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18. Befreiung

Dem Stillgewordenen, der nicht mehr gegen das Schicksal anrennt, sendet das Schicksal befreiende Helfer. Zwei Seelen sind in Hameln meine Helfer geworden.

In dem Lüderschen Parke, darin ich wohnte, stand ein Gartenhaus. Das war vermietet an eine arme Witwe, die in den drei Stuben wohnte mit ihrem Sohne Heinrich, einem Burschen in meinem Alter, der auf der Werft als Schiffsschlosser arbeitete. Diese Frau faßte für den melancholischen Schüler eine zarte Neigung. Oft legte sie kleine, tröstende Gaben auf meinen Arbeitstisch: die ersten Schneeglöckchen, eine Düte Kirschen, ein Stückchen Schokolade. Sie erwarb ihren Unterhalt mit Nähen und Plätten und kam in die Familien der Honoratioren. Und wohin sie kam, verkündete sie das Lob des fleißigen, fremden Schülers. Auch beim Schultyrannen, dem gefürchteten »Gelben« bügelte sie und warf ihm an den Kopf, einen braveren Primaner gäbe es nicht und wenn er den im Examen rasseln lasse, dann hätte sie die längste Zeit seine Kragen und Hemden gebügelt. Als im strengen Winter die langen Abende kamen, da brannte mein Arbeitslämpchen oft bis in die Nacht. Dann pochte gegen elf Mutter Schröder ans Gartenfenster. »Gehn Sie doch schlafen. Morgen früh können Sie fertig arbeiten.« Dann schlief ich beruhigt ein. Morgens gegen fünf klopfte es abermals an die Scheiben. Dann sprang ich aus den Federn, zerschlug die Eiskruste über meiner Waschschüssel, wusch mich, schlüpfte in die Kleider, sprang durch das niedrige Fenster in den weißen Park und klomm im Gartenhaus die Holzstiege hinan zu Frau Schröders blitzend saubren Stuben. Da brannte schon das Holz im Kachelofen und nebenan schlief Heinrich. Die Mutter kochte für beide Jungen Kaffee. Immer schlug sie in meine Tasse ein Ei. »Für Sie ist das nötig. Sie sind schwächer als Heinrich.« Ich begann nun zu büffeln, zu ochsen, alles nicht Gelernte nachzuholen. Sie saß dabei mit ihrer Flickarbeit. Gegen sieben begleitete ich dann Heinrich zur Weser hinunter.

Diese Stube wurde mir zur Heimat, so sehr, daß in späteren Jahren ich oft Heimweh gespürt habe nach diesem einfältigen Idyll, denn die zarte blonde Frau war schwindsüchtig und starb schon bald nach meinem Abgang zur Universität. Dreißig Jahre später habe ich ihren versunkenen Grabstein unter den Armengräbern aufgefunden. Sie hieß Sibylle Schröder und kam aus Düren im Rheinland.

Der zweite, der mir half, war Max Schneidewin, der bedeutendste meiner Lehrer. Er entstammte einer alten Göttinger Professorenfamilie. Schon Vater und Großvater waren große Gräzisten gewesen, und seine eigene Gelehrsamkeit – er sprach die alten Sprachen besser als die Muttersprache – hätte ihn zur Zierde jeder Universität gemacht. Aber ein eigentümliches Ungeschick hatte ihn altern lassen in einem Beruf, zu dem er nicht paßte.

Es geschah zum ersten Male, daß ein Mensch mir begegnete, der nicht als Lehrer mich meistern wollte, was sofort eine Gegenwehr rege machte, sondern als ein Märtyrer seiner Geistigkeit bei mir Schutz suchte vor der Gemeinheit des Lebens, darunter er so tief litt wie ich selbst.

