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3. Mein Vater

Er wurde am 16. April 1838 geboren, als letzter eines Kinderdutzend, von denen sechs am Leben blieben. Sein Vater war zur Zeit der Geburt fünfzig Jahre alt und hatte ein Bankgeschäft in der Altstadt. Als der kleine Sigmund in die Schule kam, waren die älteren Geschwister schon aus der Schule entlassen. Die Mutter und die drei erwachsenen Schwestern verhätschelten den immer fröhlichen Knaben. Er war, wie die Mutter, blond, hell und blauäugig, hatte feine zarte Haut und schmale geschickte Hände; er war nicht groß, aber stämmig und von strammer Haltung.

Auf dem Lyzeum der Stadt, heute Ratsgymnasium genannt, hat der Junge seine Ausbildung empfangen durch damals weit gerühmte Lehrer, wie den ersten Entzifferern babylonischer Keilschriften, Hermann Grotefend und die Gräzisten Ludolf Ahrens und Rafael Kühner. Er war bei Lehrern und Mitschülern beliebt und trug den Scherznamen: »Außenminister«. Als er dreizehn Jahre alt, in den jüdischen Männerbund aufgenommen wurde, da wählte der Landesrabbiner Meyer für ihn den folgenden Konfirmationsspruch: »Augen hast Du, welche sehen; Ohren hast Du, welche hören, Hände hast Du, welche greifen. Der Herr hat Dir Alles gegeben.«

Sein nächster Freund auf der Schule und später auf der Universität war der Sohn des hannoverschen Polizeipräsidenten Fritz Grahn. Dieser wurde später Lehrer an derselben Schule, die sie gemeinsam besuchten und die auch ich von 1878-92 besucht habe. Grahn, der Peiniger meiner Jugend, hat an ihr etwa fünfzig Jahre lang gewirkt und ist 1927 neunzig Jahre alt, gestorben. Beide Jünglinge waren eigenwillige Ichmenschen. Wichtigtuer und Bedrücker. Grahn herzenskälter, mein Vater warmblütiger. Gemeinsam bezogen sie 1856 die Universität Göttingen, der eine um Altphilologie, der andere um Medizin zu studieren.

Im Jahre 1859 feierte die Studentenschaft den hundertjährigen Geburtstag Friedrich Schillers. Sie veranstaltete eine Aufführung von Schillers »Wallenstein«. Mein Vater spielte den Wallenstein, seine Freunde Grahn, Höpfner und Dörries mimten die Generale. Im Museum der Stadt Göttingen hat sich ein Theaterzettel dieser Aufführung erhalten; auch findet sie sich erwähnt in den Theatererinnerungen des Schauspielers Carl Sontag. Sie brachte meinen Vater vor einen Scheideweg. Man wurde auf seine starke theatralische Begabung aufmerksam. Das Hoftheater in Kassel machte ihm ein Vertragsangebot. Daß er es ausschlug und vorzog, Mediziner zu bleiben, wurde ihm von seinen Lehrern hoch angerechnet. Ihr Wohlwollen, zumal das der Professoren Hasse und Baum, machte es möglich, daß der erst dreiundzwanzigjährige das Staatsexamen bestand. Seine Doktordissertation trägt den Titel »Beiträge zur Histologie der Hühnerknochen«. Er redet in dieser Abhandlung, als habe er von früh auf am Mikroskope gesessen und gedenke weiterhin daran zu sitzen. Aber er hat nach Abfassung dieser Dissertation zwar noch viele Hühner gegessen, sicherlich aber niemals wieder ihre Gewebe durchs Mikroskop betrachtet. Er hatte fröhliche Semester verlebt in Würzburg, Berlin, Prag und Wien, beendete 1862 in Göttingen seine Studien und ließ sich in Hannover als Arzt nieder, Burgstraße 3, gegenüber dem Leineschloß.

Schon in den ersten Monaten seiner Tätigkeit hatte er das Glück, durch eine gelungene Kur Aufsehen zu erregen. Sie erfolgte an einem Fabrikanten namens Küster, welcher durch ein Jahrzehnt bettlägerig gewesen war und über seine Heilung ein Buch herausgab. Man wurde aufmerksam auf den jungen Arzt. Bei einer Erkrankung des Kronprinzen wurde er ins Schloß geholt. Er hat später mit Spott erzählt, wie er sich fortan eine feudale Praxis zu gründen wußte. Sein Diener Schorse Borchers und dessen Frau Gesine, (sie besorgten seinen Haushalt) – wurden abends in die Stadt geschickt in alle Lokale, wo Gesellschaften und Feste gegeben wurden. Sie mußten herumfragen, ob der Doktor Lessing unter den Anwesenden sei. Ein Fürst oder mindestens ein Baron benötige eilige Hilfe. Er erreichte, daß man in der kleinen Residenz sich an den Namen gewöhnte und ihn mit einigem Nimbus umgab. Als er in Aufnahme gekommen war, mietete er eine Etage an der Bahnhofstraße im Mittelpunkt der Stadt und verlebte eine gute Zeit, bis ein schweres Familienunglück hereinbrach im selben Jahre, wo das Königreich Hannover zu bestehen aufhörte.

Während des Krieges 1866 war das Bankgeschäft des alten Lessing in Zahlungsschwierigkeiten geraten, und der Alte war gezwungen, eine Kollekte Lotterielose bei seinem Onkel, dem Hofbankier Ezechiel Simon zu lombardieren. Während der Zeit dieses Lombards war eines der Lose mit einem Gewinn herausgekommen, und da gerade dieses Los nicht verkauft worden war, so entstand, als das Bankhaus Simon aufgelöst wurde und der Inhaber mit dem entthronten König nach Wien übersiedelte, ein wunderlicher Rechtsstreit. Er war vergleichbar dem folgenden Falle: Ein Bauer, der nicht zahlen kann, stellte seine Kuh beim Nachbar unter und läßt sie sich von ihm beleihen. Während der Pfandzeit aber wirft die Kuh ein Kalb, und als der Bauer die Kuh zurückholt, da gibt der Nachbar zwar das Muttertier heraus, beansprucht aber das Kalb für sich selber.

Dieser Rechtshandel dauerte mehrere Jahre, verzwistete die verwandten Familien und richtete den alten Lessing zugrunde. Schließlich hing der Entscheid an der Feststellung gewisser Daten. Zu welchem Zeitpunkt war das Los übernommen, zu welchem war es gezogen, zu welchem zurückgefordert worden? Da die Daten nicht anders festzustellen waren, so schob das Gericht dem Beklagten den Eid zu, den er auch leistete, worauf er den Prozeß gewann. Nachträglich aber konnte der Gegner nachweisen, daß die beschworenen Zeitangaben nicht stimmen konnten und klagte, da der Alte hartnäckig blieb, auf Meineid. Der Sohn Adolf, welcher die Geschäftsbücher führte, wollte den Vater retten und nahm nachträgliche Radierungen und Umschreibungen an den Geschäftsbüchern vor, die aber durch Bücherrevisoren entdeckt wurden. Und so verurteilte das Gericht Vater und Sohn. Der Vater hatte das gewonnene Geld zurückzugeben sowie die Prozeßkosten zu tragen und bekam vier Jahre Zuchthaus, der Sohn zwei Jahre Gefängnis. Die Mutter war während des Rechtsstreites zwischen ihrem Mann und ihrem Oheim gestorben. Das Anwesen an der Bäckerstraße wurde versteigert, das Bankhaus aufgelöst. Es war begreiflich, daß sich Vater und Bruder an den jüngsten Sohn klammerten, der bis dahin ein leichtes Leben gehabt hatte. Sie forderten nun, daß er zum Entgelt für die Sonderrechte, die er stets beansprucht hatte, seine Familie wieder flott machen müsse. Von da ab hingen Bleigewichte an meines Vaters leichtgewichtetem Leben.

Hier unterbreche ich die Aufzeichnungen von meines Vaters Leben und berichte zunächst, was ich von den Schicksalen seiner Angehörigen weiß.

Die Verhältnisse waren nach dem Tode der Mutter verfahren. Fünf Geschwister (außer meinem Vater) waren vorhanden. Zwei Söhne und drei Töchter.

Der begabteste von allen war der älteste: Samson, der ein dichterisches Talent hatte, das er zuchtlos vertat. Schon auf der Schulbank hatte sich die Begabung dieses Samsons gezeigt, zugleich aber auch sein Hang zu Landstreichertum und zum Trunke. Er war sein Lebtag nie zu einer regelmäßigen Tätigkeit zu bringen. Nachdem er als Kaufmann verkracht war, wurde er Journalist und gründete mit seinem Freunde Hermann Harrys, Sohn eines Literaten, der in Heinrich Heines Schriften öfter erwähnt wird, allerlei kurzlebige Tages-Unternehmen. In der Stadtbücherei von Hannover fand ich noch Spuren dieses verschütteten Menschen, insbesondere eine Serie Flugschriften, genannt »Hannoversche Spiegelbilder«, die er anonym erscheinen ließ. Mir ist daraus ein Heft erinnerlich, das den Titel trug »Räuber im Frack«. In der Schrift wurden angesehene Leute unter durchsichtigen Decknamen maßlos verunglimpft. Die Schreibart des Mannes war nicht ohne Witz, aber Zuchtlosigkeit machte ihn unmöglich. Trotzdem blieb er in Hannover, so lange sein liebster Freund dort wirkte, der Tenorist Albert Niemann, der einzige, der dem verbummelten Samson eine gute Erinnerung bewahrte. Ihm verdanke ich viele Auskünfte über den Untergegangenen. Sie haben manches Trinkgelage und manches Kraftstück aufgeführt. Davon zu erzählen, wäre zwar unterhaltend, aber ich widerstehe der Versuchung, weil ich nur das Wesentliche dem Vergessen entreißen will. Von dem Ende dieses Samson weiß ich nur, daß er in der Irrenanstalt Rasemühle bei Göttingen gestorben ist.

Der zweite Bruder Adolf, ein schüchterner bedrückter Mensch, kam, nachdem er seine Strafe in Celle abgebüßt hatte, gebrochen aus dem Gefängnis. Er führte ein unterirdisches Leben, ernährte sich mit kleinen Vermittlungsgeschäften und wurde etwa sechzig Jahre alt. Nach seiner Gefängniszeit litt er an einer merkwürdigen Monomanie, die mit seiner Straftat zusammenhing. Er führte Buch über Alles und Jedes. In seinem Nachlasse fanden sich mächtige Konto-Folianten, in denen er Buch geführt hatte über seine Kragenknöpfe, Hemdenknöpfe, Stecknadeln, Nähnadeln, Löschblätter. In meiner Erinnerung lebt der Unheimliche dunkel fort als ein grämliches Männlein, dessen schwere Zunge unverständliche Worte lallt.

Die drei am Leben gebliebenen Schwestern hießen Jeanette, Elise und Fanni. Jeanette, die älteste Schwester war eine schöne aber hysterische Person. Ihre in jungen Jahren geschlossene Ehe mit einem Bankier Sternheim wurde unglücklich, als das in Hannover angesehene Bankhaus Sternheim verfiel. Sie bewohnten an der Hildesheimerstraße ein Haus im Garten gegenüber der Stelle, wo heute das Schauspielhaus steht. Der große Garten mit vielen Obstbäumen erstreckte sich weit in die Akazien- und Lehzenstraße. Dieses Grundstück geriet unter den Hammer, mein Vater ersteigerte es. Ich habe in dem Hause meine Jugend verlebt vom achten bis zum neunzehnten Jahr.

