren, aber zum ersten Male war ein Urtheil gegen Helene in seiner Nähe ausgesprochen worden, und es dünkte ihm ein Trost, daß er, und nicht sein Vater Zeuge jener Worte gewesen war. So wenig dem Baron die ehelichen Verhältnisse seiner Tochter ein Geheimniß geblieben, hatte er ihrer gegen Niemand, selbst nicht gegen Erich, jemals mit einer Andeutung erwähnt. Es widerstand seiner Selbstachtung, ein solches Unrecht vor einem Mitgliede seiner Familie einzugestehen, sobald er demselben nicht durch sein persönliches Einschreiten abzuhelfen vermochte, und Helene war grade bei den Ansichten des Barons, jedem Eingriffe der väterlichen Herrschaft entzogen, so lange der Name und die Anerkennung ihres Gatten sie beschützten. Weit entfernt, sich selbst anzuklagen, daß er die Tochter gegen ihre Neigung einem ihm selbst nur oberflächig bekannten Manne hingegeben habe, wendeten seine Unzufriedenheit und sein ganzer Zorn sich gegen St. Brezan, treu dem Grundsatze von der Aufrechterhaltung der Familie in den Augen der Welt, wie in dem eigenen Herzen. Während man sich der bevorzugten äußeren Verhältnisse der Gräfin in ihrem Vaterhause zu erinnern liebte, während man ihrer selbst und ihrer Eigenschaften zu gedenken nicht ermüdete, schwieg man, aus dem gemeinsamen Instincte des patriarchalischen Familiensinnes über ihre unglückliche Ehe und die aus ihr entsprungenen Verirrungen. Der ächte Familiensinn und der Monarchismus beschränken das Urtheil ihrer Anhänger, weil beide sich verpflichtet glauben, die unbedingte Tadellosigkeit der Gegenstände ihrer Verehrung zu behaupten, und sie nehmen sich die Fähigkeit wirksamen Handelns, da sie durch ihre absichtliche Verblendung dem Unparteiischen nicht als urtheilsfähig erscheinen können.

Erich selbst hatte bisher die Schwester mehr bedauert als beschuldigt. Er war kein Neuling mehr in den Verhältnissen der großen Welt, und hie und da selbst für den mehr oder minder begünstigten Verehrer verheiratheter Frauen angesehen worden. Oft genug hatte er mit gleichgültiger Leichtfertigkeit über solche Verhältnisse gesprochen, sie verdammend oder entschuldigend, je nachdem seine Theilnahme sich dabei angeregt gefunden. Jetzt, da er die eigene Schwester an öffentlichem Orte, von fremden Männern, eines solchen Liebeshandels anklagen hören, erschienen diese Zustände ihm plötzlich unter einem veränderten Gesichtspunkte, weil seine Stellung zu denselben eine andere geworden war.

Mit quälender Deutlichkeit traten ihm die Fälle entgegen, in denen seine Galanterien und Tändeleien die Ruhe einer glücklichen Ehe oder eines Mädchens vorübergehend oder dauernd gestört. Er hatte sich kein eigentliches Unrecht vorzuwerfen, aber er hätte doch Manches ungeschehen machen mögen, und wie es Menschen seines Charakters leicht begegnet, die zur Selbstprüfung nicht geneigt, ihr durch einen Zufall unterworfen werden, gelangte er dahin, sich strafbarer zu finden als er wirklich war. Mit Rührung wendeten seine Blicke sich auf das greise Haupt seines Vaters zurück. Die friedensvolle Ehe seiner Eltern, die eigene und der Geschwister ungetrübte Jugend, der Abend, an dem der Vater ihn und Helene freigesprochen für das Leben, traten ihm mit herzbewegender Klarheit vor das Auge, um ihm die Verhältnisse im Hause seiner Schwester, deren Zeuge er in Neapel gewesen war, noch trauriger und unwürdiger erscheinen zu machen.

Er mußte die Gedanken abwenden von den Verirrungen Helenens, von dem eigenen Leichtsinn, und schnellkräftig in der Phantasie, ging er von bittrer Selbstanklage zu guten Vorsätzen, zu Vorstellungen einer Ehe über, wie er sie für sich ersehnte, um in ihr jenes patriarchalische Familienleben fortzusetzen, dessen Vorbild seine Eltern ihm gegeben. Er hatte ein solches nur noch in dem Hause einer Frau von Werdeck wiedergefunden, die, obschon begütert, mit ihrer einzigen Tochter in großer Zurückgezogenheit lebte, seit sie früh ihren Gatten verloren hatte. Sie war eine Freundin seiner Mutter gewesen und schon bei seinem ersten Aufenthalte in Berlin, hatte er in einem fast sehnlichen Verhältnisse zu ihr gestanden, das sich mehr und mehr befestigt, so daß es ihm zum Bedürfnisse geworden war, sich mit ihr auszusprechen, sobald irgend Etwas ihn innerlich lebhaft beschäftigte. Auch jetzt hatte er vorgehabt zu ihr zu gehen, nicht um ihr das Erlebte zu vertrauen, sondern um sich in ihrer Nähe zu beruhigen, als er ein junges Mädchen angstvoll an sich vorüber eilen sah, das von einem älteren Manne offenbar verfolgt ward.

