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28. Abschied vom Freunde

 

»Und einmal noch zwei junger Adler Flügen,
Folgt über Firn ich, über Zackenzügen.
Im Norden See, ein Wölkchen dämmerschwach.
Da winkt ich Dir und meiner Jugend nach.«

 

Warum nur, warum haben wir auf dieser freudenarmen Erde einander nicht die Treue gehalten? Warum mußte unser gipfelwärts führender Pfad an der entscheidenden Wende sich zerspalten in zwei getrennte Wege?

Es ist heute am Ende meines Weges nicht mehr möglich, die Notwendigkeit dieser Spaltung zu erweisen. Es ist um so weniger möglich, als viele hundert Briefe dem Freunde zurückgesandt wurden, sobald er den Wunsch äußerte, seinen Weg künftig ohne mich zu gehn. Aus den etwa fünfzig meist dürftigen Briefen, die sich später noch vorfanden, kann ich heute nur entnehmen, daß zwischen uns eine verkältende Enttäuschung Platz griff, welche bei mir gegen seine Person, bei ihm gegen meine Schriftstellerei sich entäußerte. Denn meine Briefe klagen leidenschaftlich über seinen Mangel an Einfühlung und Anteilnahme; die seinen aber, besonnen und sachlich, werfen meinen Schriften Unklarheit und Unsystematik vor oder tadeln ihre Eitelkeit und Unbeherrschtheit. Zuweilen auch entäußern seine Briefe schon gewisse Vorurteile wider jüdische Geistigkeit: ihre Frühreife, ihre Überkritik, ihren Mangel an Ehrfurcht. So geht denn sein Verhalten von hingegebener Bewunderung schließlich über zu freundschaftlicher Mahnung und Schonung. Und immer seltener brechen die alten mitschwingenden Gefühlstöne der Vergangenheit durch.

Im August 1894 faßt er nach langen Auseinandersetzungen sein allmähliches Kritischwerden in die folgenden Sätze:

»Die Beschreibung meines Entwicklungsverlaufes sollte Dir mein Verhalten Dir gegenüber begreiflicher machen. Sieh Dir meine Briefe an aus jener Zeit, wo sie hageldicht und dick wie Pakete bei Dir einzutreffen pflegten. Was enthalten sie? Mehr oder minder naive Auslegungen einer zu philosophischer Reflexion neigenden Produktionskraft: schweifende Traumgedanken, Weltsysteme, Sonnenkugeln. Mit diesen trieb ich eine Art geistigen Ballspiels. Heute würde ich deuten, daß das mit meiner seit früher Zeit ausgesprochenen Neigung zu allerlei Jongleurkunststückchen zusammenhing. Inzwischen habe ich mich darin geändert. Ich bin gegen Menschen leider mißtrauisch und gegen Theorien entsetzlich skeptisch geworden. Die psychologische Arbeit des Zergliederns, welche jetzt meine Gedanken beschäftigt, taugt nicht, um im Gewände eines phantastischen Stils schwarz auf weißen Bögen zu prangen. Und wenn ich mich dazu zwingen würde, Dir diese Gedankengänge zu übermitteln, so würdest Du nur Unlust daran haben. Solche Überlegungen mußt Du als Poet Dir vom Leibe halten. Sie müssen Kunsttrieb und Dichterlust totmachen.«

Von nun an schreitet er immer rascher fort zu Selbständigkeit und kritischer Gedankenschärfe, während ich weit gelöster, unbesonnener und naiver ihm mit einem Vers antworte: »Soll ich ins Unendliche schweben, muß ich mich selber vernichten. Irgendwo beschränk ich mich eben, versuche resolut zu leben; anders kann ich nicht dichten.«

Schon einige Monate später formuliert er den Unterschied unsrer beider Lebensführungen folgendermaßen:

»Noch bin ich mir lange nicht klar. Nur das fühle ich immer mehr, daß meine Art die Welt zu schauen und hinzunehmen, beträchtlich abweicht von derjenigen, welche man die künstlerische zu nennen pflegt. Und eines weiß ich sicher: Nicht durch Taten werde ich mich je äußern. Schwerlich auch durch poetische Werke. Die Gesamtheit der überschaubaren Dinge in das Medium des Wortes zu fassen und auf diese Weise wenn auch nicht tätlich, so doch durch die Begriffssymbolik der Menschenrede die Welt zu beherrschen, ist mein Innerstes und eigenstes Verlangen. Magst mich deshalb zu den Philosophen rechnen ... Aber Du? Du weißt was Du bist. Alles was Du tust und urteilst, ist ja nur Umweg, der Dich zu dem Punkte führen muß, wo Du sein darfst was Du bist.«

In der Folgezeit, während des gemeinsamen Jahres 95 fühlen wir uns zunächst wieder nahe bei einander. Auch ich beginne immer mehr, mich und andere zu psychologisieren. Endlich auch verstehe ich mich dazu, Nietzsche zu lesen, den ich bis dahin nur fürchtete und mir fernhielt.