Tante Jeanette hatte gleich ihren Geschwistern manche krankhafte Belastung. Sobald auch nur entfernt ein Gewitter am Himmel drohte, begann sie zu wimmern und vergrub sich in dunkler Kammer unter Kissen und Decken. Ihre zwei Söhne, besonders aber ihre unverheiratet gebliebene Tochter, steckten ebenfalls voller Verschrobenheit. Bertha, die Tochter, in jungen Jahren ein liebreizendes Mädchen, lebt in meiner Erinnerung als eine unglückliche, an Platzangst und tausend Einbildungen leidende alte Jungfer. Ein Sohn dieser Jeanette heiratete eine Tänzerin des hannoverschen Balletts. Aus dieser Ehe (also als ein Enkel der wunderlichen Tante Jeanette), ging der als Dramatiker im Stile Molières bekannte Dichter Carl Sternheim hervor. Ein anderer Sohn Jeanettes, der in Berlin Theaterdirektor war, starb in der Irrenanstalt Ilten bei Hannover. Als ich bei seiner Beerdigung mit seinem Bruder, also dem Vater des Dichters Carl Sternheim zusammentraf, wollte ich dem Vetter etwas Freundliches sagen und sprach, vom Friedhof ihn heimwärts begleitend, von den großen Gaben und schönen Erfolgen seines Sohnes, aber dieser behäbige Börsianer winkte ab und erwiderte: »Ich kann mit meinem Sohn Carl nicht übereinstimmen. Seine Kunst lehne ich ab. Ich fordere von der echten Kunst, daß sie beglückt und erbaut. Ich bin ein Idealist.« – Mir ist die Spottdichtung Carl Sternheims nie so nahe und so liebenswert erschienen wie in dem Augenblicke, wo ich dieses Kunsturteil aus dem Munde seines Vaters hörte.

Die zweite Schwester Elise heiratete den Bruder von Jeanettes Mann. Aber dieser Gatte starb jung und hinterließ die Witwe in dürftigen Verhältnissen mit zwei Söhnen und zwei Töchtern, die sie behutsam heranzog. Als der Vater aus dem Zuchthaus entlassen war, wurde er bei dieser Tochter untergebracht. Sie zogen nach Osterode am Harz. Der Alte verließ das Zuchthaus zwar ungebrochen, aber das Herz erfüllt von Rachegedanken gegen seine Verwandten Simon, die er für die Urheber allen Unglücks hielt. Da er aber mittellos und machtlos war, so verfiel er aufs Toben und Trinken. Er wurde neunundachtzig Jahre alt, ein polternder unglücklicher Greis. Auch die Kinder Elisens habe ich gekannt als ringende Menschen von bunten Schicksalen, aber davon zu erzählen würde zu weit führen. Dagegen möchte ich einige Charakterzüge festhalten von der jüngsten Schwester Fanni.

Sie heiratete jung einen Bankier Jakob Gans, der das Bankhaus des bereits geschilderten, kauzigen alten Meyer Blumenthal übernahm, des »Mannes nach der Uhr«. Gans hieß in Hannover der »Pascha à quatre épingles«. Er war ein sehr gepflegter, auf gute Form haltender und auf Komfort bedachter Herr, der sich zu Hause bedienen ließ von seiner rührend anspruchslosen unverheirateten Schwester Elise und von seiner Gattin, deren Horizont rechts begrenzt war von ihrer Speisekammer und links von ihrer Waschküche. Nie wieder habe ich eine Frau gesehen von solcher Hausfrauenwütigkeit wie meine Tante Fanni. Wer zu ihr kam, der wurde im Hause herumgeführt vom Keller bis zum Boden, vom Boden bis zum Keller, damit er den guten Zustand des Haushaltes begutachten möge. Außer zu einem kurzen Spaziergang in den Abendstunden verließ Tante Fanni nie ihr häusliches Kloster. War sie auf Reisen, so übertrug sie ihre Reinlichkeits-Fimmel auf die Hotelzimmer. Sie führte im Koffer immer mit sich: Staubbesen, Wischtücher, Putzpulver, Bürsten, Lappen und all dergleichen. Ihre zierliche Gestalt schoß von einem Zimmer in das andere wie ein Eichhörnchen, das in der Trommel lärmt. Immer trug sie blütenweiße, mit Brüsseler Spitzen besetzte Morgenjäckchen. Immer thronte auf ihrem Haupt eine hohe kunstvolle Frisur, deren Pyramide ihre Friseuse, Madame Sehring, an jedem Morgen neu wieder aufbauen mußte. Immer bostelte, rieb und räumte sie in den peinlich gepflegten Wohnräumen, derweil ihre Kinder, drei Töchter und ein Sohn, aufwuchsen unter der Obhut der Tante Elise, beständig gewaschen und geschrubbt.

Wir Kinder erschienen bei unsrer Tante Fanni immer möglichst verschmutzt mit schwarzen Fingern voller Tintenklexe. Sie genoß dann zuerst die große Freude, sich entrüsten zu können über die Untüchtigkeit anderer Mütter. Auf der Folie dieser Untüchtigkeit andrer erglänzte dann doppelt ihre Untadeligkeit. Sie stellte uns in die Badewanne, bearbeitete unsre Finger mit Bimsstein und unsre Köpfe mit Öl, wofür wir zuletzt ein kleines Geschenk zu heischen uns anmaßten. Der Onkel Jakob lebte indessen das Leben eines kleinen Landesfürsten und thronte in seinem schönen Bankhaus auf einem erhöhten Sitz; wir nannten ihn »den kurulischen Sessel«. Nur zu den Mahlzeiten ließ er sich vor seinem Harem sehen.

Es würde mich nicht wundern zu hören, daß Tante Fanni gar nicht ein menschliches Wesen, sondern eine Gliederpuppe mit Uhrwerk gewesen sei, denn ihre Reden und all ihre Sorgen waren zeitlebens immer dieselben. Jede Tagesstunde war durch die Gewöhnung eines halben Jahrhunderts im voraus geregelt. Daher wurde ihr Leben tragisch, als nach dem Tode ihres Mannes alle Kinder außerhalb Hannovers verheiratet waren und sie im Alter von siebzig Jahren aus ihren Gewöhnungen verpflanzt werden sollte. Er war der Arterienverkalkung erlegen, wohl der Folge allzu behaglichen Lebens, man hatte ihn im großen Eßzimmer aufgebahrt und erwartete von dem Landrabbiner Gronemann eine schöne Nachrede; dieser begann seine Predigt mit den Worten: »Man bringt die Verstorbenen gern noch einmal an die Stätte ihres Wirkens«.

Tante Fanni mußte aus ihrem Hause an der Georgstraße; die Bank wurde von der Berliner Firma Bleichröder übernommen. Der Sohn Alfred lebte in Paris als Inhaber des großen Bankhauses Weißweiler. Die Tochter Anna in Mexiko, die Tochter Emilie in London, die jüngste, Clärchen, als Gattin eines Justizrates in Berlin. Zu dieser sollte sie ziehen, denn in Hannover war niemand mehr, der die quecksilberige kleine Greisin betreuen konnte.

Sie hat noch zwanzig Jahre in Berlin im bayrischen Viertel geputzt, geschrubbt, gedielt und poliert, aber obwohl Kinder und Enkel ihr es an nichts fehlen ließen und obwohl sie auch dort unter ihren gewohnten Möbeln blieb, die sie länger als ein halbes Jahrhundert täglich gewischt und abgestaubt hatte und obwohl sie fast niemals ihre Zimmer verließ, so nagte und sog doch an ihr das bitterste Heimweh. Gute Stunden hatte sie nur, wenn jemand aus Hannover kam, mit dem sie von alten Zeiten sprechen konnte. Dann begann ihr gewohntes Jammern: »Nimm mich mit nach Hannover. Komme ich jemals zurück nach Hannover? Ach, wäre ich doch wieder in Hannover.« – Sie hielt auch in Berlin, wie sie es ein halbes Jahrhundert getan hatte, das »Hannoversche Tageblatt«, die einzige Nahrung ihres Geistes. Sie las darin nie etwas anderes als Geschäftsinserate und Familienanzeigen. Nachdem sie mit der Brille langsam entziffert hatte, wer in der Heimat gestorben war oder sich verheiratet hatte, faltete sie die Zeitung sauber in vier Quadrate und legte sie auf die kleine Etagère unter den Briefbeschwerer. (Das war »die Glaskugel mit richtigem Schneegestöber«.) Und da lagen sie sauber aufgeschichtet und wurden täglich nummernweis nachgezählt bis »der Jahrgang komplett war«. War aber »der Jahrgang komplett«, dann wanderten die Zeitungen »in die Holzbutze zum Feueranmachen«, und ein neuer Jahrgang wurde in Arbeit genommen.

Die Regelmäßigkeit erstreckte sich auf alle Verrichtungen. Obwohl in Berlin Nahrungsmittel sicher billiger waren als in Hannover und leichter zu kaufen, so ließ doch die alte Dame, die von der Unterstützung ihres Pariser Sohnes lebte, ihren gesamten Lebensbedarf aus Hannover kommen. Allsonntäglich kam »als Eilpaket« der Braten »von Schlächter Kortnum in der Röselerstraße«, und zwar »das Rippenkammstück, das man in Berlin nicht bekommt, sondern nur in Hannover«.