Das helle Gaslicht, welches unter den Linden aus den Magazinen auf die Straße fiel, ließ den hohen schlanken Wuchs und die geschmackvoll anständige Kleidung der jungen Person erkennen. Aber solcher sich täglich wiederholender Scenen nur zu sehr gewohnt, achtete Erich Anfangs nicht darauf, bis der Verfolger das Mädchen, welches ihm mehrmals ausgewichen war, wieder erreicht hatte, und demselben in einer Weise den Weg vertrat, welche es gradezu zwischen ihn und Erich stellte. Das Mädchen schrak zusammen, aber plötzlich entschlossen, sagte es, sich an Erich wendend: »Schaffen Sie den Menschen fort!«

Der Klang ihrer tiefen Stimme, der Zorn, mit dem sie sprach, hatten etwas Gebietendes. Ihr Verfolger, dem es nicht erwünscht sein konnte, einen Auftritt zu veranlassen, trat zurück, und das Mädchen ließ es ruhig geschehen, daß Erich ihm den Arm bot und es mit sich führte.

Auf seine Frage, ob sie schon lange von der Zudringlichkeit des Mannes zu leiden gehabt habe, antwortete sie ein trockenes Ja, und verfiel dann in ein Schweigen, welches Erich in dieser Lage nicht von seiner Begleiterin erwartet hatte, deren edle, majestätische Züge ihn überraschten, als sie einmal ihr Haupt voll gegen seine Seite wendete. Daß er hier keines jener leichtfertigen Geschöpfe vor sich habe, welche um diese Zeit die Straßen zu durchschwärmen pflegen, war ihm außer allem Zweifel. Dennoch wußte er nicht, was er eigentlich aus seiner neuen Bekanntschaft machen solle.

Ihrer Erscheinung, ihrer Kleidung und Sprache nach, mußte er sie zu den gebildeten Classen rechnen, und doch hatte ihr Betragen mehr und weniger Freiheit, als den Töchtern dieser Stände eigen zu sein pflegte. Die Sicherheit, mit der sie sich in den Straßen umsah, die Art ihres Gehens überhaupt, machten es ihm wahrscheinlich, daß sie es gewohnt sei, sich auch zu solcher Stunde allein in denselben zu bewegen. Er dachte, es könne eine Handarbeiterin sein, die von ihrem Tagewerke zurückkehre, indeß er wußte mit solcher untergeordneten Stellung in der Welt nicht jenen befehlenden Ton zu vereinen, mit dem sie seinen Schutz gefordert, und in dem das volle Vertrauen weiblicher Würde gegen die männliche Ehrbarkeit sich ausgesprochen hatte. Sowohl die Art und Weise, in der sie seinen Arm losließ, sobald sie sich aus dem Bereiche ihres Verfolgers glaubte, als die Ruhe, mit der sie, seinen Fragen ausweichend, neben ihm herschritt, hatten etwas Eigenthümliches. Während Erich aber noch darüber grübelte, wer und was sie sein könnte, blieb sie plötzlich stehen, als sie eine Strecke in der Charlottenstraße hinaufgegangen waren.

»Wohnen Sie hier?« fragte Erich.

»Nein! aber ich kann jetzt allein gehen, und ich danke Ihnen, daß Sie sich meiner angenommen haben!«

Auf Erich's Vorstellung, daß sie ihm erlauben möge, sie nun bis zu ihrem Hause zu geleiten, antwortete sie ablehnend: »Ich bin es gewohnt, allein zu gehen!« dankte ihm nochmals und entfernte sich mit solcher ruhigen Festigkeit, daß ihr Begleiter nur um so begieriger wurde, ihr zu folgen und zu erfahren wer sie sei.

In immer gleicher Entfernung hinter ihr hergehend, gelangte er endlich in einen der entlegeneren Stadttheile, und sah sie in ein Haus eintreten, das, nach seiner Bauart zu urtheilen, nur von Familien der arbeitenden Stände bewohnt sein konnte.

Eine Weile blieb er davor stehen, um die Ein- und Ausgehenden zu beobachten, aber es kam Niemand. Nur die plötzliche Erleuchtung eines Erkerstübchens gab ihm einen, wenn auch geringen Aufschluß über des Mädchens Wohnung und damit über ihren Stand.

In die Friedrichsstadt zurückgekehrt, war es zu spät geworden, Frau von Werdeck zu besuchen. Er ging also nach Hause, abwechselnd beschäftigt mit dem Erlebniß in der Oper und mit der jungen Schönen, bis er sich niederlegte und in seinen Träumen die Letztere die Oberhand gewann.