»Endlich, endlich fängst Du an, Dich Nietzsche zu nähern, über den Du bisher, offen gesagt, meistens nur Unsinn geäußert hast. Du wirst ihn mit jedem Worte, das Du mehr von ihm liest, immer mehr schätzen lernen. Infolge vieler Berührungspunkte glaube ich diesen Mann gründlich erfaßt zu haben. Ich lese gegenwärtig seine Biographie. Alles wie ich's gedacht hatte! Man darf sich, um ihn kennen zu lernen, nicht mit seinem Werke begnügen. Mehr als von irgend jemand anderm gilt von ihm, daß er eine nie stockende Entwicklung durchlaufen hat. Er gewährt das beängstigende Schauspiel eines Menschen, der fortwährend sich selber zu zertrümmern und aus den Trümmern seines Selbst neu zu erbauen scheint. Es ist das zerstörend-schaffende Gedankenspiel einer großartigen Willens ohnmacht. Dasselbe Schmachten nach der Tat, das im Grunde Raskolnikow zum Morde treibt bebt und zuckt durch alle Werke dieses selbstmörderischen Dichters. Es ist ein fortwährendes Wogen und Brennen in einem feuerflüssigen Element. Dabei welche Pracht der Rhetorik, welche Ausdrucksfähigkeit für sublime Gefühlstöne, welche immer neuen Füllen in diesem unerhört beweglichen Geiste.«

Wir schreiten nun neben einander bis zum Jahre 1897. Das ist die Zeit, wo ich immer mehr dem breiten Weltleben zufalle und er immer starrer in seine Einsiedelei sich verschließt.

Während alle unsre Altersgenossen nun allmählich sich an die weite Welt verlieren, sammelt sich Ludwig Klages immer inniger in sich selbst. Indes ich scheinbar unerschöpfliche Kräfte verpulvere an die Literatur und an die Frauen, an die kurzatmigen Ziele des Tages und an die unfruchtbaren Ausschweifungen der Nacht, sammelt Klages, scheinbar ohne jeden Ehrgeiz und ohne den Wunsch mitzuwirken und mitgenannt zu werden, in Wahrheit aber besessen von einem langen Herrschaftswillen, alle Kräfte und Ideen seines Zeitalters in sich auf, bis er endlich das letzte entscheidende Wort spricht zu einer Zeit, wo wir andern längst verbraucht und vergessen sind. Und während er in unsrer Jugend lebte und webte in dem Glauben, daß dies Zeitalter einst mit meinem Namen benannt werden müßte, weiß ich heute im Alter gewiß: Ich war nur berufen, er aber ausgewählt. Mein Zustand war wie der einer Mutter, deren Liebe ein Kind hat heranwachsen sehn, welches reif geworden sich von ihr losreißt, ja als schlechteste aller Menschenkenner (denn das ist Klages) sie gar nicht sieht und vergißt, während sie, abgewiesen und vergessen, doch nie umhin kann, in jedem Aufflug des Kindes ihres eigenen langen Sorgeweges froh und traurig zu werden.

Jener Unterschied, der sich hinzog durch unser beider ganzes Leben, den ich als den Gegensatz des Eros der Ferne und des Eros der Nähe bezeichnete, er bewies sich von früh an in jeder unsrer Reaktionen.

Wenn ich verletzt oder angegriffen wurde, so reagierte ich immer spontan, schäumte auf, erwiderte den Schlag und die Sache war erledigt. Wenn aber Klages verletzt oder getroffen wurde, so zog er sich augenblicks tief in sich selbst zurück und wartete auf die Genugtuung; die nach Jahr und Tag denn auch erfolgte. Immer aber gab er mehr Licht als Wärme und ich mehr Wärme als Licht. Sein Element war das Feuer, meines die Wolke. Schließlich wurde sein Begriffspanzer immer dichter, und immer seltener brach noch ein Strahl durch der alten menschlichen Liebe.

»Ein paar törichte Zeilen. Du nahmst heute so tief beklommen Abschied und auch mir war recht wunderlich zu Mute. Ich bitte Dich vergiß nicht, was wir uns gegenseitig für Lebenszeit sind und bleiben. Halte Dich in allem Schweren, was Dich überwältigen will an das Bewußtsein unsrer Freundschaft. Mache Dir keine Sorgen um die Zukunft. Schließlich können wir zwei uns immer noch gemeinsam durch die Welt schlagen. Schreibe was immer auch Dich heftig bewegt Deinem dennoch Gemütsmenschen und getreuestem Freunde.«

Die kurze Spanne dann, während deren ich zu Geldmitteln gekommen, lustig im Strome der Welt treibe, mußte uns weit und immer weiter auseinander bringen.

Als ich (1897) ihn einlade, doch gelegentlich meine fast täglichen Theaterfreuden zu teilen, kommt folgender abweisender Brief:

»Meine Abneigung gegen die Bühnenkunst ist zwar groß. Jedoch wollte ich wenigstens einmal noch mich prüfen. So habe ich kürzlich Hauptmanns ›Einsame Menschen‹ gesehn. Ich glaube, dies ist das letzte Mal gewesen, daß ich in ein Theater gehe. Oper einstweilen noch ausgenommen. Das letzte, was ich zuvor sah, waren ›Die Königskinder‹ von Ernst Rosmer. Fast noch verstimmter verließ ich damals das Theater. Mir wird immer rätselhafter, wie es möglich ist, daß sich alle Menschen, ja man selbst früher, so gegen das Verzerrte und Übertriebene der schauspielerischen Pose verschließen können ... Man kann die Schaubühne leicht als eine Anstalt der Unmoral kennzeichnen; sie verleitet, sich an ein unwahres Ethos zu gewöhnen ... Auch Dein Lob Byrons teile ich nicht mehr; das ist ein Theaterheld.«

Endlich seien hier einige Stellen aus Briefen des Jahres 1898 angereiht, in denen er unsre Unterschiede und Gegensätze aufs klarste zusammenfaßt:

»Naturen von kochender Gemütskraft werden auf kältere, verstandesmäßigere, aber eindrucksfähige Menschen stets eine Art, ich möchte sagen dämonischen Zaubers ausüben. So ging es mir unter dem unmittelbaren Einfluß Deiner Person. Ehe ich die Zauberei der Unbewußtheit nicht begriffen hatte, stand ich ihr völlig rat- und widerstandslos gegenüber wie ein Prophet der vermeintlichen Inspiration seines Gottes. Und grade in dieser für mich verhängnisvollen Zeit spann sich das Gewebe unserer Freundschaftsbeziehungen. Ich gehe nicht zu weit, wenn ich sage, daß meine ersten ästhetischen Schätzungsweisen wesentlich unter der Voraussetzung der Vorbildlichkeit Deiner Poesie zustandekamen. Langsam, sehr langsam nur befreite ich mich später zu einer gewissen Selbständigkeit. Es kam eine Periode der Ausübung einer schüchternen Kritik an Deinen Hervorbringungen. Aber bis an die Wurzel reichte sie doch nicht. Erst seit der Zeit unsres persönlichen Zusammenlebens bin ich auf der Bahn der Trennung meines Urteils über Dein Können von der Liebe zu Deiner Person mit immer wachsender Geschwindigkeit fortgeschritten. Dabei ist nun die Schätzung Deiner sozusagen potentiellen Gemütsanlagen so ziemlich dieselbe geblieben wie zu den Zeiten höchster Bewunderung. Hinsichtlich Deiner Leistungsfähigkeit aber habe ich meine Meinung erheblich gewandelt. Wie das allmählich gekommen ist, das im Einzelnen zu schildern, würde mehrere Druckbögen lange Auseinandersetzungen erfordern ... Ermiß das Schwierige dieser gewaltsamen Trennung des Kunst produzierenden Menschen von der Person des Freundes, dessen große leidenschaftliche Glut im Wünschen und Zielen, dessen unlöschbaren Schönheitsdurst, dessen nicht zu verwandelbare Ursprünglichkeit in jeder Lebensregung ich bewundernd anerkenne. Wer die Lebenstrunkenheit nicht kennt, wird Dich nie kennen. Die Überwelt Deiner Ziele ist keine philosophische Meinung, die Du mit einer anderen vertauschen könntest. Sie ist nur der Faden, welcher den die Kerze umflatternden Schmetterling grade noch vor dem Verzehrt werden bewahrt ...

»Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet
Das Lebendige will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.«

»Das schrieb Goethe. Und das bist Du. Aber Du würdest das Gegenteil geschrieben haben.«

Es wäre gewiß nicht nötig gewesen, daß diese veränderte Schätzung, welche nur das fortschreitende Erkennen und Richtigstellen einer früheren phantastischen Überschätzung war, zur Gegnerschaft führen mußte. Es hätte nur auf meiner Seite einiger Selbstbescheidung bedurft, um das Recht seines zwar die Eitelkeit und den Ehrgeiz verletzenden, nicht aber mein Wesen antastenden Urteils zu erkennen. Aber ich war zu jung. Ich war noch nicht fromm vor dem Schicksal noch auf »Alles oder Nichts« gestellt, und vielleicht war grade das meine Stärke. Die rechte Einschätzung meiner Grenzen lag mir vielleicht fern, aber trotz aller Unbelehrbarkeit auf meiner Seite lag die Schuld unsres Bruchs (und es war eine Schuld) dennoch nur an einer Schwäche auf Seiten von Ludwig Klages.

Die dauernde Verklärung des »Lebens« gegenüber dem dreimal verfluchten Geiste, die beständige Vergöttlichung des Rausches, des Elementaren, des Gemütes, des Blutes, des Schicksals, des Unbewußten, der Natur sichert uns doch keineswegs vor der Gefahr, ein Doktrinär und Prediger zu werden und Werte und Normen dort zu suchen, wo alle Werte und Normen sinnlos werden, Gesetze aufzustellen, wo der Begriff des Gesetzes menschliche Anmaßung ist und in Wissenschaftssprache dort zu reden, wo man gar nicht oder nur als Bacchant reden darf. Wie man bei Kant und bei Hegel wohl oft Lust bekommt, bestimmte Worte zu verbieten, zum Beispiel das Wort Gottes, das Wort: das Absolute oder die Idee, so wird der kritische Kopf bei Klages wie bei Nietzsche geneigt, die Worte Leben, Blut und Bild mit Strafen zu belegen. Das waren nicht Offenbarungen einer Urnatur, das waren Wunschbilder und Sehnsuchtsschreie von Menschen, deren Bruch nicht ihr Geist war, auf den sie im Kerne vertrauten und stolz waren, sondern die Seele, das Lebenselement selber, das sich zu dünn und zu dürftig erwiesen hatte. Klages war zunächst schutzbedürftig und überempfindlich. Ich kann ruhig sagen: Er war zu jener Zeit der verkrochenste aller Höhlenbären. Und wenn er auch selber seine Wandlung von Nachhinein völlig anders formulieren sollte – (denn wir alle deuten unsre Wege ins Erhabene) – so stand doch durchaus nicht die überströmende Lebensfülle und ebenso wenig die überlegene Geisteskraft hinter seiner Abkehr, sondern just eine ebenso mißtrauische wie hochmütige Stiefkindschaft des Lebens. Er war noch nicht hinausgelangt über seine Wunden. Mit der Pathetik des Stolzes mußte er greifbare, nur mir bekannte Niederlagen überwachsen. Und so steckte in ihm viel von dem, was Nietzsche »die Rache am Zeugen« nennt. Sie traf nicht nur mich, den vertrautesten, sondern nicht minder jäh auch die entfernteren Freunde: Georg Meyer, Friedrich Huch, Hugo Eick, Karl Wolfskehl. Vollends seine spätere Rache gegen Stefan George griff zu ungerechten Waffen. Seine ehemalige Abhängigkeit, nein, seine Liebe rächte sich durch Unterwertung.