In Max Schneidewin glühte ein großes geistiges Leben. Er war der nahe Freund Eduard von Hartmanns, des damals mächtigsten deutschen Philosophen. Er war auch nah befreundet mit Eduard Griesebach, dem Herausgeber von Schopenhauers Werken, mit dem edlen Dichter Albert Moser und mit dem Sozialreformer Bernhard Förster, dem Schwager Friedrich Nietzsches. Nur durch seine schwermütige Ungeschicklichkeit war Schneidewin als Oberlehrer in der kleinen Weserstadt hängen geblieben, wo er unter einer derben Jugend und unter Kollegen vom Philister- oder Beamtentyp eine altfränkische Figur machte, wie aus einem Romane Jean Pauls, trotz aller stupenden Gelehrsamkeit unfähig, sich durchzusetzen gegenüber jungen Flegeln, die mit seiner weltfremden Herzensgüte Schabernack trieben und für die eherne Zucht beim grimmen Dörries sich schadlos hielten in den allzu hochgeistigen Stunden des allzu gutherzigen Schneidewin. Denn Befehlen und Befehligtwerden ist das tiefste Bedürfnis der meisten Menschen, und zumal die Jugend will feste und starke Hände. Sie liebt auch den strengsten Führer, wenn er nur leidlich gerecht ist, aber martert den schwachen Mann und wenn er auch nichts wäre als Liebe. Max aber war ein reines Kind. Er hatte viele bedeutende Bücher geschrieben, ohne je Erfolg zu erringen. Er war ängstlich und leicht einzuschüchtern. Und was ahnten alle die gradlinigen Banausen von der geheimnisvollen Welt, in der er daheim war?

Der gequälte Mann flüchtete in die schönere Welt der Träume. Wenn ihn ein geistiges Thema packte, so wußte er kaum noch, was um ihn vorging. Wedemeyer präparierte Zündhütchen. Christian Ahrens hatte einen kleinen Konvexspiegel, dessen Reflexe er ungemerkt über Maxens immer gerötete Nase tanzen ließ. Behre hatte Eiszapfen an die Decke gebackt. Sie hingen gerade über Maxens Stuhl, und alle warteten gespannt auf den Augenblick, wo sie tauen und der erste Tropfen auf Maxens Buch tröpfeln werde. Der aber, versunken in ein metaphysisches Thema, zitierte gerade seinen Lieblingsspruch aus Pindar: »Der Mensch ist eines Schattens Traum, aber wenn von oben der gottentsendete Strahl fällt, dann wird uns Menschen zuteil goldenes Licht und hold ist das Leben.« Dabei straffte sich die gebeugte Gestalt. Seine traurigen, ängstlichen Augen glühten überirdisch. Seine Seele war ganz Geisteswürde. Bums! Da tröpfelte von oben auf ihn das eisige Wasser. Er versuchte aufzuspringen, aber die langen Schöße seines sauberen braunen Rockes klebten am Stuhl. Die Jungen hatten Leim auf den Stuhl gestrichen, damit sein Hinterer festklebe. In solchen Lagen machte der unglückliche Lehrer den schlimmsten Fehler, den ein Vorgesetzter machen kann. Mit schmerzzuckenden Lippen begann er die Klasse zu beschwören. Im Namen Imanuel Kants, im Gedächtnis an Schopenhauer, namens der Würde deutscher Kultur beschwor er sie, sie möchten sich nicht am Genius versündigen, möchten sein geistiges Werk nicht zerstören, nicht sein grübelndes Gehirn beschädigen. Die Jungens grinsten und feixten. Ganz schlimm aber wurde ihr Juchhe, als die energische, kluge Frau Schneidewin einen Brief an den Primus der Anstalt richtete und ihn beschwor, ihren Mann in Schutz zu nehmen und auf die rohen Gemüter der Kameraden einzuwirken. Zu allgemeinem Triumph wurde der Brief immer wieder vorgelesen und verulkt. Um dieselbe Zeit ließ der Bedauernswerte versehentlich eine Notiz im Schulzimmer liegen. Die Bengels, die darin blätterten, entdeckten Verse, welche Max auf seinen jüngst geborenen Knaben gemacht hatte, den kleinen Karl, den er auf altgriechisch Thalle (Blüte) nannte.

»Er ist meine Wonne der Knabe,
Es ist mein Alles das Kind,
Die Augen sind zwei Kristalle
Das goldene Haar ist wie Flachs,
Das ist mein reizender Thalle
Und ich bin sein Vater, der Max.«

Seither erscholl oft mitten aus dem Unterricht der Ruf: »Max, wie geht es Thalle?« Berkemeier hatte die Gabe, Max durch starkes Anblicken zu lähmen, wie die Schlange das Kaninchen lähmt. Niemals wurden diese Frechheiten gestraft. Wendete sich der Hilflose an den Direktor, dann erlebte er seine schlimmste Demütigung. Denn »der Gelbe«, immer neidisch auf Maxens überlegene Geistigkeit, bewies und schmeichelte sich gern, daß er selber der bessere Pädagoge sei, und da er wie alle tyrannischen Naturen eigentlich geliebt werden wollte, so stand er, wenn es nicht um seine eigene Autorität ging, auf Seiten der Schüler und gab den schwachen Mann ruhig der grausamen Jugend preis.