Als er am folgenden Morgen, seine Cigarre rauchend, im Fenster lag, und die lange Friedrichstraße hinabschaute, überraschte es ihn, daß er in jedem zur Arbeit gehenden Frauenzimmer seine Unbekannte zu entdecken glaubte. Er lachte innerlich über die Jugendlichkeit dieser Neugier und dieses Antheils, als sie mit einemmale wirklich aus der ihm zunächst liegenden Querstraße hervortrat, und mit ihrer ruhigen, sichern Haltung wieder ihren Weg nach den Linden nahm.

Man braucht eine Physiognomie nur einmal gesehen zu haben, dachte er, um ihr immer wieder zu begegnen, und doch that es ihm, während er diese gleichgültige Bemerkung machte, leid, nicht angekleidet zu sein und ihr nicht folgen zu können. Selbst als er sich zur Arbeit niedergesetzt und sich in den Acten seiner Proberelation für das Assessorexamen vertieft hatte, fand er, daß seine Gedanken bei ihr weilten, und er erinnerte sich nun, daß ihm im Traume ihr Bild mit alten fernliegenden Jugendeindrücken in wunderlicher Weise zusammengeflossen war.

Hatte er Anfangs gelacht über den Antheil, den sie ihm einflößte, so fing dieser ihn zu verdrießen an, weil er im Widerspruche mit seinen Plänen stand. Sein Vater wünschte ihn verheirathet zu sehen, er selbst hatte es sich oft gesagt, daß es Zeit für ihn sei, an die Ehe zu denken, weil er des Herumschweifens und der Abenteuer satt sei, die allen Reiz für ihn verloren hatten. Sich jetzt von einer so gleichgültigen Begegnung lebhaft beschäftigt zu fühlen, war ihm ärgerlich. Und um aller Neugier und allen Antheil ein Ende zu machen, beschloß er, am Nachmittage in die Wohnung der Schönen zu gehen, sich nach ihr zu erkundigen, und dann die Sache ruhen zu lassen, wenn er der jugendlichen Grille, der thörichten Aufwallung, die in diesem Mädchen etwas Besonderes zu sehen gewähnt, ein enttäuschendes Genüge gethan haben werde.

Es mochte vier Uhr sein, als er von seiner Mittagsmahlzeit kommend, das Haus erreichte, in das er gestern das Mädchen hatte gehen sehen. Das Gebäude war vierstöckig und nur vier Fenster breit. In jeder Etage wohnten nach den Namen an den Thüren zwei Familien, aber Fluren und Treppen waren auffallend sauber gehalten, und die Wohnungen alle verschlossen. Im zweiten Stocke, in dem er an beiden Wohnungen geklingelt, und in vorsichtiger Weise Auskunft zu erhalten versucht, hatte man von einer Näherin im Hause Nichts zu wissen behauptet. In der dritten Etage war ihm nicht geöffnet worden, und mehr und mehr gewann das Haus ein klösterliches Ansehen für ihn, das ihn in Verwunderung setzte und seine Theilnahme erhöhte, weil es so selten ist, daß man in den Häusern der Armuth Ruhe, Sauberkeit und Schicklichkeit begegnet.

Er hatte jetzt nur die Wahl, unverrichteter Sache umzukehren, und sich, wollte er durchaus seine Neugier befriedigen, in dem nächsten Polizeibüreau einen Ausweis zu verschaffen, oder direct zu dem Mädchen selbst zu gehen. Das Erstere konnte ihn als einen Roué erscheinen lassen, das Letztere höchstens das Mädchen beleidigen. Bei allem Interesse aber, das er an ihrem gesitteten Wesen genommen hatte, meinte er dennoch, ein Frauenzimmer, das in der Erkerstube eines entlegenen Revieres wohne und Abends spät allein durch die Straßen gehe, könne im Grunde eines solchen Begegnisses nicht ungewohnt sein und nicht eben schwer durch dasselbe beleidigt werden. Seine Meinung von dem Mädchen veränderte sich, durch die Art, in der er nach demselben forschte, und weil er es niedrig behandelte, schien es ihm plötzlich erniedrigt.

Als er anklopfen wollte, fühlte er ein Widerstreben. Er hätte es eine üble Ahnung nennen mögen, hätte er sich solcher Schwäche nicht geschämt. Aber schon im Begriffe fortzugehen, sagte er sich, daß die Bewohnerin am Morgen bei ihm vorübergeschritten, daß sie also nicht zu Hause sein werde, und daß es daher ohne alle Bedeutung sei, ob er anklopfe oder nicht. Sei sie aber doch zu Hause, nun so sei es eben auch gut, und das ganze Vorhaben das gleichgültigste von der Welt. In dieser Ueberlegung pochte er schnell an, – fuhr aber doch zusammen als es »herein!« rief, mit der Stimme, die er gestern so anziehend gefunden hatte.