Ludwig Klages ist seit je geneigt gewesen, alles und jedes zurückzuführen auf »ressentiment« oder wie er gern sagte, auf »Lebensneid«; die Seufzer der Verlassenen, den Schrei der Märtyrer, ja zuletzt den Geist und seine Wertwelt selber. Aber schon diese Überschätzung des Lebens gegenüber seiner Sinngebung (denn das Leben ist kein Wert, sondern nur die Bedingung der Werte), macht es sehr schwer, zu durchschauen, daß Ludwig Klages zwar nie »lebensneidisch« wohl aber ein recht angstvoller Flüchtling im Leben gewesen ist. Hierfür lassen sich viele Selbstzeugnisse beibringen. »Du kannst dich in den Ozean stürzen, und wenn er dich nicht trägt, so vermagst du klaglos unterzugehn, Beneidenswerter« ... »Du wirst verbrennen, ich muß erfrieren. Was ist besser?« ... »Mein Verhängnis ist der selbstbefriedigende Schreibstubenrausch« ... »Dein Werk ist dein Leben, ich aber muß mein Leben für das Werk mißbrauchen« ... »Wer ich bin? Dionysos, der Philister« ... »Ja, auch ich könnte einen Mord begehn, um ein Erröten zurückzunehmen« ... »Du klagst: Wir stecken im Sumpf und schmachten nach den Sternen«, ich sage Dir: »Besser noch ein Leben im Sumpfe als Unzucht mit den Sternen«. – Nahezu durch alle Jugendbriefe des Freundes ging diese eine Klage, die er in einem Briefe aus dem Jahre 95 stark übertreibend folgendermaßen formuliert: »Ich bin ein petrifizierter Mensch. Liebe, Sympathie, Begeisterungsfähigkeit, einfache menschliche Wärme ist mir versagt. Eben darum gibt es für mich nur eine Sehnsucht: Rausch.«

Schon der Zwanzigjährige formuliert seine Philosophie nicht viel anders als sie heute der Sechzigjährige formulieren müßte:

»Meine Philosophie ist kurz und bündig: Der Zweck des Lebens sind die Momente, in denen wir über die Bewußtheit unsres Ich hinauswachsen und uns selbst abschütteln, nackt, bewußtlos, waffenlos überliefert dem Dithyrambus der Entzückung. Der Zweck des Daseins ist die Trunkenheit der Seele. Der Vernunfttod im Freudenstrudel. Hinsterben im Rausch des Schauens, im Rausch gewaltiger Taten oder im Rausch leidenschaftlichen Erkennens. Das ist Daseinsziel ...

O ich begreife dich, Faust, eine bacchantische Nacht, ein wild erschütterndes Erleben für fünf Jahre Wissenschaft. Aber mir hat der Chor der Dämonen den Fluch zugesungen:

»Blitz entzuckt der Wolken Haft
Donner jagt auf Flammenrossen,
Du mit aller Feuerkraft
Bleibe in dich selbst verschlossen.«

Ich darf ruhig sagen: Ludwig Klages hat immer als ein buddhistischer Mönch gelebt und als ein Heide und Epikureer philosophiert, während es bei mir umgekehrt war: Ich lebte weltzugewandt-heidnisch, aber philosophierte ethisch-buddhistisch. Wollte man aber aus der Lebensmetaphysik von Klages eine praktische Weisheit für Menschen gewinnen, so käme sie hinaus auf eine richtige Philisterei: »Bleibe im Studio. Schaffe dein Werk. Vermeide politische, soziale Kämpfe. Feiere zwischenhinein Dionysien im Kreise Gleichgestimmter. Aber erkälte dich nicht.« Immer stand hinter seiner Flammenrauschekstase die biedere Mahnung: »An dem Scheine mag der Blick sich weiden.«

Im letzten Jahre unserer Gemeinschaft las er mir Stellen vor aus zwei Aufsätzen, welche ohne Selbsttäuschung unsre beiden Naturen kontrastieren sollten. Der eine hieß »Ahasver, der Dichter« und war wesentlich und oft wörtlich zusammengesetzt aus meinen bitteren Beichten. Der andere »Peer Gynt, ein Philosoph« sollte erbarmungslos sein eigenes Selbst persiflieren.

Es lag in jenen Jahren ein Gedanke in der Luft, welcher später zumal in den Köpfen der Psychiater viel Unheil gestiftet hat, nämlich der Gedanke, sämtliche Ideologien der Menschen als Befriedigung von Bedürfnissen oder wie man später sagte als Kompensationen und Überkompensationen zu enthüllen. Auch für mein Denken war von entscheidender Wichtigkeit die Entdeckung, daß das Werk und die Seele jener geistigen Persönlichkeiten, die ich liebte und verehrte, nur schwer zur Deckung zu bringen war.

Aber im Jahre 1896 war mir eine solche radikale Zeitkritik noch nicht möglich. Ich träumte damals von einer Vollendung der Baconschen Theorie der Idole. »Alle Ideale der Welt und ihrer Weltgeschichte (so steht es in einem meiner Tagebücher) sind Rechtfertigung menschlicher Machtantriebe.« Das war der Grundsatz meiner Philosophie der Not. Alles und jedes wollte ich zurückführen auf Notstand und Notstandsbeseitigung, auf Stauung und Absorbtion. Den Satz der Kausalität definierte ich als »Entwirkung des Widerspruchs eines erlebten Notstandes«. So war es denn nicht verwunderlich, daß der Freund dies Notstandsgesetz (das ich immer im Munde führte), schließlich gegen mich selbst wandte. Er sah in mir einen »Idealisten aus dem Willen zum Gegen-Ich«. Er schildert mich in jenem Ahasveraufsatz als einen »Gedankenwüstling aus unermeßlicher Lebensgier, dessen formlose Unmittelbarkeit sich nicht einfangen läßt in die Zucht des Geistes«, – »Flackernde Brust und friedlose Flucht gilt ihm als verborgener Stachel aller. Alles übrige ist Schein«.