Von der ersten Stunde an (wir lasen Ciceros »De divinatione«) bestand zwischen Max und mir ein Bündnis. Wir fühlten, daß wir beide zartere Singvögel seien, verschlagen unter eine Schar vergnügter Spatzen. Ich war zugleich sein schlechtester und geliebtester Schüler. Aber sein Vertrauen schuf nichts als Verlegenheit. Was konnte er mir nützen, und wie nützte ich ihm? Ich gewann ihn täglich lieber. Ich liebte ihn, wie eine Mutter ihr verkrüppeltes Kind liebt. Ja, ich verehrte, vergötterte ihn, und litt doch zugleich unter einer eigentümlichen Scham, wenn seiner hilflosen Lächerlichkeit ein Spott angeschah, als geschähe das alles an mir selbst. Ich boxte und prügelte mich um seinetwillen. Aber die Klasse war sehr empfindlich gegen »Streberei«. Daß ich bei den Späßen gegen Max nie mitmachte, betrachteten die Primaner als Mangel an Korpsgeist. Und das wurde gerächt mit vielen kleinen Bosheiten. Der eine zog mir den Stuhl unterm Podex fort, damit ich zu Fall komme; andere duckten beim Baden mich unter Wasser, und einmal, bei einer Bootsfahrt wurde ich aus dem Boote ausgesetzt. Aber es gehört zum Wesen einer solchen Liebe, daß sie um so fanatischer wird, je mehr Opfer gebracht werden müssen. Ich übertrug meine Schwärmerei bald auf sein ganzes Haus. Auf Wilhelm und Karl, und die kleine Bavy, die im Kinderwagen die Ärmchen ausstreckte, wenn ich mit dem Möpschen vorüberkam. Immer träumte ich davon, daß in der Schule Feuer ausbrechen möge. Dann würde ich Max Schneidewin auf meine Schultern nehmen und ihn als einzigen aus den Flammen retten. Sprach er aber außerhalb der Schule mich an, so wurde ich trunken vor Freude wie nach einem starken Wein.

Eines Morgens rief Schneidewin mich auf den Korridor hinaus und gab mir einige Schriftstücke, mit der Bitte, sie für ihn abzuschreiben. Es handelt sich um eine philosophische Rundfrage. Mehrere Freunde, Eduard und Alma von Hartmann, Arthur Drews, Julius Bahnsen, Olga Plümacher, Hedwig Bender, alles Philosophen und Philosophinnen, hatten vereinbart, unabhängig von einander, ihre Antworten auf drei philosophische Fragen niederzuschreiben. Die Frage nach dem Dasein und Wesen Gottes; nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Fortdauer der Person und nach dem Sinn und Ziel des Lebens. Ich schrieb die Bekenntnisse ab und legte, als ich sie an Schneidewin zurückgab, meine eigene Antwort hinzu. Am folgenden Tage holte Schneidewin mich wieder aus dem Schulzimmer. »Was soll das bedeuten? Woher haben Sie dies abgeschrieben?« – »Ich habe nicht abgeschrieben.« – »Soll ich glauben, daß Sie das aus sich selber haben?« – »Es sind meine eigenen Gedanken.« – »Kennen Sie Lotze?« – »Ich habe nichts von Lotze gelesen.« – »Die Begriffe, die Sie anwenden, dürften von Fichte sein.« – »Ich habe von Fichte nichts gelesen.« – »Besuchen Sie mich am Sonntagmorgen auf meinem Zimmer.«

Als ich freudezitternden Herzens zum ersten Male das kleine Bücherzimmer betrat, darin ich später durch vierzig Jahre so oft bei ihm gesessen habe, da hatte ich den Kopf voll von tausend Ideen und die Taschen voll von tausend Notizen. Vor allem: Ludwig Klages! Den müßte Schneidewin kennen lernen. Er müßte das Glück miterleben, welch Genie für Deutschland in Klages heranwuchs. Aber Schneidewin steckte zu tief in Hartmanns Metaphysik, deren wasserklare Nüchternheit mich abstieß. Dagegen wurde es mir zu lebenslangem Gewinn, daß schon bei diesem ersten Besuche Max Schneidewin mir eine Schrift von Schopenhauer mitgab, die ich als Erstes lesen solle: »Von dem was einer hat. Von dem was einer vorstellt. Von dem was einer ist.« Von Stund ab war ich Schopenhauerianer, und das bin ich immer geblieben.