Während des großen Krieges 1914 bis 1918, als alle Nahrungsmittel rationiert wurden und nichts Rechtes mehr zu erhalten war, da wurde der Hannover-Fimmel der alten Frau zur Qual für ihre Kinder. Sie hatte von den Vorgängen in der Welt keine Vorstellung. Sie achtete nur darauf, ob Kaufmann Dollberg in der Pakhofstraße, bei dem sie seit sechzig oder siebzig Jahren eingekauft hatte, auch pünktlich die Pakete schickte mit Gries und Sago, Butter und Reis, Öl und Tee – (Pardon! den Tee bezog sie von Seegers auf der Theaterstraße!). Sie weigerte sich, etwas zu essen, was nicht von ihren gewohnten Lieferanten geschickt wurde. Die Kinder mußten ein Täuschungssystem ersinnen, um sie in dem Glauben zu lassen, daß alles was sie genösse, von Hannover aus geliefert werde. Das war sinnlos und lächerlich. Es kostete weit mehr, als wenn sie ihre paar kleinen Bedürfnisse nebenan in der Bambergerstraße besorgt hätte. Aber in Hannover, so wähnte sie, sei alles »ganz anders«. Sie roch jedem Stück Seife an, ob es auch wirklich sei »die richtige Mandelkernseife von Eden auf der Marktstraße«, womit sie seit fünfzig Jahren täglich scheuerte und putzte. Die Automatismen wurden immer schlimmer. Zuletzt waren alle Lebensäußerungen vollkommen mechanisch, so daß man jede ihrer Lebensregungen im Voraus wußte. Wie sie am Morgen aufstand und wie sie am Abend sich niederlegte, alles geschah zwangsläufig und wurde von immer gleichen Redewendungen begleitet. Übrigens war diese Tante die einzige von den Geschwistern, in welcher auch die jüdische Überlieferung dunkel fortglomm, in Form von hebräischen Redewendungen aus der Kindheit, zumal von Scheltworten, mit denen sie jede Rede beständig durchsetzte. Sie lebte in ewigem Kriege mit ihren Dienstboten, die sie nach Urmutterweise erzog und bevormundete. Sie konnte sich nie in die neue Zeit finden. Sie verpflegte ihre Mädchen gut, aber daß Dienstmädchen »Arbeitnehmer« seien und nicht brave Haustiere, sie konnte es nicht begreifen. Sie betrachtete als Beweis für das Hinschwinden aller Zucht und Ordnung, daß ihr in Berlin ein Hausmädchen den Dienst kündigte, weil es sich nicht gefallen lassen wollte, daß die Hausfrau sich überzeugte, ob das Mädchen sich regelmäßig die Ohrmuscheln wusch. Wenn sie auf ihre Mädchen schalt, und sie schalt beständig, dann gebrauchte sie hebräische Worte wie Chaser (Schweinchen), Umschein (Ungeschick), Mnubbel (Dummerjan), Chammer (Dummkopf), Gojemnaches (Vergnügen für Dumme), Toches (Popo). Ihr unaufhörlich gebrauchtes Lieblingswort aber war »Affenschwanz«. Ich war ein Mann von nahezu fünfzig Jahren, als sie mich ins Gebet nahm, ob ich auch täglich die Füße mir wasche und als sie mir Regeln gab, wie ich Frau und Kinder zu Reinlichkeit erziehen müsse. Sie hat ihr geliebtes Hannover erst wiedergefunden, als wir die Neunzigjährige an die Seite von Pascha Gans begruben. Sollte es fröhliche Urständ im Himmelreich geben, was ich nicht hoffe, dann sitzt dort sicher mein Onkel Jakob, feine Zigarren rauchend und Schmorbraten schmausend, kein anderes Stück als »das richtige Rippenkammstück, welches man nur bekommt bei Schlachter Kortnum in der Röselerstraße« und Tante Fanni, schrubbend und mit festem Bimsstein den Engelein die Finger reinigend, wie sie uns geschrubbt und gewaschen hat, als wir Kinder waren ... Schwager und Schwester Gans waren die einzigen aus seiner Familie, mit denen mein Vater verbunden lebte. Als sein Elternhaus zusammenbrach, redeten die beiden dem Bruder zu, er möge in eine reiche Familie einheiraten. Dann wollten sie gemeinsam dem Vater und dem unseligen Adolf eine Rente aussetzen und den hoffnungslosen Samson in eine Anstalt schicken. Es gab keinen anderen Ausweg.

Die Versuche des Schwagers, ihm eine reiche Braut zuzuführen, scheiterten an den übertriebenen Ansprüchen meines Vaters. Da brachte das Schicksal eine Entscheidung.

Der Krieg brach aus. Mein Vater war nicht Soldat gewesen. Im Königreich Hannover konnte man sich vom Heeresdienste loskaufen. Jetzt wurde er zum ärztlichen Dienst in ein Militärlazarett nach Düsseldorf beordert. Der Schwager glaubte, dort eine geeignete Frau zu wissen in der Tochter eines Geschäftsfreundes, der eines der besten Bankhäuser in Düsseldorf leitete, früh Witwer geworden war und vier ledige Töchter besaß. Die älteste war zwanzig Jahre alt. Im Hause einer befreundeten Familie wurde die Bekanntschaft vermittelt. Zu einem Teenachmittag erschien der Bankier Ahrweiler mit seinen Töchtern, parvenühaften verwöhnten Mädchen, welche eine nach den Begriffen der Zeit feine Bildung genossen und in ihren jungen Seelen hunderterlei Verlangen trugen nach Freiheit und Schönheit.

Für die jähe Natur meines Vaters ist nun Folgendes bezeichnend. Wenige Stunden nach der ersten Begegnung macht er dem erstaunten Bankier einen Besuch, bittet um eine geheime Unterredung und setzt dem ihm fremden Manne mit großem Freimut seine Lage und seine Absichten auseinander. Er, der Doktor Lessing, dreiunddreißig Jahre alt, habe eine schöne Praxis, aber sei durch den Zusammenbruch der Familie schwer betroffen; so müsse er daran denken zu heiraten; die Familie Ahrweiler gefalle ihm, und er möchte sich um eine Tochter des Hauses bemühen, falls der Hausherr ihn nicht unwürdig befände. Dieser, der jähe Handlungen sehr widrig fand, erklärte, daß er sich alles überlegen wolle und dann den andern wissen lassen werde, ob seine Einführung im Hause Ahrweiler erwünscht sei. Er zog nun Erkundigungen ein und bekam über den jungen Arzt die günstigsten Auskünfte. Er ließ also meinen Vater wissen, daß seinen Bemühungen um eine der Töchter nichts im Wege stünde, falls es ihm gelingen sollte, das Herz eines der Mädchen zu gewinnen.

Inzwischen aber war der Unberechenbare an dem ganzen Vorhaben schwankend geworden. Vor allem: Er wußte nicht, um welches der drei Mädchen – (die jüngste in der Entwicklung Zurückgebliebene kam nicht in Betracht) er sich wohl bemühen solle. Die zweite war die klügste und tüchtigste. Die dritte die frischeste und hübscheste. Die älteste, Adele, war weder tüchtig noch hübsch, aber sie bekam doppelte Mitgift, denn der Vater hatte Aussteuer, Mitgift und Erbe seiner Töchter genau nach deren Reizen und Tugenden abgemessen, der Art, daß die benachteiligte jüngste viermal so viel Geld zu erwarten hatte wie eine der drei andern und die träge, nicht hübsche Adele doppelt so viel in die Ehe haben sollte, wie ihre tüchtige Schwester und wie ihre hübsche Schwester. So wählte denn der Bewerber die älteste, ohne doch die beiden andern, die sich in ihn vergafft hatten und ihn anschwärmten, aus seinem Banne zu entlassen. Und nun geschahen Dinge, schwer zu begreifen.

Einmal als Bewerber zugelassen, bewarb sich der Leichtsinnige um das ganze Haus. Er brachte den Mädchen Blumen, Geschenke, Süßigkeiten, führte sie auf Bälle, übte mit ihnen Theaterstücke, deklamierte, sang, tanzte, ritt und brachte auch den schöngeistig gestimmten, durch gesellschaftliche Eitelkeiten sehr bestimmbaren Vater so vollständig unter seinen Einfluß, daß er bald sich als Sohn im Hause fühlen und dessen Geschicke bestimmen durfte. In dieser Zeit überlegte er ernstlich, ob er nicht seine Tätigkeit in Hannover aufgeben und statt dessen das alteingeführte Bankhaus übernehmen solle. Denn der Vater hätte sich gern ganz seinen schöngeistigen Neigungen gewidmet, und der einzige Sohn Otto, ein sechzehnjähriger Schlingel, mit hübschem Zeichnertalent, wollte durchaus Maler werden.

Wenn schon all dies schwer verständlich ist, so ist vollends unbegreiflich, daß dem Bewerber nicht die Türe gewiesen wurde, als eines Tages, nachdem die Verlobung mit der ältesten, Adele, längst bekanntgegeben war, er und die zweite Tochter, die achtzehnjährige Toni, vor den Vater traten und ihm erklärten, daß sie einander liebten, nicht von einander lassen möchten und darum bäten, daß die Verlobung mit der Adele rückgängig gemacht werde. Der Vater Ahrweiler war über diesen Vorgang zwar schwer entsetzt, aber, wie ihm jähe Handlungen immer widerstrebten und er in jeder Lebenslage sogleich zu zweiächseln gewohnt war, so versuchte er nun, den beiden jungen Leuten ihre Liebe auszureden und führte als Hauptgrund ins Feld (wovon er auch wirklich überzeugt sein konnte), daß die ältere Schwester zerbrechen, ja vielleicht sich das Leben nehmen werde, wenn sie diese Enttäuschung erlitte. Zudem sei die Verlobung öffentlich bekanntgegeben und schon viele Bekannte zur Hochzeit geladen worden, eine Austauschung der Bräute müsse den unangenehmsten gesellschaftlichen Klatsch herbeiführen. Seiner Überredungskunst gelang es denn auch, die beiden zum Verzicht aufeinander zu bestimmen. Er erhielt von ihnen das Versprechen, daß die Braut von diesen hinter ihrem Rücken spielenden Vorgängen nie erfahren werde.

Am 9. Mai 1871 wurde die Hochzeit gefeiert. Mehr als hundert Gäste waren in den »Breidenbacher Hof« nach Düsseldorf geladen. Der alte Ahrweiler hatte ein Fest- und Weihespiel gedichtet, das am Polterabend aufgeführt wurde. Die Geschwister traten in liebenswürdigen Verkleidungen an das Brautpaar heran und brachten mit Versen die Geschenke. Aber ein für alle Beteiligte unheimlicher Augenblick trat ein, als inmitten der Hochzeitsfreude, auf einen Wink des Brautvaters, die Musik Beethovens Trauermarsch zu spielen begann und der Alte aufstand und mit tränenerstickter Stimme ein Totenlied sprach auf seine Frau, die lang verstorbene Mutter, in deren Namen er Sohn und Tochter für die Ehe segnete. Der erste und letzte Vers des langen Poems lauteten so:

»Es ruft mir Eures Glückes Seligkeit
Mit Wehmut heut zurück die schöne Zeit
Da einst auch Wir so glücklich waren,
Da sie den frischen Myrtenkranz im Haar
Mir hochbeseligt folgte zum Altar
Heut sind es vier und zwanzig Jahren.

Du scheidest jetzt mein Kind, in fremder Welt
Die Liebe Dir den eigenen Herd bestellt,
Dem Gatten reines Glück zu schenken.
Und ist sie Dir mein Sohn auch ewig fremd geblieben
In ihrem Kinde lernst Du einst sie kindlich lieben –
Gesegnet sei ihr Angedenken.«

Nach dem Vortrag des Gedichtes fiel über alle beklommenes Schweigen. Mein Vater versuchte durch Späße und Tischreden die düstere Stimmung zu scheuchen. Der Großvater hat mir später gestanden: Als das junge Ehepaar die Gesellschaft verlassen hatte, um im Hotel zu übernachten und am nächsten Tage die übliche Hochzeitsreise nach Italien anzutreten, da sei ihm die Ahnung gekommen, daß diese Ehe unselig verlaufen müsse.

In dieser Nacht trat mein Karma ins Leben ... Mein Vater, von einem plötzlichen Willen zu voller Ehrlichkeit ergriffen, bereute schon wieder den ganzen Handel. In der selben Nacht, wo das unerfahrene Geschöpf sich willenlos und für immer fortgab, legte er vor ihr die Beichte ab, daß er eigentlich ihre Schwester begehrt, nun aber verzichtet habe und den Vorsatz hege, treu zu ihr zu stehn, wobei sie ihm helfen solle. Sie war so froh, den Mann zu besitzen, daß sie sich getraute, den Kampf gegen Gespenster aufzunehmen. So bauten sie ihr Haus unter schlimmen Sternen.