Die junge Person öffnete die Thüre, trat erschreckt zurück, als sie ihn gewahrte, und schien nicht gleich zu wissen, wie sie ihm begegnen solle. Plötzlich jedoch zuckte eine wunderbare Bewegung durch alle ihre Züge, und fast athemlos fragte sie ihn, was er wünsche? während sie zurücktrat, ihn in das Zimmer einzulassen.

Es war ein mäßig großer Raum. Auf einem Fußtritt in dem weit hervorspingenden Erker, der mit einer Gardine von buntem Kattune behängt war, standen ein Nähtisch und ein bequemer Strohstuhl. Ein Vogelbauer mit Epheu umrankt, glänzte in der Abendsonne, hellgelb wie das Gefieder seines Bewohners. Ein Sopha, über dem eine Guitarre hing, einfache, höchst sauber gehaltene Möbel und eine Menge alter Bilderchen an den Wänden gaben der Stube einen Anstrich von Wohnlichkeit und fesselnder Zierlichkeit, mit dem das schwarze Wollkleid und der weiße Kragen der Besitzerin in vollstem Einklang standen.

Erich, von dem lieblichen Bilde angenehm berührt, fühlte sich außer Stande, sein Kommen durch irgend einen Verwand zu erklären. Es dünkte ihn unmöglich, der klaren Stimme dieses Mädchens, ihren gewaltigen Augen gegenüber eine jener gewöhnlichen Unwahrheiten auszusprechen. Und kaum hatte er auch den Fuß über ihre Schwelle gesetzt, als sie ihn mit dem Ausrufe: »Wir haben uns schon gesehen!« der Nothwendigkeit entzog, die Unterredung zu beginnen.

»Ja!« antwortete Erich, »und weil Sie mir gestern – –«

»Gestern? – O! nicht von gestern spreche ich!« fiel sie ihm in's Wort, wendete sich nach ihrem Nähtisch, nahm aus einem saubern Kästchen eine Brustnadel heraus, deren Kopf eine werthvolle Perle bildete, trat mit flammendem Erröthen vor ihn hin, und fragte, indem sie ihm die Nadel zeigte: »Kennen Sie die Nadel?«

»Regine!« rief Erich im Tone der Ueberraschung und des Entzückens. Und ohne zu wissen, wie es geschah, hatte er sie in seine Arme gezogen, hing sie an seinem Halse, weinend und lachend, verschämt und zutraulich, voll Schrecken und voll Hingebung.

»Darum mußte ich immerfort an Dich denken!« rief Erich endlich, als sie Beide ihrer Aufregung Herr geworden waren. »Es ließ mir Nacht und Tag nicht Ruhe. Hast Du mich denn erkannt, als Du mich gestern ansprachst?«

»Nein!« sagte sie, »aber ich erkannte Sie wieder, sobald Sie zu mir sprachen!«

»Und Du sagtest es mir nicht?«

»Was mußten Sie von mir denken, hätte ich Sie in dem Augenblicke an unsere frühere Bekanntschaft erinnert! Sie konnten sie lange vergessen haben! – Es war ja auch möglich, daß ich mich irrte!« –

»Und Du hast mich nicht vergessen?« fragte er, des Gegentheils gewiß.

Sie antwortete ihm nicht, aber sie saß an seiner Seite auf dem kleinen Sopha, und das volle Sonnenlicht, das durch den Erker drang, war nicht so freudestrahlend, als ihr schönes Angesicht, das ihm in vollem Liebesglanz entgegenleuchtete.

Sie hatte ihn nur einen Augenblick gesehen, sie hatte seinen Namen nie erfahren, und doch war er der Traum ihrer Nächte, der Gedanke ihrer Tage, sein Geschenk ihr kostbarster Besitz gewesen, seit aus der Phantasie des Kindes seine märchenhafte Erscheinung in das Herz der Jungfrau übergegangen war. Es fiel ihr nicht auf, daß er gekommen war, daß er sie Du nannte, wie an jenem ersten Abende, daß er ihre Hände in den seinen hielt und wieder ihre Stirne küßte, wie er einst gethan. Unzählig oft hatte sie in ihren einsamen, arbeitsvollen Tagen sich die Wonnen eines solchen Wiederfindens ausgemalt, wie der Gläubige sich in hoffendem Vertrauen die Seligkeit des Paradieses vorstellt. Wie sollte es sie befremden, daß so vieler Liebe, so vielem Glauben, solch festem Hoffen endlich auch die ersehnte Erfüllung beschieden ward?