Ein wahres Wunder geschah. Was war mir bis dahin das hellenische Altertum gewesen? Eine Quälerei, dank deren die Jugend »Berechtigungen« absitzen kann. Jetzt sprach zu mir eine Seele, für welche die große Welt der Vergangenheit Blut war und Atemluft. Und Jahre der Arbeit kamen – nachdem ich längst Mediziner und Naturwissenschaftler geworden war -, wo es mir Erholung wurde, an jedem Abend einige Seiten Homer oder eine Horazode im Urtext zu lesen. Diese Wandlung kam durch Max Schneidewin.

Nachmittags nach vier (wir hatten damals noch Nachmittagsunterricht und schrieben und sprachen noch viel Latein), machte ich mit Margo den einstündigen Spaziergang. Immer denselben Weg. Über Dreyers Berggarten bis zum Klütturm. Immer wußte ich es abzupassen, daß uns Max Schneidewin begegnete. Er saß am Waldrand auf der Bank am Philosophenwege. Oft rief er mich an: »Quo ambulas, amice. Philosophiae semper animo vaco.« Seine Reden waren scholastisch oder theologisch. Und das Alpha und Omega: Eduard von Hartmann. Eine Stunde zuvor war ich nichts gewesen als Schüler unter Schülern. Aber im Gespräche kam es vor, daß ich der Führende wurde. Indessen bestanden sichere Grenzen, jenseits deren wir uns nicht verstanden, denn gerade darum, weil er aus mir einen Jünger der Hartmannschen Philosophie machen wollte, kehrte sich all mein Denken wider eine Metaphysik, »zur Hälfte evolutionistisch, zur andern Hälfte maßvoll mystisch«. Die logischen Zerleger, die Begriffsmathematiker, das waren meine Feinde. Ich war »philosophus- poeta«. Auch unsere Naturen klangen wider einander. Er war loyal und nicht ohne Servilitäten. Er bewunderte das Preußentum und den Militarismus, widmete eine Schrift dem reaktionären Reichskanzler von Caprivi, forderte die Selbstauflösung der Juden, verwarf den Sozialismus. Er war ein so ergebener Staatsbürger, daß, als die Besteuerung seiner kleinen Alterspension ihm zu milde erschien, er nach langem Gewissenskampfe auf die Behörde ging, um anzuzeigen, daß er nicht gemäß dem Gesetz genügend geschröpft werde. Ich aber fühlte revolutionär, fühlte immer in der Fronde. Mein Haß galt dem »Bürger«. Meine ganze Liebe dem beladenen Volk. Dennoch erblühte eine Freundschaft, die durch vierzig Jahre über alle Wechselfälle des Schicksals unser Leben durchdauert hat. Ich konnte lehren und handeln wie immer, Max Schneidewin besaß ein so tiefes menschliches Vertrauen zur Wahrhaftigkeit meiner Natur, daß er zu mir hielt, auch wenn wir politisch und philosophisch weit auseinander gingen.

Als er achtzig Jahre alt wurde, kamen seine alten Schüler, selbst schon alternde Männer, noch einmal in dem geliebten Hameln zusammen. Ich hielt die Festrede, und er bot an jenem Tage mir das brüderliche Du. Als in Deutschland das barbarische Zeitalter des Faschismus zu dämmern begann und ich Ächtung erfuhr infolge eines Aufsatzes, der gegen die Wahl des Generalfeldmarschalls Hindenburg zum deutschen Reichspräsidenten Front machte, da lieferte der alte Mann aus seinem guten Herzen heraus einen wunderlichen Beweis seiner Freundschaft. Er schrieb eine rührende Verteidigungsschrift: meine Politik zwar sei nicht zu billigen, aber ich wolle gewiß das Beste, und so möge man mich gewähren lassen. Das ließ er auf eigene Kosten drucken und sendete es an die Zeitungen. In den letzten Jahren seines Lebens fuhr ich alle paar Monate von Hannover nach Hameln zu ihm. Die große Sehnsucht seines Lebens war gewesen, sein geliebtes Hellas zu besuchen. Aber er war zu arm, um diesen Wunsch sich erfüllen zu können. Oft sprachen wir von Athen, Eleusis, Delphi. »Kommst du je dahin, denk an mich.« Grade als ich im Begriff stand, zum ersten Male nach Griechenland zu fahren, starb er im sechsundachtzigsten Lebensjahre. Wenige Tage nach der Beerdigung trat ich die Reise an. Als ich in Delphi stand, vor den Resten des Apollotempels, weilten dort die athenischen Studenten der Philologie mit ihrem alten Professor Lorenzatos, und jeder von ihnen trat in das Tempelrund und sagte einen Spruch zu Ehren des Gottes; da trat auch ich in das Rund, nannte den Namen Max Schneidewin und sprach sein Lieblingswort: »Der Mensch ist eines Schattens Traum. Aber wenn von oben der gottentsendete Strahl fällt, dann wird uns Menschen zuteil goldenes Licht, und hold ist das Leben.«