Es war die Zeit der sogenannten Gründerjahre, in welcher meine Eltern den Hausstand begannen, in einem im gotischen Stil gebauten Backsteinhaus, Ecke der Georg- und Andreasstraße, welches Haus noch heute dasteht, inmitten der Großstadt, umlärmt von zahllosen Geräuschen, von Autos und elektrischen Bahnen, überflutet von Lichtreklamen, ein Geschäfts- und Zweckhaus im Stil frömmerer Zeiten, und wahrlich, wie Hohn auf die Krippe von Bethlehem, darüber die Sterne leuchteten und Engel sangen. Es hing ein kleiner eiserner Balkon am zweiten Stockwerk, wo sie wohnten. Da rankte etwas Efeu, blühten ein paar Kapern. Sonst gab es nichts Schönes. Nicht Blumen, nicht Himmel. –

Ich habe beim Niederschreiben meiner Werdegeschichte vor nichts mehr Scheu, als vor Ausschmücken, vor »Literatur«. Und doch ist es unmöglich, von bestimmten Geschehnissen zu reden, ohne in den Strudel der Gefühle zu geraten. Ich will es versuchen, nackt und nüchtern den Fortgang der Geschehnisse aufzuzeichnen.

Ein erhaltengebliebenes Tagebuch der jungen Frau, begonnen Weihnacht 1870 und endend am 20. Mai 1871, zehn Tage nach der Hochzeit, wo sich das Paar in Meran befand, gibt einigen Einblick in ihre Gefühlswelt. Sie schwärmt bescheiden, spricht von ihrem Glück und von ihrer Liebe, zwischendurch von Kleidern, Gesellschaften, Büchern, und bekommt auf der Hochzeitsreise Heimweh, da sie viel von ihrem Mann getadelt und gescholten wird. Sie ist ein harmloses, Kämpfen nicht gewachsenes Mädchen, aus allzu sattem Bürgerhause. Schritt um Schritt werden ihm Sehnsüchte und Träume abgewöhnt. Es steht hilflos da und rettet sich in verspielte Leere.

Das Vermögen, welches das Mädchen in die Ehe brachte, zweihunderttausend Mark, wurde, nachdem die Familie des Mannes saniert, der Vater in ein Altmännerstift, der ältere Bruder in eine Irrenanstalt eingekauft und der jüngere durch eine kleine Rente gesichert waren, von dem Mann sofort zu Börsenspielen verwendet. Das Börsenfieber jener Schwindeljahre läßt sich wohl vergleichen mit der Inflationszeit Deutschlands um 1920. Zunächst gingen die Börsenspiele gut. Aber schon vor meiner Geburt begannen die Verluste. Zur Geburtszeit meiner Schwester, 1873, war das erheiratete Geld zerronnen.

Zunächst wurde ein großes Haus geführt. Die Geldleute und Fabrikherrn, die Lebeleute, vor allem Schauspieler, Sänger und Tänzer (mein Vater war Theaterarzt), waren häufige Gäste. An einige von ihnen, Carl Sontag, Max Stägemann, Mathilde Weckerlin und Franziska Ellmenreich, als die nächsten Freunde und Freundinnen, knüpfen sich meine frühesten Erinnerungen.

Wie aber hatte sich inzwischen das Verhältnis zu der andern Schwester gestaltet, die zugunsten der älteren auf ihre Herzensneigung verzichtet hatte? Die beiden jüngeren Mädchen schwärmten weiter für den Schwager. Die Arglosigkeit der jungen Frau, die bereits in der Hochzeitsnacht ein Kind empfangen hatte, beweist der Umstand, daß die Liebesbrieflein, welche die Mädchen an den Schwager schrieben, von ihr selbst übermittelt wurden, da sie wußte, daß sie dadurch ihrem Mann Freude bereite. Wenn nicht seiner, so war sie doch ihrer eignen Gefühle völlig sicher. Da geschah Ende 1871 etwas Unerwartetes.

Die Schwester Antonie willigte in die Bewerbung eines Kaufmannes Friedberg in Berlin, dem jüngeren Bruder des späteren preußischen Justizministers. Sie meldete, daß sie zu Weihnachten mit ihrem Vater nach Berlin reisen werde, zu Gast in der Familie Friedberg; dort solle ihre Verlobung gefeiert werden. Diese Nachricht fiel zusammen mit der anderen, daß durch den Bankerott eines Berliner Bankhauses ungefähr die Hälfte der eingebrachten Mitgift verloren sei. Nun ist es schwer zu durchschauen, was in der blindwütigen Seele meines Vaters vorgegangen sein mag.

Er erschien sich betrogen. Er saß nun da mit einer ungeliebten Frau und einem unerwünschten Kinde. Seine Enttäuschung wuchs zur Verzweiflung, als ein Brief des Schwiegervaters meldete, daß dieser sich die Mitgiftsfragen seiner Töchter anders überlegt habe und entschlossen sei, alle in gleicher Weise zu bedenken, so daß nun also auch Antonie in ihre voraussichtliche Ehe ebensoviel Geld mitbekam wie Adele erhalten hatte.

Wenn bei dem Verzicht auf das geliebtere Mädchen den Leidenschaftlichen der Gedanke hätte trösten können, daß er durch die Heirat der minderwillkommenen doch zu größerem Besitz gekommen sei, so mußte er sich nun sagen, daß er ja doch den größeren Teil dieses Besitzes schon verspielt hatte und somit sein ganzes Opfer vergeblich war. Er mußte sich sagen, daß er sich selber verkaufte, indem er eine Frau kaufte, und daß bei dem üblen Handel der Schwiegervater, als der klügere Mann, ihn übers Ohr gehauen habe, indem er die lästige Adele und das Kind ihm anhing. Die Unbeherrschtheit meines Vaters spiegelte sich in der Tatsache, daß er wähnte, alles noch rückgängig machen, Adele mitsamt dem Kinde zurückzugeben und dafür die andere gewinnen zu können, falls diese nur ihre Liebe zu ihm durch einen kühnen Schritt beweisen wolle.

Er bestimmte also, zwei Monate vor meiner Geburt, die ihm willenlos ergebene Frau, deren Seelenlage wohl noch schrecklicher war als die seine, die Ehe wieder zu lösen und in ihr Vaterhaus nach Düsseldorf, zu dem sie ohnehin das Heimweh zog, zurückzukehren. Dort solle sie dahin wirken, daß ihr Vater nachträglich in die Verbindung mit der andern willige. Meine Mutter, wehrlos, anlehnungsbedürftig, unkritisch und unfähig zur Selbstbestimmung, befand sich in grauenvoller Lage. Was aber aus der Tiefe ihres Wesens den Ausschlag gab, so zu handeln wie sie nun handelte, das kann ich aus dem eigenen Lebenslaufe wohl verstehen, denn in fast unheimlicher Weise sind seelische Lagen der Eltern auch in meinem Leben wiedergekehrt. Sie trug sich mit dem Wahne, man könne durch die Opferkraft der Liebe des andern Liebe gewinnen oder wieder gewinnen. Sie verfiel dem Irrtum, daß Liebe nach dem Werte des andern frage, daß man durch hohe Bewährung, durch Größe, durch Selbstlosigkeit eines andern Liebe erobern könne, die man doch wahrscheinlich viel eher gewonnen hätte, wenn man ganz roh gesprochen hätte: »Geh zum Teufel und sieh zu, wie du mich gewinnst«.

Genug, sie kehrte, das Kind unterm Herzen, ins Vaterhaus zurück, mit der Sendung, die Verlobung der jüngeren Schwester zu zerstören. Es mag sein, daß ihre träge, duldende Natur sich nur dem stärkeren Drucke fügte. Sie gehörte zu den Menschen, die zuletzt doch nur das Bequeme tun.

Nachdem mein Vater die Frau zurückgegeben hatte, fuhr er nach Berlin, wo Antonie und ihr Vater zu Besuch weilten. Er traf just zu der Stunde ein, wo die Familie des Bräutigams zu einer Verlobungsfeier beisammen saß. Daß er wähnen konnte, dies Verlöbnis auch jetzt noch zerstören zu können, ist schwer verständlich. Er meinte, daß bei seinem Erscheinen die Braut ihren Verlobten verlassen und ihm, als dem eigentlich Ersehnten, folgen werde. Er baute auf die kindlichen Liebesbriefe, die die Achtzehnjährige geschrieben hatte. Aber es kam anders.

Eine Gesellschaft nüchterner Geschäftsmenschen hockte beieinander. Gesicherte Leute aus dem wohlhabenden Berlin. Im unrichtigsten Augenblick, als die Gesellschaft an der Festtafel sitzt, wird mein Vater gemeldet. Er begehrt die Braut zu sprechen. Sie in Gegenwart der Familie zu begrüßen, verweigere er. Keiner versteht den Vorgang. Antonie fühlt nichts als Schrecken. Man will Verlegenheiten meiden. Mein Großvater bittet den unerwartet Zugereisten in ein Zimmer zur Unterredung. Antonie und ihr Verlobter warten im Nebenzimmer, in einem dritten Raum die Geladenen.

Mein Vater, jäh und leidenschaftsblind, überhäuft seinen Schwiegervater mit Vorwürfen, daß er ihn und die Antonie auseinandergebracht habe. Er habe die häßliche, älteste Tochter schnell unter die Haube bringen wollen. Nachdem ihm die Verheiratung gelungen sei, habe er die Verheißung der größeren Mitgift rückgängig gemacht. Kurz und gut: »Ich habe die Adele nach Düsseldorf zurückgeschickt und stehe hier, um mir meine Toni zu holen.«

Der andere, die Lage ruhiger überschauend und gewohnt, immer berechnend zu handeln, bedauert her und hin, daß weder die Heirat der Adele, noch auch das Verlöbnis der Antonie rückgängig gemacht werden könne, und da nun mein Vater sich beruft auf die übrigens harmlosen Schwärmereien, welche Antonie bis vor wenigen Wochen ihm geschrieben habe, so äußert der Großvater Zweifel und wünscht solche Belegstücke, die denn freilich den Bräutigam und dessen Eltern stutzig machen und zum Rücktritt bewegen könnten, ihm doch klar vorzuweisen; worauf mein Vater ihm das Päckchen Briefe übergibt und die Forderung stellt, nunmehr mit Antonie ohne Zeugen sprechen zu dürfen. Der andere bittet um Zeit zur Überlegung, nimmt die Briefe, geht und läßt meinen Vater warten. Die Briefe bringt er der Tochter und bittet diese, sich in Gegenwart ihres Verlobten zu entscheiden; bittet auch den Bräutigam, sich darüber auszusprechen, ob das Vorhandensein der schwärmerischen Jungmädchenbriefe und die frühere Beziehung für ihn ein Hindernis sei, das Bündnis aufrecht zu erhalten. Männlich und gradlinig erklärt der Befragte, daß er die Briefe, die seine Braut an einen andern geschrieben habe, nicht kennen wolle und daß für ihn alles in Ordnung sei, wenn Antonie erkläre, daß sie seine Frau werden wolle. Antonie aber versichert, alles Frühere sei Kinderei gewesen, in die sie, ein unerfahrenes Mädchen, durch den starken Eindruck des um fünfzehn Jahre älteren Mannes hineingedrängt worden sei. Sie sei sich der Folgen solcher Briefe nicht bewußt gewesen, wolle sie sogleich vernichten und den sie bedrängenden Mann nicht mehr sehen.