Sie erzählte von ihrer Ankunft in Berlin, von dem Leben an des Vaters Seite, von dem neuerdings erfolgten Tode desselben, von ihrem ersten Plane nach ihrer Vaterstadt zurückzukehren, den auszuführen die großen Kosten sie gehindert, »und,« so schloß sie, »wie danke ich es jetzt dem Himmel, daß ich nicht die Mittel besaß, die Stadt zu verlassen, in der ich Sie wiederfinden mußte!«

Allmählich erfuhr Erich von ihr, daß sie seit ihr Vater gestorben sei, sich von ihrer Händearbeit nähre, daß sie reichlich erwerben könne, was sie für ihren Unterhalt bedürfe, daß sie ohne alle Bekanntschaften sei, weil des Vaters trübsinniges und mißtrauisches Wesen jeden Umgang von sich abgewiesen und sie in klösterlicher Einsamkeit gehalten habe.

»Und nun lebst Du hier ganz allein?« fragte Erich, »ist Dir das nicht drückend?«

»Ich bin ja fast alltäglich aus, vom frühen Morgen bis zum Abende, und es ist auch eine Gnade von Gott,« sagte sie, »daß ich grade heute nur den halben Tag in Arbeit sein mußte.«

»Hast Du es gut in den Häusern, in die Du gehst?« forschte er, weil es ihn schmerzte, sie fremden Launen oder gar übler Behandlung ausgesetzt zu denken. »Möchtest Du nicht lieber hier in Deiner Behausung arbeiten?«

»Nein!« entgegnete sie, »der Mensch hat es doch nöthig mit anderen Menschen zu verkehren. Ich werde gut behandelt wohin ich komme. Die Damen sind meist freundlich, die Kinder hängen an mir und ich nehme meinen Theil an Allem, was dort vorgeht. Da habe ich was zu denken, bin ich dann allein zu Hause!«

»Und sonst hattest Du nichts Anderes!«

Sie lächelte. »Immer fort konnte ich doch an Sie nicht denken!« rief sie mit einem Ausdruck verschämter Schelmerei, der an dieser majestätischen Schönheit so reizend erschien, daß Erich nicht müde werden konnte, es ihr nachzusprechen und sich daran zu berauschen.

Es war spät geworden, die Lampe hatte schon mehrere Stunden gebrannt, ehe es ihm einfiel, daß er gehen müsse. Sie hatten Speise und Trank vergessen. Als er aufstand und von ihr schied, fragte er nicht, ob oder wann er wieder kommen dürfe? Er fühlte, daß er Herr in diesem Raume sei. Und schwindelnd vor Aufregung und Freude eilte er die engen, dunkeln Treppen hinunter auf die Straße, um sie fortan alltäglich wieder zu betreten.

Alle seine guten Vorsätze, seine Heirathsplane schwanden in ein Nichts dahin vor der Liebe, die ihm hier so unerwartet und in einer ihm völlig neuen Schönheit begegnet war. Als fände er in einer Wüste sich plötzlich von dem Schatten eines erotischen Blumenbaumes verhüllt und abgetrennt von der Welt um ihn her, so sanft glitten seine Stunden in der süßen Einsamkeit mit Regine vorüber, für die seine Leidenschaft bald keine Grenze mehr kannte. Ein Tag, an dem er sie nicht sah, war seinem Leben verloren. Er konnte es bald nicht mehr ertragen, sie in fremden Häusern arbeitend zu denken, und ohne Widerstreben allen seinen Wünschen fügsam, gab sie ihre bisherige Erwerbsthätigkeit auf, um ausschließlich für ihn zu leben.

Nur mit ihm allein beschäftigt, von dem Gedanken an ihn allein erfüllt, sah sie die spöttischen Blicke ihrer Nachbarn nicht, wenn alltäglich der schöne junge Mann sie besuchte. Sie hatte in sich Nichts zu überwinden, als er ihr vorschlug, eine Wohnung zu beziehen, die er für sich und die Geliebte einrichten lassen, sie fragte sich nicht, wohin er sie geführt? nicht, wie das enden solle? Sie sah ihn glücklich, sie war es selbst, und sie kannte das Leben, sie kannte die Menschen nicht. Woher sollten ihr Zweifel oder beunruhigende Vorstellungen kommen? So wenig man an den Tod denkt im Vollgefühl der Jugend, so wenig zweifelt man im Vollgefühl der Liebe.

Die gänzliche Abgeschiedenheit, in der sie erzogen war, ihre eigene reine und feste Natur hatten ihr eine Einfalt des Herzens und eine Unberührtheit der Seele erhalten, wie Erich sie an keinem Mädchen jener Stände wahrgenommen, in denen die Mütter es sich zur Aufgabe machen, alle das Gemüth störenden Einflüsse von ihren Töchtern zu entfernen. Mit einer kalten Theilnahmlosigkeit hatte sie in den Monaten, nach ihres Vaters Tode, sich in sich selbst zurückgezogen und gläubig dem Augenblick entgegengelebt, in dem nach ihrer festen Ueberzeugung der Geliebte ihr erscheinen mußte. Nun er gekommen war, legte sie ihre Zukunft mit gleicher Zuversicht ganz in seine Hände.