Neben dieses Bild des Ahasver stellte er das Bild des philosophierenden Peer Gynt, als sein eigenes, des »Mannes, der mit Wolken buhlt und vor der Nähe versagt, des Mannes ohne Selbst, des Schwärmers ohne Wärme, des Wollenden ohne Wille«.

Die Wahrheit aber war diese: Klages hatte eine große Scheu vor den Strudeln, in die ich gestürzt war. Er konnte diese ruhelosen Gefühlsstürme nicht mitmachen, nicht mittragen. Heftige Lebenskämpfe waren ihm zuwider. Darum begann er mich mit bösen Augen zu sehn, und er sah mich um so böser, als er das Verhältnis zu Maria halb beneidete, halb mißbilligte, halb verwarf, weil er sah, daß ich ins Verderben taumelte, halb verwarf, weil er sich selber verkürzt oder unterschätzt glaubte. Denn Maria, die mich just um jener inneren Gefahren willen liebte, welche Klages zu scheuen begann, war (und das war merkwürdig und verhängnisvoll) von erster Stunde an gegen den Freund eingenommen und ließ es nicht an harten und erhabenen Urteilen fehlen. In ihren Briefen heißt es: »Klages ist nur ein Deserteur. Statt vom Rausche zu reden, sollte er Mathematik studieren.« ... »Er kann gar nicht mitreden in einer Lage wie der unsern.« ... »Ich werde deinem Freunde Achtung vor dir beibringen. Wie darfst du klagen: ›Freunde ließen mich liegen‹, ich finde, Klages gegenüber bist du immer der Sichselbstverschenkende gewesen, und wenn er dies nicht dankt, so muß es dein Stolz sein, daß du so viel verschenken konntest.«

Niemals ist es mir aus der Tiefe verständlich geworden, warum die beiden Pole meines Lebens, der Freund und die Frau, Ludwig Klages und Maria, einander abstoßen und ausschließen mußten. Als ich dem Freunde zum ersten Male das Bild der Geliebten zeigte (wir wanderten im Walde von Planegg), da sagte er ergriffen: »Gewaltig«, aber dann auf eine über den Föhren dahinsegelnde Wolke deutend fragte er: »Wenn du auf der Wolke dahinfährst, möchtest du auch dann diese Frau mitnehmen?« Da fühlte ich: Was uns beide verbunden hatte, das konnte Maria nie teilen. Sie war ja nur »mein geliebter Imperativ, meines Stolzes schwere Schwinge«, und alle die auswertenden, das Sein-Sollende suchenden Arbeiten der Folgezeit, zumal »Wertaxiomatik« und »Ethik Kants« waren meine Ringkämpfe um diese Frau. Diese wertende Welt aber ging Klages gar nichts an; der philosophierte fortan aus weiter Ferne.

Als Maria die erste Bekanntschaft mit dem Freunde machte, schrieb sie folgendermaßen: »Ihr Freund sieht zart und traurig aus. Seien Sie gut und geduldig mit ihm und lassen Sie ihn nicht empfinden, daß er unsern Aufschwüngen nicht zu folgen vermag und für ein starkes Leben nicht taugt.«

Schon beim ersten persönlichen Begegnen zeigte sich Klages überempfindlich und Maria unangebracht erhaben. Sie fühlten weit aneinander vorbei. Im selben Zeitpunkt wo Maria nach München kam, um für immer bei mir zu bleiben, erhielt ich von Klages den endgültigen Abschiedsbrief: »Wir beide wissen seit lange von der Entfremdung unsrer Seelen. Es hätte keinen Sinn, darüber zu sprechen, denn die Tatsache wird von uns beiden aus gesehn, verschieden zu formulieren sein. Ich wünsche, daß von jetzt ab unsre Wege sich trennen.«

Diesen grausigen Riß konnte ich nicht begreifen. Ich versuchte noch eine Aussprache. Von dieser letzten Begegnung kann ich nur sagen: sie verlief unfaßlich – albern.

Ich kam in des Freundes Wohnung und traf ihn in Gesellschaft Friedrich Huchs. Er setzte eine hoheitsvolle Miene auf und begann, wohl in der Absicht, mich sogleich zum Gehen zu bewegen, von oben herab, mich mit »Sie« anzusprechen. Huch, welcher Spannung und Bruch herausfühlte, ging sofort. Als wir allein waren, bat ich, daß wir nicht Unwürdiges tun möchten. Notwendigkeit der Trennung, die ich einsähe, sei doch kein Grund zu Feindschaft. Da aber brach aus Klages unbeherrscht heraus: »Du bist ein ekelhafter, zudringlicher Jude.« Angesichts dieses Ausbruchs ward ich fassungslos, dann stammelte ich etwa: »Möchtest du das nicht aufschreiben, was du da sagst.« Worauf er antwortete (es war das letzte Wort, das ich von ihm hörte): »Ich liebe keine Prozesse.«

Dieses letzte Aneinandervorbei zeigte grotesk die Unüberbrückbarkeit der Entzweiung. Ich hatte sagen wollen: »Was du im Groll daherredest, wirst du selber unmöglich finden, wenn du in Ruhe sinnst.« Er aber vermochte anzunehmen, der andere wünsche »Material zu einer Beleidigungsklage«. Ich ging. Wir haben uns nie wiedergesehn. Vor dem Hause wartete Maria.