Nachdem der Kluge somit die Gewißheit erlangt hatte, daß es dem unklug Stürmischen nicht gelingen werde, das junge Mädchen in einen verhängnisvollen Roman hineinzureißen, kehrt er zu dem Wartenden zurück mit dem endgültigen Bescheide, daß die Tochter ihn nicht sehen und nicht anhören wolle. Er selber bedauere, sein Versprechen einer höheren Mitgift für Adele nicht eingehalten zu haben, sei aber bereit, den ursprünglich festgesetzten Unterschied, also fünfzigtausend Mark, nachzuzahlen, wenn der Jähzornige Friede geben und Frau und Kind zurückholen wolle. Willige mein Vater aber nicht darein, so möge die Ehe rückgängig gemacht und die Scheidung eingeleitet werden. Die Tochter samt dem Kinde verbleibe dann im Vaterhause.

Auch jetzt noch beharrt mein Vater dabei, nur aus dem Munde Antonies seine Abweisung annehmen zu können. Er fordert die Briefe, die der Schwiegervater widerrechtlich sich aneigne. Er wolle diese Briefe an Antonie, wenn sie es wünsche, persönlich geben. Der andere fragt dagegen, was denn mit der Adele geschehen solle und ob mein Vater, falls er sich von Antonie die Abfuhr persönlich geholt habe, Adele wieder zu sich nehmen werde, für den Fall, daß Adele überhaupt noch zu ihm zurückkehren wolle. Mein Vater, immer in dem Wahn, der Liebe der Antonie sicher zu sein, verspricht für Adele und das Kind weitersorgen zu wollen, vorausgesetzt, daß der Schwiegervater die versprochene Summe nachzahle.

Vergegenwärtigt man sich die Lage, so empfindet man mit Widerwillen, wie hier um Herzen geschachert wurde. Man darf aber nicht vergessen, daß die nach Hause geschickte Adele sich dieses Schicksal selber erwählte, indem sie bedingungslos alle Entscheide ihrem Manne zuschob, der dann seinerseits wieder den Entscheid in die Hand der achtzehnjährigen Toni legte. Die Bürgerehen jener Tage, nicht nur in jüdischen Geldkreisen, waren fast durchwegs Vernunftehen. Eltern und Verwandte entschieden, wie noch heute im Orient, über das Schicksal ihrer Töchter. Als der überlegene Politiker stellte mein Großvater sofort einen Scheck aus auf fünfzigtausend Mark und läßt meinen Vater den Empfang bestätigen. Er fügt hinzu: »Will Toni dir folgen, wirst du Adele und das Kind verlassen, so muß das Geld zurückgegeben werden. Sei gewärtig, daß die Familie dann weder mit dir, noch mit Toni weiter zu schaffen haben will.«

Toni bleibt nun zunächst dabei, daß sie den Schwager nicht anhören möge. Da er aber erklärt: »Ohne die mir abgenommenen Briefe verlasse ich das Haus nicht. Ich nehme nur aus ihrem eigenen Munde die Erklärung an, daß alles zu Ende ist«, so wird ihm zugestanden, daß in Gegenwart des Bräutigams und dessen Eltern, die ja ein Recht auf Erläuterung der dunklen Vorgänge hätten, eine letzte Unterredung stattfinden möge.

Er wird in den Saal geführt und befindet sich gegenüber der fremden Gesellschaft, die inzwischen vom Großvater über das Zerwürfnis und den Zweck des Besuches aufgeklärt worden war. Die junge Braut wird um ihre Meinung gebeten. Sie sagt kurz, daß sie sich in ihren Gefühlen getäuscht habe und bittet, die dem Schwager geschriebenen Briefe vernichten zu dürfen. Ihr Vater fügt hinzu, daß, wenn Antonie jemals den andern Mann geliebt habe, diese Liebe jedenfalls nun erloschen sei, wo er aus der Ehe mit ihrer Schwester ein Geschäft zu machen versuche. Der Enttäuschte steht da wie ein entlarvter Erpresser. In einer Aufwallung von Stolz gibt er den Scheck zurück und verläßt das Haus ohne die Braut, ohne die Briefe und ohne das Geld.

Folgerichtig wäre nun gewesen, wenn mein Vater alle Beziehungen gelöst und seine Ehe geschieden hätte. Aber er war geknebelt durch einen Umstand, den er verschwiegen hatte und weiterhin verschweigen mußte: der größere Teil der Mitgift war verspielt. Hätte er Frau und Kind zurückgeschickt, nachdem er das Geld durchgebracht hatte, so wäre er in aller Augen zum Verbrecher geworden. So holte er die ihm widerwärtige Frau zurück. Es ist jedoch zu bemerken, daß die junge Frau keinen andern Wunsch hatte, als wieder zu ihm zurückkehren zu dürfen. Von nun an begann ein Totentanz. Er haßte mich, ehe ich geboren war. Er war angefüllt von ohnmächtigem Groll gegen den Schwiegervater, der, wie er glaubte, ihn »hineingelegt« hatte. Er hegte zornigen Gram wider die junge Schwägerin, die, wie er glaubte, ihn »verraten« hatte. Bei alledem war er unfähig, sich gegen das selbstverschuldete Schicksal zu wehren.

Mit zäher Beharrlichkeit hat er bis zum Tode verschwiegen, daß das Geld der Frau schon verspielt war zu der Zeit, wo er den Versuch machte, sie loszuwerden. Lebenslang galt er für wohlhabend und bestärkte Frau, Kinder und Umwelt in der Annahme, daß er noch ein reicher Mann sei. Erst bei seinem qualvollen, über zwei Jahre gedehnten Sterben, als seine Arztpraxis langsam auseinanderfiel, kam es zu Tage, daß kein Geld im Hause sei und daß nach seinem Tode Frau und Kinder in Armut zurückbleiben würden.

Indem ich die Tatbestände festhalte, bin ich bewußt, daß bei keinem menschlichen Schicksal je behauptet werden kann: »So muß es gewesen sein.« Denn wie mag vor dem Stolze meines Vaters der Hergang der Dinge sich wohl umgeordnet haben? Er war machtwillig und selbstgerecht. Sollte nur der Wunsch nach neuem Gelde jenen Vorstoß mit den Liebesbriefen veranlaßt haben? Wieviel Eifersucht war im Spiel? Hat ihn die Wut erfaßt, bei der Verlobung Antoniens einfach übergangen zu sein? Haben ihn Eitelkeit, Herrschsucht oder Sinnlichkeit gepeitscht?

Aus den ärztlichen Tagebüchern meines Vaters, die ich verwahre, ist zu ersehen, daß zu der Frist, wo seine Ehetragödie anhebt, er nicht imstande war, zu arbeiten. Es findet sich eine Folge weißer Blätter, und quer über die Seite geschrieben steht das dunkle Wort: »Racheschwur«.

Er fuhr in seinem Doktorwagen in den Straßen des alten Hannover. Er gehörte zu der Stadt. Er trug kurze Gehröcke aus feinem dunklen Tuch und einen hohen Zylinderhut aus schwarzem Seidenglanzstoff. Immer steckte die rechte Hand im Handschuh und schlenkerte mit dem koketten Doktorstock wie mit einem Feldherrnstab. Zu Hause, ein cholerischer Rechthaber, saß er am Schreibtisch im schwarzen Sammet und rauchte aus ellenlangen Pfeifen, die in einem Kopf aus Meerschaum endigten. Er war unter Mittelgröße aber von strammer Haltung, hatte dunkelblonde Haare, graublaue Augen, helle Haut, schmale Hände. Er trug nach Sitte der Zeit kurzen Backenbart, sogenannte Koteletten und kleinen Schnurrbart. Kinn und Mund blieben frei. Das Kinn war energisch, der Mund grausam.

Wenn ich heute, sechzig Jahre alt, nachsinne, wie ich das längst entschwundene Bild sichtbar machen könnte, so, wie ein unbeteiligtes Auge es vielleicht sachlich zu sehn vermocht hätte, dann scheinen mir drei Wesensseiten am geeignetsten, um den Versuch einer Charakteristik an sie anzuknüpfen: Ichbezüglichkeit, Reizsamkeit Sinnlichkeit.

So beginne ich denn mit der Ichbezüglichkeit, derengleichen ich bei keinem andern Menschen je wieder erlebt habe.

Er gehörte zu den Leuten, die ihr Ich um sich tragen wie ein Glasgehäuse, durch welches die ganze übrige Welt erst hindurchdringen muß. Aber sie wissen es nicht, daß sie Alles und Jedes nur gebrochen durch ein persönliches Medium empfangen. Die Forderung: »Sieh ab von dir selbst!«, »Entäußere Dich!«, diese Forderung ist für solche Charaktere unerfüllbar.

Da aber die Knotung des Lebens im Punkte Ich stets mit Verteidigungszuständen und Übermächtigungsstreben, überhaupt mit dem Wollen zusammenhängt, so wäre zu sagen, daß mein Vater, der nie von seinem geltungsbedürftigen Ich-Mittelpunkte loskommen konnte, eine in ihr Bewußtsein eingekäfigte Natur gewesen ist. Ich bin überzeugt, er hat nie eine Person und nie eine Sache geliebt, ohne auf diesem Umwege doch nur sich selber zu lieben. Aber in dieser Eigenbezüglichkeit war er kindlich. Wenn er sein geliebtes »Erst komme Ich« sagte, so sagte er es ohne schlechtes Gewissen. Er glaubte, daß auch jeder andere, wenn er nur dazu Macht besitze und ehrlich wäre, ebenfalls sagen würde: »Erst komme Ich«. Daß er für die Seinen Sorge trug, war ihm selbstverständlich, darum, weil es ja nun mal die Seinen waren. Seine Welt war sein erweitertes Ich. Aber verzichten darauf, daß für seine Person besondere Speisen, besondere Geschirre, besonderer Respekt und besondere Moral dasein müssen, das hätte ihm nicht beikommen können. Er trat ans Leben heran mit übergroßen Ansprüchen. Es geschah darum, weil in seiner Jugend auf ihn allzu viele Rücksichten genommen wurden. Da das Leben unsere großen Erwartungen unerfüllt läßt, so hielt er sich schadlos in dem kleinen Lebenskreise, darin seine Launen Gesetze waren. Aber hätte man ihm gesagt: »Du selber trägst Schuld am Unglück deines Hauses«, so hätte er erstaunt mit seiner häufigsten Redewendung geantwortet: »Bin ich denn ein Despot? Ein Märtyrer bin ich!« Oder er hätte gesagt, was er in seinen klarsten Stunden oft zu sagen pflegte: »Mein Charakter ist schrecklich. Aber dagegen kann man nichts machen.«

Man hätte ihn zerbrechen, aber nicht umwandeln können. Das Schlangenknäuel seiner Gierden und Süchte wurde zusammengehalten durch den Reif unwandelbarer Selbstüberschätzung. Obwohl voller Leidenschaften, konnte er nie ihr Opfer werden, weil sein Geltungswille sich immer noch stärker erwies als alle Triebantriebe.