Und wie Regine in ihrer Liebe nur die Gegenwart empfand, so versenkte sich Erich bewußt und unbewußt in den Zauber derselben. Alle Vergnügungen der Residenz waren Regine fremd, alle Quellen der Bildung ihr verschlossen geblieben. Von ihm erhielt sie den oft ersehnten Unterricht in jenen Wissenschaften, den die Kinder der Reichen in der ersten Jugend empfangen. Mit ihm zuerst besuchte sie die Promenaden und öffentliche Lustbarkeiten. An seiner Seite betrat sie an einem Abende, als die Schröder-Devrient die Rolle des Romeo spielte, zum ersten Male das Theater.

Schon die ersten Töne der Ouvertüre erschütterten ihr ganzes Wesen. Bleich und zitternd faßte sie die Hand des Geliebten, als müßte sie einen Halt suchen, nicht unterzugehen in dem wogenden Meer der Töne, die sie umrauschten, und ihrer selber nicht länger Meister, hüllte sie ihr Gesicht in ihre Hände, die Thränen zu verbergen, die eine ungeahnte Macht ihren Augen entlockte. Als dann der Vorhang sich hob, als der Chor erschien, und endlich die Devrient als Romeo hervortrat, das schwarze Barett auf den prächtigen, blonden Locken, den blitzenden Degen in der Rechten, um mit der siegenden Allgewalt ihrer glorreichen Stimme den Racheschwur zu singen, da erst trockneten Regina's Augen. Was sie jetzt empfand war zu groß für Thränen. Athemlos hörte sie die Arie:

Vor Romeo's Rächer-Armen,

Soll kein Gott, kein Gott Euch schützen,

Und von seines Schwertes Blitzen

Treffe Euch der Todesstrahl.

Wie einer Offenbarung hingegeben, folgte sie dem Verlaufe der Oper bis zu ihrem Ende, wo Erich sie erinnern mußte, aufzustehen, so regungslos in sich versunken saß, sie da.

Sie hatten den Heimweg zurückgelegt, sie waren in ihrer Wohnung angelangt, und immer noch schwieg Regine, wie unter einem Banne, aus dem selbst Erich's Fragen sie nicht emporzureißen vermochten. Mit einer Art von Angst gewahrte er den Eindruck, welchen die Oper und die Meisterschaft der ersten Künstlerin ihrer Zeit auf die Geliebte gemacht hatten. Ihre Seele war nicht abgestumpft durch die schädliche Gewöhnung an Kunstgenüsse, in einem Alter, in welchem wir nicht fähig sind sie zu verstehen, und in dem, weit entfernt unser Empfinden und unser Urtheil zu üben, sie uns nur jene Gleichgültigkeit anerzieht, die uns später achtungslos und ohne Hingebung vor den Schöpfungen der Kunst vorübergehen läßt.

Endlich fuhr Regine wie aus einem Traume empor, strich mit den Händen über ihr Haar und sagte gegen Erich gewendet: »Das wird mir keine Ruhe lassen von heute ab!«

»Was?« fragte Erich verwundert.

»Die Sehnsucht, auch so dazustehen wie sie, und all die Liebe, all die Wonne, für die das arme Menschenherz zu eng ist, hinaus zu singen in die Welt, daß sie Alle mir helfen sie zu tragen!«

Dabei hatte sie begeistert die Hände emporgehoben, die Arme ausgebreitet, und stand in einer Stellung vor ihm, um deren natürliche Großartigkeit jede Künstlerin sie beneiden konnte. Erich staunte sie an und vermochte sich dennoch nicht daran zu freuen.

»Was ficht Dich an, Liebste!« fragte er, sie zu sich niederziehend, »Du, Du möchtest Schauspielerin werden?«

»Ja! ich möchte es!« rief sie mit derselben Begeisterung.

Erich schüttelte zweifelnd das Haupt. »Du möchtest Deine Tage damit hinbringen, Rollen einzuüben, mir Deine Zeit entziehen, um am Abende Dich den frechen, neugierigen Blicken all der Männer hinzugeben? Diese geliebte Stirne, dieser Nacken, diese Arme« – und er bedeckte sie mit seinen Küssen – »die mein eigen sind, die wolltest Du entweihen lassen durch ein fremdes Auge?« – Er ließ sie los, stand auf, wendete sich von ihr ab und sagte mit schmerzlicher Klage: »Du liebst mich nicht, Regine!«

Es bedurfte nur dieses Wortes, sie in seine Arme zu führen und ihr die Erklärung zu entlocken, daß sie nicht gewußt, nicht überdacht, was sie gesprochen, daß sie erschrecke vor dem bloßen Gedanken solcher Schaustellung und daß sie Nichts begehre, Nichts verlange, als ihm zu gefallen und sein zu sein.