Jahre später sprach ich kurz vor dessen jähem Tode mit Friedrich Huch über die verblichene Freundschaft. Wir gingen im Abendrot um den See von Kleinhesselohe auf unsern alten Wegen. »Klages ist unverantwortlich«, sagte Huch. »Er sieht uns nicht. Er folgt seinem Schicksal oder glaubt ihm zu folgen.«

Ich mußte es billigen, aber ich kannte auch den Freund genug, um zu wissen, daß seine völlig unbesiegbare Sprach- und Begriffsgewalt auch die sinnloseste oder ungerechteste Regung von Nachhinein schicksalmäßig vertiefen, ja vergolden werde. Nie würde sein Stolz zu sagen vermögen: »mea culpa«. Er hatte Unrecht getan. Denn unsere Freundschaft war in andern Tiefen verwurzelt, als daß Ungleichheit der Leistung oder Verschiedenheit der Meinungen, als daß überhaupt Menschliches uns zu trennen vermochte. Folglich mußte er von jetzt an alles suchen, sichten und aufspeichern, was mich herabmindern, somit aber sein Verhalten rechtfertigen würde. Ich selber hatte ihm die Waffen geschmiedet, die er nun gegen mich zücken konnte. In dieser Lage konnte ich nur auf seine Vornehmheit bauen. Ich schickte ihm alle die hunderte von Briefen zurück, die in meinen Händen zu wissen, ihm unangenehm sein konnte und verzichtete auf die Rückgabe der meinigen. Er aber zeigte von nun ab das Bestreben, alle Spuren unsrer alten Gemeinschaft zu vergessen, ja zu verlöschen. Und wenn ich um jene Zeit verstorben wäre, so wäre ich auch für alles Gedenken endgültig ausgelöscht gewesen.

Zu Hildesheim auf dem Markte steht der Hukupp. Das ist die schwere Figur des ernsten Mannes, der auf seinem Rücken einen schlauen zappelnden Zwerg tragen muß, den er so wenig abzuschütteln vermöchte, wie man je seinen Schatten loswerden kann. Für die Lebensstimmung, die in Klages zurückblieb (soweit überhaupt mein Bild in ihm dauerte), bin ich der Zwerg gewesen, der sich an ihn klammerte; für die Menschen, die mich gekannt und geliebt haben, war er umgekehrt der Christophorus, der den kleinen Jesus nicht tragen will, sondern von sich abschüttelt, womit er doch nichts anderes abwarf, als sein mahnendes Gewissen. Beide Bilder sind falsch. Und so will ich zum Schluß versuchen, noch einmal dieses schwer faßliche Verhältnis zu belichten.

Ich habe das ganze Leben hindurch mit meinen Toten, mit Ludwig Klages und mit Maria weiter gelebt. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht in hundert Dialogen mich mit ihnen auseinandergesetzt hätte.

Falls man im Germanentume durchaus sehn will eine träumerische Hingegebenheit an die Bilderreigen des Lebens, dagegen im Judentume den übermächtigen Schöpferakt der Tat, dann war unser Gegensatz wirklich der des Germanen und Juden. Denn für ihn war die Vorwelt seiner Ahnen das verlorene Paradies, welches der böse Geisteswille der juden-christlichen Kultur zerbrochen hat. Mir aber war die gleiche Vorgeschichte nur eine lange Hölle, aus welcher ich kraft des Geistes die leidenden Menschen gern erretten wollte. So sah er denn im Geiste eine fremde Schuld; ich aber nur die eigene Not.

Indessen so stark auch Ludwig Klages den Macht- und Geltungswillen der Menschen als das Urböse gehaßt hat, so war er doch selber mehr als ich und in unnaiverer Weise, besessen vom selbstgerechten Doktrinarismus des geistigen Stolzes.

Um der größte aller philosophischen Dichter zu werden, dazu fehlte ihm und seiner ungeheuren Denkgewalt nichts als das frohe Grandseigneurtum der verschwendenden, auch die reichsten Füllen verschenkenden Seele. Jener ehrgeizlosen Seele, die gar nicht recht behalten will und die keine Angst davor hat, sich preiszugeben oder sich etwas zu vergeben. Immer auf Würde bedacht, wandelt er auf Kothurnen, redete, liebenswürdig distanziert, im Plural der Majestät und bangte, daß ihm kein Stein aus seinen Kronen falle, kein Kleinod aus seinen Schatzhäusern entwendet werde. Denn er wollte nicht das »einmal und nie wieder«, dieses durchaus zufällige kurze Wachsein im Sonnenglanz. Nein! Er wollte der Sprachmund sein des Lebens selber, der Sammelort der ewigen Flut. Und wenn er auch die pathetische Geltungsmacht des Menschen verachtete und atmete im ungeschichtlichen Mythos, das was er bei den Müttern gewann, das sollte ihm Waffe werden gegen die Forderungen des Heute, gegen die Menschen, deren Not doch nun einmal unsre Not und die Not unsrer Erdentage gewesen ist. Und so wurde, was im Blute begann, zuletzt ein Dogma.