Diese Selbstherrlichkeit, von welcher der Versuch ihn zu charakterisieren ausgeht, war aber ohne Anmaßung. Wenn er in einem Restaurant speiste und wenn ein Gericht ihm mißbehagte, dann ließ er den Wirt zu sich bitten und verfügte, wie wenn ein Herrscher Verordnungen erläßt: »Ich bin Doktor Lessing. Ich habe zehn Jahre bei Kasten gegessen. Hannovers berühmtester Mittagstisch. Sagen Sie Ihrem Koch, er solle sich sein Lehrgeld wiedergeben lassen.« Ebenso aber ließ er auch sein Lob übermitteln, wie wenn er Orden zu vergeben habe. Er trat derb auf, kurzangebunden, ein Mann, der seiner Bedeutung sicher ist. Ich möchte sagen: Dieser Mann war sich Mittelpunkt des Kosmos, und der Mittelpunkt dieses Mittelpunktes war sein Magen.

Wenn er von Krankenbesuchen heimkam, so herrschte bei Frau, Kindern, Diener und Magd ängstliche Spannung. »Wird Herr Doktor an diesem Mittage zufrieden sein? Wird er wegen irgend eines Fehlers Krach schlagen?« Die Mahlzeit war die Qualzeit. Denn er gehörte zu der Gattung »Straßenengel aber Hausteufel«. In Gesellschaft ein liebenswürdiger Schwerenöter und guter Unterhalter, war er in seinen vier Wänden ein übellauniger Allesbenörgler, der durch galligen Mißmut sich und andern das Leben unfroh machte.

Neben dem, was ich Eigenbezüglichkeit nenne, stand als meines Vaters zweite Wesensseite: eine Beweglichkeit der Stimmung, für welche Worte wie Reizbarkeit oder Beeindruckbarkeit schon darum schlecht gewählt wären, weil dieses Auf und Ab seiner Zustände nicht von außen kam, sondern aus unbekannten Untergründen einer Natur, die unbegreiflich umschlagen konnte. Eben noch in heiterer Verfassung, trifft ihn irgendeine geringfügige Unannehmlichkeit (etwa: ein Kind soll ihm aus der Kiste auf dem Wandschränkchen eine Zigarre holen, faßte die Zigarre ungeschickt an und verletzt ein wenig das Deckblatt), sofort verwandelt sich die Heiterkeit des Augenblicks in Mißmut, und indem dieser sich in Schelten entlädt, treiben ihn die Worte immer mehr in Groll hinein und schließlich, wenn etwa ein unbedachtes Widerwort erfolgt, geht der Groll über in tobenden Zorn, in schäumende Wut, welche im nächsten Augenblick jäh münden kann in den kalten, grausamen Entschluß eines das ganze Wesen des Kindes erschütternden Strafbefehles oder aber auch (etwa, wenn nun das Kind verzweifelt losweint) sich wieder auflösen kann in leichte Rührung, aus der heraus das soeben abgestrafte Kind nun ebenso willkürlich gestreichelt oder beschenkt wird.

So war er denn, wenn man ihn nicht »diplomatisch« zu behandeln wußte, wie das sein Liebling, meine kluge hübsche Schwester Sophie am besten verstand, der bedauernswerte Spielball vieler krankhafter Stimmungen, mit denen er jedes Fest und jede gute Stunde sich selber verdarb. Denn immer schoß er nach Spatzen mit Kanonen. Immer lebten wir auf einem Pulverfaß. Daß sein Wille unberechenbar sei, war das einzige, was wir sicher von ihm wußten, so daß bei Anliegen und Bitten wir immer das Gefühl hatten, in die Lotterie zu setzen.

Wir wagten als Kinder nie, uns auf etwas zu freuen, denn dann wurde es im letzten Augenblick sicher gestört. Wollten wir etwa einen Ausflug machen, so war das klügste, trotzig zu tun und zu maulen, daß wir zu dem Ausflug keine Neigung hätten, dann wurde er vom Widerspruchsgeist des Vaters uns anbefohlen. Er konnte gewähren, er konnte verbieten, konnte Verbotenes nachträglich gewähren oder auch etwas Gewährtes nachträglich wieder verbieten. Über die Privathölle »Kindheit« schwebten die Launen eines kranken Despoten. Das Wort Goethes: »Wenn wir andere anerkennen, müssen wir uns selbst entadeln« ist gewiß kein allgemein gültiges Wort. Aber es gibt Naturen, welche in der Tat nichts anerkennen mögen, ohne auch immer sogleich ein »Aber« beizufügen. Sie glauben, dieses »Aber« sich selber schuldig zu sein. Ich habe aus dem Munde meines Vaters keinen Tadel so häufig vernommen, wie den ungereimten Tadel: »Wenn ich deine Talente hätte, was würde ich daraus machen«. Das hätte er jedem gegenüber gesagt, dem größten Dichter, dem größten Feldherrn, dem größten Musiker, dem größten Techniker. »Wenn ich solche Talente besäße, dann hätte ich die Sache anders gemacht und viel besser.« Als ich Student in Freiburg war, fuhren wir zusammen an den Titisee und badeten. Beim Schwimmen konnte ich ihn leicht überholen und, um sein Lob zu hören, schwamm ich weit in den See, während er geängstigt zurückblieb und in Sorge hinter mir drein schalt. Aber als ich dann zurückkehrte und triumphierend fragte: »Nun, schwimmen kann ich doch wenigstens besser als du?«, da kam seelenruhig die Antwort: »Ja, besser schon, aber bei mir sieht es schöner aus.«

Die dritte Wesensseite, die ihn kennzeichnete, war die unbelehrbare Sinnfälligkeit seiner Natur. Nicht daß er nüchtern, sachlich oder gar berechnend gewesen wäre. Das war er ganz und gar nicht. Vielmehr besaß er eine starke Fähigkeit zu Enthusiasmus und hatte starke Begabung für alle Künste des Theaters. Ja, er war recht eigentlich eine ausgesprochen theatralische Natur. Er sang mit weicher Baritonstimme, vor dem Spiegel stehend, sich selber zur Lust ganze Opern. Er deklamierte beständig die Verse Schillers. Er genoß immer sich selbst. Diese schauspielerische Anlage zeigte sich noch in seinen fassungslosen Koller- und Jähzornanwandlungen, denn er schien sich dann in einen manischen Zustand hineinzureden. Er schielte, indem er schimpfte und raisonnierte, in das Spiegelglas und schien sich zu genießen. Aber wenn ihm Dichterisches nicht verschlossen blieb, völlig unzugänglich war er für alles Geistige. Nie habe ich je einen Menschen so ungeneigt gesehn zu kritischem, logischem, analytischem, abstraktem Denken, so gleichgültig gegen Reflexion, so unfähig, allgemeine Begriffe, generelle Formeln, Meinungen, Prinzipien, allgemeine Gesichtspunkte zu würdigen. Immer war er Auge, immer Augenblick und Gegenwart, von breiter sinnlicher Lebenserfahrung und instinktiver Menschenkenntnis, aber ohne logische, psychologische, philosophische Bedürfnisse.

Er erzählte mit Stolz, wie er, in das Krankenzimmer tretend, Wahrnehmungen mache, die jeder andere übersehen hätte. Er behauptete Krankheiten mit der Nase feststellen oder aus der Bindehaut des Auges ablesen zu können. Einmal als bei einem Eingriff die Kanüle fehlte, die in die Wunde eingelegt werden mußte und die Assistenten darüber verzweifelt waren, ergriff er einen Strohhalm und benutzte diesen zur Ableitung des Eiters, wie er denn oft durch rasche Eingebung eine schwere Krisis im glücklichen Moment zum Guten zu lenken verstand. Von seinen Patienten pflegte er zu sagen: »Sie müssen dem Arzte aus der Hand fressen, aber sie müssen glauben, sie täten alles freiwillig.« Er liebte seinen Beruf, obwohl er immer auf ihn schalt. Er konnte nicht anders als »Doktor spielen«. Aber ich glaube, daß er nur darum mit seinem Berufe so völlig verwuchs, weil er fortdauernd durch ihn seinen Machtwillen befriedigen konnte.

Ich entsinne mich mancher Reise, auf die er mich als Knaben mitnahm. Er stand unter dem Zwang, fortwährend den Arzt spielen zu müssen. Er langweilte sich unsäglich, sobald er müßig gehn mußte und nicht befehlen und Widerstände brechen konnte.

Um dies Doktorspielen zu beleuchten, wähle ich eine Szene, deren ich mich entsinne von der letzten Reise, die wir machten: über den Brenner, nach Riednaun bei Sterzing in Tirol. Ich war damals zweiundzwanzig Jahre alt, Student der Medizin. Es war zwei Jahre vor seinem Tode. Wir fuhren in einem vollbesetzten Abteil zweiter Klasse. Mein Vater begann nach seiner Gewohnheit Gespräche mit den Mitreisenden. Er hatte die Gabe, alle Leute für sich einzuspannen. Er war imstande, einer ganz fremden Dame den Inhalt seines Koffers auf den Schoß zu packen und sie in aller Herzenseinfalt aufzufordern, ihm bei diesem oder jenem behilflich zu sein. Hätte sie sich geweigert oder wäre empört gewesen, dann hätte seine eigene Entrüstung über solchen Mangel an Nächstenliebe ihre Entrüstung weit übertroffen. Daß sich die Mitwelt um ihn zu drehen habe, war eben selbstverständlich.