Indeß trotz der Wahrheit dieser Versicherungen schwand der Gedanke an die Oper nicht aus ihrer Seele, und schon nach wenig Tagen bat sie den Geliebten, sie in der Musik und namentlich im Gesange unterrichten zu lassen. Erich's Stirne verdüsterte sich bei der Forderung, die zu erfüllen er verweigerte. So oft sie auch bald scherzend, bald ernsthaft, auf dieselbe zurückkam, immer wieder trat ihr seine Mißbilligung bestimmt entgegen, bis sie sich endlich genöthigt sah, auf die Gewährung dieses Wunsches, des ersten, den sie gegen Erich ausgesprochen hatte, zu verzichten, ohne ihn jedoch in sich unterdrücken zu können.

Eifersüchtiger, als er sich's eingestand, hatte Erich eine Abneigung gegen ihre Vorliebe für die Musik gefaßt. War es ihm früher ein Genuß gewesen, sie mit ihrer klangreichen Sopranstimme ihre kleinen deutschen und französischen Lieder zur Guitarre singen zu hören, so vermied er das jetzt geflissentlich, und suchte ihre Theilnahme mehr auf die Werke der Litteratur zu richten. Indeß trotz der Freude, welche sie daran empfand, blieb ihre alte Sehnsucht unvermindert, und ward nur lebhafter durch die Hindernisse, welche sich ihr entgegenstellten. Sie forderte nicht mehr die Oper zu besuchen, sie sang nicht mehr in Erich's Gegenwart, aber sie entschädigte sich in den Stunden, die er fern von ihr verleben mußte, für den ihr auferlegten Zwang, und mit dem glücklichsten musikalischen Gedächtnisse begabt, wußte sie sich die schwersten Melodien anzueignen, die sie Gelegenheit zu hören fand.

Wochen und Monate flogen an ihnen in immer gleicher Lust, in immer gleicher Liebe vorüber. Erich hatte sein Examen gemacht, ohne daran zu denken, daß er beabsichtigt habe, gleich nach demselben in die Heimath zurück zu kehren. In Berlin aber hätten die Familien, in denen er sonst gelebt, an seine Abreise glauben müssen, wären sie ihm nicht bisweilen an öffentlichen Orten mit einer Dame begegnet, deren Schönheit das Staunen der Männer erregte, welche ihm die reizende Geliebte beneideten.

So sehr er sich durch seine Liebe gleichgültig gegen die Gesellschaft glaubte, fand er doch ein großes Genügen daran, der Gegenstand ihrer Neugier zu sein. Durch seine Leidenschaft gezwungen, dem öffentlichen Urtheil Trotz zu bieten, machte er sich ein Bewußtsein daraus, daß er es that, und daß er Herr geworden war über seine Scheu vor der öffentlichen Meinung. Unfähig eine wahre innere Freiheit zu gewinnen, stellte er sich die Nothwendigkeit, der er erlegen war, so lange als eine That der Selbstbestimmung vor, bis er sie endlich dafür hielt, und gemartert von der eigenen Abhängigkeit, besaß er grade Energie genug, sich dieselbe weg zu läugnen.

Am auffallendsten mußte sein Fortbleiben im Hause der Frau von Werdeck bemerkt werden, das er sonst fast täglich besucht hatte. Da man ihn stets als den künftigen Gatten ihrer Tochter angesehen, beeiferte sich jene Theilnahme, welche Lust daran findet, unangenehme Nachrichten möglichst schnell zu überbringen, Frau von Werdeck über die Verhältnisse des jungen Mannes in Kenntniß zu setzen. Betroffen über ein Ereigniß, welches sie weder mit Erich's Achtung vor den Gesetzen äußerer Schicklichkeit, noch mit seiner unverhohlenen Bewerbung um Sidonie zu vereinen wußte, hatte sie lange beabsichtigt, einmal ruhig mit ihm darüber zu sprechen, als ein Zufall diesen Plan vereitelte.

An einem Abende, als Erich nach langem Ausbleiben wieder einmal am Theetisch seiner Freundin erschien, waren ein Paar junge Damen zum Besuche gekommen, welche mit großer Lebhaftigkeit die Reize eines Maskenballes im Opernhause schilderten, so daß Fräulein von Werdeck sich von der Lust ergriffen fühlte, die gleiche Herrlichkeit zu genießen, und sich deshalb mit der Frage an die Mutter wendete, ob sie sich nicht entschließen könne, sie einmal hinzuführen?