Kein zweiter Zeitgenosse hat gleich Ludwig Klages die vom Geiste ausgehende Ekstase gekannt. Aber es war der Rausch aus geistigen Mitteln, der leibferne Rausch. Und der war so ausdrücklich, daß er aus unsrer kindlichen Jugend, deren jede Regung und jeden Tag ich miterfuhr und aufs Innerste erinnere, ein Kosmikum gemacht hat, mit dem er gleichsam auftrumpfte. Indem er die Natur meisterte, sagte er: »Ich bin ihr Instrument.«

Folgerichtig zu Ende gedacht, mußte die Richtung, die er nahm, zum Selbstmorde des Menschlichen führen. Und keinesfalls konnte ein Mensch meiner Art vor ihr bestehn. Eben darum mußte ich mich lebenslang mit ihr auseinandersetzen. Ob mir das gelang, weiß ich nicht.

Eines aber glaube ich zu wissen: kein Baum wächst höher in das Licht, als seine Wurzel in die Erdnacht langt. Ob nun der Geist, wie er glaubt, der Parasit ist, der sich auf das Lebendige aufgepfropft hat, es leer trinkt oder ob er (wie für mich) der Wipfel des Baumes ist, den die Wurzel ernährt, keinesfalls wird jemals mehr Ethos in die Welt kommen, als auch Liebe darin ist und keinesfalls mehr Erkenntnis, als das unbewußte Element eben zu tragen vermag.

Die Inhalte seiner Seele, oder wie er sagte »die Bilder«, waren für Ludwig Klages wirklicher als die Gegenstände gültigen Denkens. So verwarf er die Wirklichkeit, an der man sich stößt. Jedem Stein des Anstoßes ging er aus dem Wege, und sein unleidlichster Stein war: Ich. Und ich weiß auch recht wohl, daß mein Werk an zu greifbarer Lebensnähe erkrankte und gescheitert ist. Weiß, daß das seine dauern wird, just dank seiner bildhaften, ungreifbaren Ferne. Denn ich wollte Träume verwirklichen im Stein der Menschheit, er aber hätte selbst die Mathematik der Steine wieder aufgelöst ins Bild.

Obwohl Ludwig Klages nur halb ein Betrachter der Gestalt war, halb aber ein analysierender Chemiker der Seele, welcher psychologisierend die Welt, die meine Aufgabe war, überwand, so haßte er doch nichts so sehr, wie die spiegelnde Selbstbeschau. Er wollte immer nur als Gefäß gelten. Und wenn er gestaltete, so entdeckte sich das Leben selber. Ich aber besaß für diesen kurzen Wandertag nichts, als das Persönlichkeitswertgefühl, diese Grundtatsache aller Ethik. Dieses »einmal und nie wieder«. Solche ungleiche Beziehung zu Nähe und Ferne deutete auf unsre Polarität tief wie Tag und Nacht.

Es hing damit zusammen, daß ich mehr auf die Sinngebung meines Lebens, als auf mein Leben selber geachtet habe. Denn ich weiß wohl, daß alles Erzählen auch schon Deuten ist. Aber in ihm reifte neu eine metaphysische Weltschau, für welche all mein Fragen nach Schuld und Sühne, Gesetz und Wert, Richte und Reue, aller Kampf um Klasse und Staat keinerlei Bedeutung mehr besaß. Weil aber Ludwig Klages, ein schlechter Menschenkenner, auf das Gegenwärtig-Nahe zu wenig Acht hatte und seine Nächsten nicht sah, wie er mich nicht sah, weil er vielmehr alles und jedes in die verklärende Ferne entrückte, in die Ferne, welche verschönt und entwirklicht, indes doch in das Fernste in hautsinnlich greifbare Nähe zwingen wollte und somit beständig vernüchtert und entglänzt habe –, darum blieb Klages in den wechselnden Gelegenheiten des Lebens fester in sich selbst geschlossen. Er hatte Neigung und Gabe der Dichter, das Empirische zu mythifizieren. An vielen Stellen seiner Schriften (soweit überhaupt je Biographisches sich hindurchwagt) findet sich die Andeutung, daß die Geschichte seiner, unsrer Jugend, mythisch-kosmischer Natur gewesen sei. Er schreibt ein Buch über Nietzsche und schickt dem voraus, daß er nie eine Biographie Nietzsches gelesen habe (die oben zitierte Briefstelle beweist das Gegenteil); er analysiert Schopenhauers Handschrift und verwahrt sich dabei gegen die Zumutung, daß er dessen Lebensgeschichte kenne. Aber unter meinen Büchern besitze ich Biographien Goethes und Schopenhauers mit Anmerkungen von seiner Hand. Die Wahrheit ist, daß er immer die Nähe vergaß, daß er immer das Empirische überflog. Ich aber hatte den ehernen Willen zur Subjektivität und zugleich den Zweifel: Sind wir ehrlich? Kann man wahrhaft sein?

Er sparte, wo ich vergeudete. Er sammelte als ich vertat. Denn ich war nur ein Augenblicksmensch. Er aber blieb im Innersten unbewegt, wo ein Wort, ein Blick, ein Händedruck mich ablenken und zu Ausdrucksreaktion aufreizen konnte.

So hatten wir verschiedene Art Stärke. Er hart aber weiblich. Ich männlich war weich. Er wob Filigran und ich bekämpfte Teufel. Darum liegt auch Gerechtigkeit darin, daß ich mehr Gegenwart und mehr warme Nähe besessen habe, ihm nun aber alle Ferne gehört. Denn er wird durch die Zeiten dauern, indes ich vergessen sein werde. Er war die größte Erscheinung, die Deutschland besessen hat. Ich war ein nicht aufgenommener, nicht dazugehörender Fremdling, ein Schüler, der nicht mitsingen durfte.