Als wir an Gossensaß vorüberfuhren, begann er: »Sieh diesen Ort an, mein Sohn! Dahin hat dein Vater so manchen Patienten geschickt.« So war seine Redeweise. Er behandelte sich und seine Handlungen mit Ehrfurcht. Er sprach von sich selber fast immer in der dritten Person. Die Mitreisenden horchten auf, ohne daß er das beabsichtigte, denn er war in seiner Art des Sichaufspielens ein kindlicher Mensch. Wer nicht sehr überlegener Menschenkenner war, der mußte den Eindruck gewinnen, dieser Mann sei ein besonderer Mann. Als wir in Sterzing ausstiegen, da hatte das ganze Abteil von ihm Ratschläge erbeten. Der eine fragte wegen eines kranken Kindes, dem zweiten schaute er in den Rachen, dem dritten behorchte er die Herztöne. Er sonnte sich in seiner Wichtigkeit, und ich saß wutschnaubend, voller Verachtung und Haß daneben, und sobald wir allein waren, konnte ich es nicht lassen, irgendeine bissige Bemerkung zu machen, worauf eine der schrecklichen Zank- und Streitszenen erfolgte, die zwischen uns beiden unvermeidlich waren. Ich war damals viel zu unreif, um ihm gerecht werden und ihn etwa mit überlegener Ruhe leiten zu können; ich litt entsetzlich. Er befehligte, bewertete, bevormundete unausgesetzt und ließ keinen anderen Willen aufkommen als den seinen. Daß er unausgesetzt arzten und doktern mußte, obwohl er eigentlich ein ganz unvernünftiger schlechter Ratgeber war, kam keineswegs aus Menschenliebe und am wenigsten aus Neugier und Eifer für seine Wissenschaft. Es stand auch keine Geldgier dahinter, denn er nahm für sein freiwilliges Arzten nie Honorar und war der Schrecken aller andern Ärzte. Auch Eitelkeit war nicht seine wesentliche Triebfeder, denn er machte sich nicht viel aus der Meinung der Leute. Aber er war herrschbedürftig in ungewöhnlicher Stärke und stand unter dem Zwang, beständig sich fühlen und im Mittelpunkt stehen zu müssen. Er reiste einige Male nach Gmunden an den Hof des ehemaligen hannoverschen Königshauses, aber selbst in dieser höfischen Umgebung machte er sich naiv zum Mittelpunkt; er gehört zu jenen Naturen, die lieber im Dorfe der erste Mann als in der Weltstadt der zweite sein wollen. Genoß er Sommerfrische, so geschah es, daß an Orten, wo er bis dahin keinen Menschen kannte, alsbald wie zu Hause er seine täglichen Sprechstunden abhielt. An die hundert Menschen schnell hintereinander befragen, auskultieren, perkutieren, auf Herz und Nieren prüfen oder wie er das nannte »abfertigen« zu können, das war ihm Bedürfnis.

Er galt als der gröbste Arzt der Stadt. Es war vorgekommen, daß er Patienten ohrfeigte oder aus seiner Stube warf; etwa einen jungen Ehemann schlug, weil der bei einer schweren Geburt sich für seine Frau ängstlich zeigte oder einen Klienten anschrie, weil der eine Verordnung nicht genau befolgte. Er verlor durch seine Grobheit manche Verbindung, aber gleichwohl faßte er seine Tätigkeit patriarchalisch auf und betrachtete sich als den ein für allemal erwählten Oberbeherrscher seiner Patienten.

Er tat in seiner Weise viel Gutes. Zweimal täglich machte er mit seinem Kutscher Lambach die Rundfahrt, welche er verglich mit der Tätigkeit des Schäferhundes, der die Herde beisammen hält. Oft wurden allerhand Stärkungsmittel, Wein und Keks mitgenommen »für arme Kranke«. Er hatte in seinen besten Jahren den größten Zulauf und etwa dreißig- bis vierzigtausend Mark Jahreseinkommen, welche für den auf viel zu großem Fuße geführten Haushalt vollständig verbraucht wurden. Die Einnahmen kamen aus seiner Praxis als Hausarzt. Er empfing zu Jahresende ein dem Ermessen der Familie überlassenes Honorar. Dafür hatte er während des Jahres die Familien zu betreuen. Rechnungen schrieb er nur selten. Niemals beklagte er Schuldner. Leute vom Theater, Künstler und Artisten behandelte er umsonst. Eine seiner Wunderlichkeiten war, daß er jeden Kranken nach seiner Lieblingsspeise fragte. Er hatte die Vorstellung, daß der Instinkt nicht irre, und wenn ein Kranker nach einer Speise Verlangen zeigte, so wurde sie ihm sogleich verordnet.

Seine Tätigkeit wäre eitel Scharlatanerie gewesen, wenn nicht auch hinter seinen vielen Irrtümern gestanden hätte das unzerbrechliche Selbstvertrauen eines Ich-Monomanen, welcher glaubt, daß er alles und jedes besser als andere verstünde, und welcher erwartet, daß andere sich geehrt fühlen müßten, wenn er sie behandelt. Auch hatte er die wunderliche Vorstellung, daß Schmerzen, die er zufügte, nicht wehetäten, nicht wehe tun dürften.

Wenn in der eigenen Familie jemand krank war (und ich war immer krank), dann faßte er das auf als ein ihm persönlich zugefügtes Unrecht. Er führte Scharen von Kollegen an das Krankenbett und zeigte sich plötzlich unsicher. Wenn er während des Zahnwechsels einem Kinde einen Zahn ziehen mußte, so schimpfte er darüber, daß das Kind Angst äußerte, weil er darin einen Mangel an Anteil erblickte gegenüber dem Unglück, das er als Vater erleide. »Du schreist während ein Vater seinem Kinde einen Zahn ziehen muß«, das sagte er keineswegs als Scherz, sondern in gerechter Empörung.

Er sagte kaum je »Ich befehle dir«, sondern etwa »Dein Vater befiehlt«. Er äußerte Unwillen in Sätzen wie: »Was soll aus der Welt werden, wenn eine Frau sich hinwegsetzt über den Wunsch ihres Mannes.« »War es schon da, daß Kinder sich so gegen ihren Vater betragen?« »Ihr wißt doch, daß Euer Vater dergleichen nicht liebt.«

Welch unbeschreiblicher Kauz war er! Da waren Wunderlichkeiten, die ich kaum begreiflich fände, hätte ich sie nicht täglich erlebt. Er besaß für alle Gelegenheiten ein starres Gefüge von Redensarten, mit denen er aufstand, mit denen er schlafen ging. Sinnloser Schnickschnack, den er im Laufe seines Lebens aufgelesen hatte. Aus alten Opern, Possen und Lustspielen. Auf der Schulbank, auf den Bänken der Universität. Schnickschnack, den er laut vor sich hinsprach, wenn er allein war, aber auch dann, wenn Gäste zugegen waren, die den Unsinn gar nicht verstanden. So sagte er bei jeder Gelegenheit: »Ohne Ordnung möchte ich kein Mensch sein.« Ferner: »Die Hauptsache ist die Gesundheit in allen natursystematischen Entwicklungsprozessen.« Auch besonders häufig: »sapienti sat.« Wenn ihm etwas schief ging, dann hieß es: »Die Petersilie ist dies Jahr verhagelt.« Wenn er sich verwundete, rief er »Heiliger Brimbonillus« oder »Heiliger Schnapsnakus«. Wenn er mich schalt: »Du wirst die blaue Grütze noch kennen lernen.« Ging er auf ein bequemes Örtchen, welches er »kleinen Rosengarten« nannte, wozu er immer eine frische Pfeife ansteckte und sein »Leibblatt«, die »Frankfurter Zeitung« mitnahm, so erfolgte mit Sicherheit das Zitat aus Schillers »Tell«: »He, Seppi, zieh die Naue ein, es wird ein Wetter geben.« Kam während der lang dauernden Sitzung ein Patient, so mußte sein »Mädchen für Alles« Christiane an der Türe des »kleinen Rosengartens« den Besucher durch Klopfen anmelden, worauf mit Regelmäßigkeit von innen gebrummt wurde: »Die Patienten sollen warten, Herr Doktor sitzt im Rosengarten.«

Er hatte ein Tausenderlei solcher Angewohnheiten, von denen er nie abließ. So warf er zum Beispiel nie Briefe fort, auch nicht den kleinsten Zettel. Boden und Keller standen voll Kisten, in denen alte Briefe aufbewahrt wurden. Nach seinem Tode mußten mächtige Ballen Papiers verbrannt werden. Er hielt auf strenge Regelmäßigkeit bezüglich seiner Ordnung. Mittags nach Tisch wechselte er das Hemd, wusch sich Gesicht und Hände, putzte die Zähne mit Kreide und ging in sein Studierzimmer. Dort mußte ein Kind, und wenn kein Kind da war, Christiane mit einem Paar frischer Socken ihn erwarten. Er legte sich auf sein altes Schlafsofa und das Kind mußte »Strümpfe wechseln«, wobei regelmäßig gesagt wurde: »Merke dir mein Sohn« (oder je nachdem »meine Tochter«), »die Füße deines Vaters sind so rein, wie bei anderen Leuten das Gesicht noch lange nicht.« War er gut aufgelegt, so balgte er sich bei dieser Gelegenheit mit den Kindern wie ein ausgelassener Knabe, sodann wurde das Zimmer verdunkelt, und alle im großen Hause schlichen auf den Zehen für zwanzig Minuten. Denn genau so lange schlief er. Keine Minute weniger, keine mehr. Waren die zwanzig Minuten abgelaufen, so mußte Christiane wieder dastehn mit einer Tasse starken schwarzen Kaffee, die er in einem Zuge heruntertrank. Darauf zündete er eine Zigarre an, »schwarze Sumatra« und öffnete die Türe zum Vorzimmer, wo inzwischen die Patienten oft schon seit einer Stunde hatten warten müssen, mit den Worten: »Rin in die Kabuse.«

Auf seiner rotbraunen Mahagonikommode stand »das Likörschränkchen«. Davor lagen drei Taschentücher. Nicht mehr, nicht weniger. Drei Taschentücher verbrauchte er an jedem Tag. Ging er an das Schränkchen, so erfolgte die Redensart: »Da ergriff ihn ein Gedanke und er eilte hin zum Schranke.« Goß er sich von dem Kognak ein, so kam prompt die zweite Redensart: »Es ist ein Satz von altersher, wer Sorgen hat, hat auch Likör.« Er merkte unfehlbar, wenn auf seinem Schreibtische auch nur ein Rezeptblatt, der Bleistift, der riesige Spulfederhalter (er schrieb noch mit Gänsefedern, welche Borchers schneiden mußte), auch nur um ein wenig anders lag als er sie hingelegt hatte.

Wenn er abends schlafen ging, so war eine große Gebrauchsordnung von Gewohnheiten zu erledigen: Nachfühlen, ob alle Türen verschlossen seien. Aufziehen etlicher Uhren. Zurechtrücken der Pantoffeln. Fälteln der Beinkleider. Ein Glas Wasser wurde getrunken; eine Rhabarberpille geschluckt. Das alles ging nie ab, ohne zahllose Poltereien, Redensarten, Ermahnungen.

Morgens, nachdem er ausgeschlafen hatte, war er zumeist wohlgelaunt, dann nahm er die zwei Kinder zu sich ins Bett und spielte »Märsche machen«. Das Spiel bestand darin, daß er alle ihm bekannten Opernmelodien pfiff oder sang und dazu den Takt auf unsern Rücken trommelte. Wir mußten erraten, aus welcher Oper die Melodie stamme, und wie der Komponist heiße. Wußten wir es, dann bekamen wir eine »Ehrensalve«, das heißt verstärkte Prügel. Wußten wir es nicht, so bekamen wir erst recht Prügel. Aber im ersteren Falle fühlten wir uns durch Schläge geehrt, und nur im zweiten Falle heulten wir.