Frau von Werdeck sah lächelnd auf ihren Ueberrock von schwarzem Taffet und auf die weißen Bänder ihrer Haube herab, da sie seit dem Tode ihres Mannes sich aller farbigen Kleidung enthalten hatte, und fragte: »Hast Du Dir wohl vorgestellt, wie diese dunkle Tracht sich unter den Masken machen würde, oder meinst Du, daß ich sie in einem Domino verhüllen solle?«

Sidonie und die jungen Mädchen lachten, denn es hatte wirklich etwas Komisches, sich die ernste Frau in einer ihrem Wesen ganz entgegengesetzten Umgebung zu denken. Die Sehnsucht nach dem Feste war nun aber einmal angeregt, und schmeichelnd sagte die Tochter: »Ich verlange ja gar nicht liebe Mama, daß Du Dich hinbegiebst, laß mich nur mit der Tante gehen, die den nächsten Ball besucht!«

Ihre Freundinnen baten für sie, auch Erich redete der Mutter zu, ihr das Vergnügen zu gestatten, so daß Jene halb besiegt, nur noch den Einwand machte, Sidonie müsse, wenn sie es erlauben solle, einen männlichen Begleiter haben.

Unwillkührlich wendeten der Tochter Augen sich auf Heidenbruck, und sogleich machte er der Vorschlag, Frau von Werdeck möge ihn zum Kavalier derselben annehmen.

»Sie?« fragte die Mutter, in einem Tone, der Erich unangenehm befremdete, und sich dann schnell bemeisternd, meinte sie: »Wenn Sidonie zu dem Balle gehen sollte, will ich Sie darum ersuchen!« aber auch diese begütigenden Worte klangen scharf und kalt.

Er glaubte, daß sie eine Ablehnung enthielten, und mit jenem sonderbaren dämonischen Zuge, der in solchen Lagen oft grade die zurückhaltendsten Menschen treibt, eine unangenehme Berührung herauszufordern, fragte er, als Sidoniens Gäste sich entfernten, und sie selbst das Zimmer verließ ihnen das Geleit zu geben: »Warum wollen Sie mir Fräulein Sidonie nicht für den Abend anvertrauen, gnädige Frau?«

Sie sah ihn einen Augenblick an, schwieg, schien nicht mit sich einig zu werden, und sagte dann gegen ihre Gewohnheit von einer leidenschaftlichen Aufwallung fortgerissen: »Weil man eine Maske an Ihrem Arme – nicht für meine Tochter halten würde!«

Eine dunkle Röthe überzog Erich's Gesicht, seine Freundin aber erbleichte vor ihren eigenen Worten, und als habe das Aussprechen des lang verhaltenen Grolles ihr die alte Freiheit und die alte Zuneigung für ihn wiedergegeben, reichte sie ihm die Hand und fragte klagend: »Mußte es dahin kommen? Mußte ich Sie verlieren, lieber Freund?«

Er sah, daß ihre Augen sich mit Thränen füllten, sein Zorn entschwand vor dem Klagelaut der Stimme, die bisher nur Worte der Güte für ihn gehabt hatte. Sein Herz schwoll auf, und zum ersten Male empfand er, daß er auch hier ein Glück besessen und daß er es für Regina hingegeben habe.

»Verdammen Sie mich nicht ungehört!« sagte er.

»Ich Sie verdammen? Ich beklage Sie nur, denn Sie thun Sich Unrecht, Erich! in der öffentlichen Meinung und in dem eigenen Bewußtsein. Sie, grade Sie sind nicht geschaffen, Befriedigung in Zuständen zu finden, in denen – –«

Der Tochter Eintritt unterbrach sie, aber ihre Bewegung und des Freundes Befangenheit konnten derselben nicht verborgen bleiben. Unentschlossen, ob sie verweilen oder sich entfernen solle, stand sie da, die hohe schlanke Gestalt, die tief zur Taille herabfallenden röthlich blonden Locken vom Licht der Lampe beleuchtet, und die hell blauen scharfen Augen fragend auf die Mutter gerichtet, von der sie, trotz ihrer ein und zwanzig Jahre, in vollständiger Abhängigkeit gehalten ward.

Eine überlenkende Bemerkung der Frau von Werdeck brachte die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand, aber sie wollte in keinen rechten Fluß mehr kommen. Erich konnte das unberechtigte Gefühl nicht los werden, als ob nicht nur die Mutter, sondern auch Sidonie ihn mit dem Ausdruck des Mitleides betrachteten, als ob man ihn mit jener Vorsicht behandle, mit welcher man einen Verirrten auf den rechten Weg zu führen sucht. Seine Eitelkeit empörte sich dagegen eben so sehr, als sein Ehrgefühl von der Selbsterkenntniß litt, daß Frau von Werdeck ihm in den jetzigen Verhältnissen wirklich die Begleitung der Tochter nicht gestatten könne, die ihm plötzlich als eine wünschenswerthe Gunst erschien.

Verstimmt erhob er sich endlich um sich zu verabschieden. Der liebevolle Händedruck der Mutter, Sidoniens unbefangenes: »auf baldig Wiedersehen!« thaten ihm so wohl, daß es ihm in's Herz schnitt, sich einer solchen Ermuthigung bedürftig gemacht zu haben, und zum ersten Male kam er verdüstert, kalt und schweigsam zu der ihn erwartenden Geliebten zurück.


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