Ludwig Klages war ein großer Genius der Rezeptivität, der glückliche Einbegleicher der Zeiten. Er rüttelte an den Schranken eines starren Ich. Er litt Gefahr zur Standsäule seiner selbst zu vergletschern. Meine Gefahr aber war, mich haltlos zu zerlösen. Daher seine Sucht nach zerschmelzendem Schicksal. Daher meine Hoffnung auf festigende Tat. Seine Philosophie ist Schicksal, meine ist Tat gewesen.

Darum sammelten sich um ihn die Flugbereiten, aber mir hing der Notschrei der Kreatur in den Ohren, und immer kamen kalte Hände und verflogene Vögel.

Als wir Knaben von zwölf und dreizehn Jahren waren, da forderte an einem Festtage im Tiergarten die Tante Ida uns auf, unter eine Eiche zu treten und an deren Stamme zu messen, wer schneller gewachsen sei. »Der jüngere ist um einen halben Kopf größer«, stellte sie fest, und ich erinnere, wie ein jähes Weh mich durchzuckte und zugleich eine jähe Scham, daß ich etwa neidisch zu fühlen vermöchte für den Bruder, den ich mehr geliebt habe als mich selbst und in dessen Werk ich mich auch heute geborgen fühle.

Unbegreifliches geschah. Tausend vergiftete, tausend abschätzige Worte kamen zu mir, aber nie der gute Blick der Erinnerung. Wahrheit suchten wir beide. Nie hätte mich Wahrheit verletzt. Aber unbegreiflich blieb, daß alsbald nach der Trennung unsrer Wege unter Schmähung auf den »Juden« auch jene Ahasver-Verzeichnung unter einem Pseudonym von ihm veröffentlicht wurde; nicht aber das Peer-Gynt-Gegenstück. Und dies war und blieb das einzige, was er je über mich zu sagen hatte.

Ich habe mir manches Mal den Scherz gemacht, meine »Charakteristik« (zu der er ein Menschenalter später beim Wiederabdruck hinzufügte: »Es ist ein Beispiel, das freilich keineswegs nur die Handschrift, sondern daneben auch Daten verwertet, die der persönlichen Bekanntschaft zu danken waren«) solchen Menschen vorzulesen, die mich kennen mußten oder zu kennen glaubten. Nie hat irgendwer in diesem Zerrbilde mich erkannt. Ein klarer Beweis dafür, daß in jedes Portrait auch der Wille des Meisters eingeht und daß selbst der größte Geist das Lebendige verzeichnet, wo ihm die Liebe fehlt. Aber auch ich dürfte in diesen Erinnerungen die Wahrheit nur grade so weit gefunden haben, als noch unerloschene Liebe sie suchen ging.

Ist Unredliches, Sentimentales, Verbittertes in diesen Erinnerungsblättern? Nun so muß auch dies bedacht werden: Mein Leben lang habe ich hören müssen (und aus welchen Mündern!), ich sei destruktiv, negativ, zersetzend, sei undeutsch, volksfremd, fremdblütig, nicht zugehörig, sei nicht Element und Leben, Landschaft und Blut, sondern nur der Träger jener gegenlebigen Mächte des mordenden Geistes. Tausend Male dröhnte das »Jude, Jude« als Schimpf um meine Ohren und bedrohten, ja schlugen hassende Fäuste. In meinem Innersten aber weiß ich: Die Sendung des Menschen als Menschen steht und fällt mit der Forderung Sinnlosem einen Sinn zu schaffen, Chaos umzubaun in Kosmos und gleich Faust, dem erblindet Sehendgewordenen das irrationale weder jemals der Zahl, noch je der Erzählung zugängliche Element abzudämmen und zu wandeln in Rosengärten für Menschen. »Destruktiv, negativ, zersetzend« das ist die wertferne, intellekt-verdammende Romantik des Lebensrausches in ganz anderm und tieferem Sinn, als je der kritische Geist es zu werden vermöchte.

Unter hundert Menschen sind kaum zwei fähig, philosophisch klar und streng zu denken. Und diese beiden verwenden nun ihr Denken zu dem Nachweis, daß das Menschengeschlecht zweifellos besser daran wäre, wenn es nie aus dem Element herausgetreten, nie zu wertendem und wollendem Wachsein erwacht wäre. Ist es somit ein Wunder, daß dies Geschlecht zugrunde geht nicht am Zu-Viel des Geistes und des Denkens, sondern daran, daß das Denken von sich selber nie die richtige Verwendung macht? Stern und Stein, Welle und Wind zu sein, das ist mir in alle Ewigkeit vertraut und unbenommen. Für dieses Mal – dieses eine Mal und nie wieder – war meine Fähigkeit und darum auch meine Pflicht: Mensch und nichts als Mensch zu sein.

Ich weiß, daß es fremdartig, ja vielleicht unbegreiflich ist, daß ein guter Kämpfer, der ich gewesen bin, just die beiden Seelen in sein Leben einlassen konnte, welche ihn verworfen haben und stumm an ihm vorbeigingen. Ich weiß, daß es fremdartig und unbegreiflich ist, daß es gegenüber diesen beiden, Frau und Freund nie ein Kompromiß, nie ein Wiedersehn oder Wiederfinden geben durfte, sondern auch hier: »Einmal und nie wieder.« Indessen nur diesem zeitlosen Beieinander inmitten zeitlicher Entfremdung, nur dieser Treue inmitten ewig flutenden Elements danke ich, daß ich jung blieb und keine Flecken der Verbitterung, keine Verstarrung erfuhr. Dabei kommt nichts an auf uns empirische, historische Menschen. Nichts auf all unser bedrucktes Papier. Nichts auf die kurze Spanne unsrer aktuellen Wirklichkeit. Wir alle sind nur Schatten eines Traums.


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