In einer vorbestimmten Schublade seines Schreibtisches lagen jahrein-jahraus anisbestreute Chokoladeplätzchen, von denen Sonnabends um fünf (um sechs brachte Bodenstein von der Buchhandlung Schmorl die »neuen Journale« für das Wartezimmer), eine frische Düte aus der Chokoladefabrik Sprengel geschickt wurde. Das war »für die Kinder aus der Praxis«. Jedes Kind, das in seine Sprechstunde kam, erhielt zunächst »zwei Anisplätzchen von Sprengel«. An guten Tagen durften auch die eigenen Kinder jedes zwei Plätzchen fordern, doch mußte das nach streng vorgeschriebenem Zeremoniell geschehen. Wir setzten uns wartend in das Wartezimmer, wenn es leer geworden war. Öffnete er endlich die Türe und sagte »Rin in die Kabuse« oder »Ist da wer?« dann hatten wir nichts zu sagen als »Zwei hungrige Krähen«. Darauf erfolgte, falls er uns nicht hinauswarf, von seiner Seite der zustimmende Ruf: »Versammelt euch im Sturmschritt der Gefühle.« Worauf wir zu erwidern hatten: »Und wartet der Dinge, die da kommen werden.« Darauf wurden wir ins Allerheiligste, sein »Studierzimmer« eingelassen. Er ging zum Schreibtisch, öffnete die ersehnte, stets verschlossene Schublade und sagte: »Mund auf, Augen zu.« Wir mußten die Augen schließen und mit offenen Mäulchen uns vor ihn hinstellen. Er schob in jeden Mund zwei Plätzchen und sagte: »Verduftet.« Worauf wir abzugehn hatten, das eine Kind sprechend »Mit traurigen Schritten«, das andere mit den Worten: »Zu unsern heimatlichen Hütten«. Diese Reihenfolge der Geschehnisse stand ein für allemal fest. Ebenso regelmäßig erfolgte morgens beim Waschen der »Gorillentanz«. Wir mußten ihn umtanzen und dazu singen: »Gorillen waren im Wald. Da wars ihnen bitterlich kalt. Da tranken sie ein Glas Milch. Dideldum.«

Kam morgens der Kutscher Lambach mit dem rotgepolsterten Wagen, so erschien auf ein bestimmtes Klingelzeichen die bildhübsche Christiane, stellte sich gegen die schalldämpfende grüne Vortüre und fragte: »Was befehlen Herr Doktor?« Darauf antwortete er etwa so: »Tuchrock Nebukadnezar zwei. Stiefel Amanda Samarkand. Die ledernen Handschuhe Aron Werner, der Bandit.« Alle seine Sachen, nämlich Kleider, Stiefel, Handschuhe trugen Namen, welche die Mädchen auswendig zu lernen hatten. Meistens steckten hinter diesen Namengebungen seltsame Zu- und Abneigungen. Nannte er zum Beispiel die neuen Stiefel »Amanda Samarkand«, so dachte er dabei an eine Schauspielerin und ihre Rolle, die er dadurch ehren wollte, daß er nach ihr die neuen Stiefel nannte. Hießen die alten, schon abgetragenen Handschuhe »Aron Werner, der Bandit«, so wollte er dadurch Rache nehmen an einer Person, über die er sich geärgert hatte.

Abends vor Schlafengehen kam die Köchin Luise ins Studierzimmer und nahm Befehle in Empfang für den Küchenzettel des folgenden Tages. Das war der feierliche Augenblick, der wichtigste des Tages. Die Ausgabenbücher wurden vorgelegt. Es wurde Rechenschaft gegeben über die Vorräte an Reis, Gries, Kakao, Soda, Sago, Eiern und Butter, über Servietten, Handtücher, Staubtücher, Scheuertücher und Besen, über Messer, Löffel, Geschirr und Salzfässer. Kein Pfund Salz, kein Töpfchen mit Senf, keine Düte Pfeffer, keine Tasse und kein Linnentuch wurde angeschafft, ohne daß davon der Hausherr genau wissen mußte. Er überwachte täglich das gesamte Triebwerk des Hausbestandes. Vielleicht wäre ein so hoher Grad von Topfguckerei und Pütcherei nicht möglich gewesen, wenn meine Mutter eine gute Hausfrau, ja wenn sie überhaupt nur Hausfrau gewesen wäre. Aber sie war in ihren jüngeren Jahren maßlos gleichgültig und ergeben und ließ, mit Vergnügungen oder Kleidern beschäftigt, alles laufen wie es laufen wollte und auch gegen ihren Willen gelaufen wäre. – Wunderlich war meines Vaters Stellung zur Natur. Er war in hohem Maße von der Witterung abhängig. Bei feuchter Luft bedrückt, bei trockener heiter gestimmt. Wie alle seine Geschwister litt auch er unter Gewitterfurcht. Beim ersten Anblick des Hochgebirges wie beim ersten Anblick der Nordsee bekam er Erbrechen. Er litt viel an Schwindel und Platzangst. Das Herzleiden, das ihn, vierundfünfzig Jahre alt, hinraffte, war schon früher vorbereitet. Obwohl er Naturschönheit gern sah, ging er eigentlich nur in den Garten, aber kaum je vor die Stadt, freilich auch niemals in ein Café und gewiß niemals in eine Konditorei. Er fuhr unaufhörlich in Zylinder und Gehrock von Bürgerhaus zu Bürgerhaus. Abends ging er in seine geliebte Freimaurerloge »Zum schwarzen Bären« oder spielte Skat »bei Kasten«, seinem alten Stammlokal, das allmählich zur vornehmsten Gaststätte der Stadt geworden war.

Bei aller Unberechenbarkeit war er eine beharrende Natur. Weil er Jude war, wählte er »national-liberal«. Aber die konservative Partei wäre ihm angemessener gewesen. Freilich kamen auch Stunden, wo er revolutionär raunzte und quengelte, aber es wäre ihm doch nie beigekommen, etwa von einer »Diktatur des Proletariats« zu träumen. Niemals verließ er seine gewohnten Lieferanten und Handwerker.

Ich sehe alle diese Leute noch vor Augen. Sein Tischler Rahlwes, sein Tapezierer Gerster, sein Kunsthändler Rehse, sein Vergolder Pohle, sein Schneider Zehe, sein Kutscher Lambach, der Wäscher Perner, die Waschfrau Schelleken, die Nähterin Buchterkirchen, sein alter Diener Borchers, der bis zum Lebensende dreimal in der Woche kam, um die langen Pfeifen zu stopfen, sein Friseur, der fast hundertjährige Sehring, das waren die »Hausfaktota«, die ihn durch sein ganzes Leben begleiteten. Es waren vom Leben verbogene, verschrobene Käuze. Aber er ließ nie von andern Personen für sich arbeiten. Er trug lieber seine altfränkischen Tuchröcke, als daß ein anderer als der verdrehte alte Zehe für ihn schneidern durfte. Er ging lieber in derbgearbeiteten zu großen Schuhen, als daß ein anderer für ihn schustern durfte als der baumlange Riedel. »Schuster Riedel aus der Semmernstraße.« (Er behandelte ihn mit einer gewissen Hochachtung; mehrfach flüsterte er in mein erstauntes Knabenohr: »Er ist der von der Bank gefallene Sohn der Exzellenz von Arentschild.«) So hatte er um sich einen Hofstaat, den er bei Krankheiten verarztete. Sie dankten ihm mit rührender Anhänglichkeit. Für solche Zuneigung war er empfänglich und wie alle unkritischen Menschen durch kleine Liebeserweise leicht zu lenken. Nur machte er seiner Umgebung es recht schwer ihn zu lieben.

Es ist mein Vorsatz, auf diesen Seiten, von denen ich nicht weiß, ob sie je von anderen gelesen werden, so zu verfahren wie die Eidesformel der Gerichte es vorschreibt: »daß ich nur die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.« Darum muß ich auch von dem dunkelsten Schatten im Bilde meines Vaters sprechen, von seinem Verhältnis zu den Frauen, das sich erklärt aus einer starken, nur durch eine noch stärkere Eigenliebe gebändigten, rein genießerischen Sinnlichkeit; denn er gehörte zu den Männern, die weniger lieben als geliebt werden möchten. Er war ein herrischer und fordernder Erotiker, der nur von solchen Frauen angelockt wurde, um welche viele Männer sich bemühen und um deren Besitz man beneidet wird. Er war nie unsauber aber durchaus ein Materialist der Liebe, für welchen das Weib ein Mittel zum Genusse ist, freilich ein sehr teures und kostbares Genußmittel, aber doch nicht viel anders als der edelste Wein und die erlesenste Zigarre. Da er das Personal der Oper und des Balletts behandelte, so war jederzeit die begehrteste Theaterprinzessin seine Favoritin; aber auch sonst in seiner Praxis, da er vorwiegend Frauenarzt war, wechselten die erotischen Beziehungen, von denen er sagte »noli turbare circulos meos«, »Stört mir meine Kreise nicht«. Mir sind drei außereheliche Kinder von ihm bekannt gewesen. Als in einer Familie, die sich immer vergeblich ein Kind gewünscht hatte, endlich nach zwanzig Jahren das Kind erschien, äußerte er naiv: »Die Leute werden mir fürs ganze Leben dankbar sein« und setzte geheimnisvoll hinzu: »Ja, dein Vater ist ein guter Geburtshelfer.« Besondere Freude machte es ihm, daß ein Sohn, welcher von dieser Sohnschaft nicht wußte, mit seiner Beihilfe Theologie studierte und sich zu einem strenggläubigen Pastor entwickelte. Es war die Zeit, wo, nach dem Vorgang des Hofpredigers Adolf Stöcker, von der Kanzel herab viel gegen die Juden gewettert wurde. Wenn er von einem solchen Vorgange hörte, so pflegte er zu dem Erzähler unverständlicherweise zu sagen: »Ich wette, den hat ein Jude gemacht.« Ich erinnere mich einiger Gelegenheiten, bei denen er mit Stolz den Juden herauskehrte, aber im allgemeinen hat er sich um das Judentum so wenig gekümmert, wie um das Christentum. Er hat weder je einen Tempel noch je eine Kirche aufgesucht, und von der Geistlichkeit wollte er nichts wissen, obwohl er auch einige Geistliche zu Patienten hatte. Daß er seine Kinder an keinerlei jüdische Überlieferungen herantreten ließ, geschah wohl nur aus praktischen Erwägungen. Seiner Art nach hielt er alle geschichtliche Überlieferung für einen lästigen Krempel. Himmelweit entfernt von jeder religiösen oder mystischen Veranlagung, ein vollkommen sinnengläubiger und dinglicher Mensch, war er in seinem begrenzten Kreise ein kleiner Herrgott. Aus diesem seinen Erfahrungs- und Wahrnehmungskreise ließ er sich nie herauslocken. Denn jenseits seiner gewohnten Begriffe und Erlebnisse wurde er hilflos wie ein Kind. Dann zeigte sich als der tiefste Urgrund dieser ruhelosen Natur, wie bei allen Menschen, die große Angst.

Angst trieb ihn dazu, sich diese Wirklichkeit zu bauen, in der er herrschen und sich selber schätzen, ja überschätzen konnte. Denn alles was der Mensch Ding und Gegenstand, Welt und Menschheit, Gott und Universum nennt, das ist zuletzt doch nur sein Ich. Jenseits dieser Wirklichkeit des Ich warten Grauen und Schauder. Darum war sein Absterben entsetzlich schwer, als Stück um Stück ihm die vermeintliche Wirklichkeit dahinsank. Bis der Tod ihn erlöste, wütete er gegen den Tod. Wie ihm sein Leben mißlungen war, so mißlang sein Sterben.


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