Die Jahre der Zucht hätten nicht zu so gutem Ende geführt, wenn nicht ein Ereignis gekommen wäre, das meine Stellung auf dem Gymnasium von Grund auf änderte.

Es war damals üblich, daß am 2. September, dem Gedenktage der Schlacht bei Sedan die Jugend mit Eltern und Honoratioren in die Weserberge hinauszog zu einem Platz, der, wenn ich mich recht erinnere, »Kaltes Thal« genannt war. Dort wurde der Holzstoß angezündet, »Deutschland, Deutschland über alles« gesungen, und der Primus des Gymnasiums hielt die Festrede. Nun war ich zwar nicht der Primus, aber dieser (er hieß Bockhorn und wurde nachmals ein redegewaltiger Pastor) hatte einen Zungenfehler, und so wagte man mit mir einen Versuch, als mit dem im Reden geschicktesten. Ich war aber, unter dem Einfluß meiner Meister Jordan und Scherr, so leidenschaftlich deutschgesinnt, daß ich bei dieser Rede nur zu sagen brauchte, was ich glaubte. Ich verwob in die Ansprache eigene und fremde Verse und endete mit dem Gelübde namens der Jugend, rein und treu für das Vaterland leben und, wenn es nottäte, sterben zu wollen. Das war echtes, warmes Gefühl; darum mußte es zünden. Vor mir standen die Lehrer, die Vertreter der Behörden und der Direktor, die Augen forschend auf mich gerichtet. Als ich schloß und das Deutschlandlied intoniert wurde, trat der Gefürchtete auf mich zu, umarmte mich und sagte: »Sie sind ein braver Junge.« Und von da ab hatte ich an ihm einen Beschützer. Sogar gegen Grahn und das Elternhaus. Es war erstaunlich. Alles änderte sich. Ich hatte als Schandfleck des Gymnasiums gegolten und wuchs nun in die Rolle des Vorzugsschülers. Leider aber hatte ich nun begriffen, daß die hohen Gefühle, aus denen ich lebte, sich auch vorteilhaft vernutzen ließen. Von da ab schloß ich jeden deutschen Aufsatz, ganz gleich wie das Thema lautete, mit einer Floskel von etwa der folgenden Art: »Und dann kam der herrliche Tag, wo unser geliebter Heldengreis, im Kreise seiner Paladine über Frankreichs gedemütigte Felder ritt.« Nun war ich kein Fremdling mehr. Sie bestätigten mich, denn sie fühlten sich selber bestätigt.

Da mir nun aber ein Wohlwollen entgegenkam so wurde ich künftig lenksamer, oder wie der bürgerliche Jargon sagt, »endlich vernünftig«. Auch die Zukunftspläne gewannen festere Form. Der Vater wünschte, daß ich Medizin studiere; er wußte warum; er konnte mir keinen Pfennig Geld hinterlassen, wohl aber eine mächtige Praxis. Ich gewöhnte mich also an den Gedanken; ja, begann bereits in meinem kleinen Kreise den hilfreichen Doktor zu mimen.

Das erste Opfer dieser Vorversuche wurde die alte Lüder. Die alte Hexe lebte in beständiger Flucht vor eingebildeten Krankheiten. So oft sie klagte (und sie klagte mit Genuß), befühlte ich ihren Puls, beklopfte ihren Rücken und bat sie, die Zunge zu zeigen, während Meyerholz, Heimburg und Knigge danebenstanden und sich freuten. Wir spielten ihr denselben Streich, den viele böse Buben ihren Pensionsmüttern zu spielen pflegten. Wir schütteten eine unsichtbare Schicht Brausepulver in das Nachtgeschirr und wenn sie klagte und sich beklopfen ließ, so machte ich ein ernstes Gesicht und murmelte: »Die Nieren, die Nieren.« Und richtig, eines Morgens erschien sie verängstigt beim Frühstück, ja, sie glaube an Zischniere zu leiden. Ich aber murmelte: »Vertrauen Sie auf Gott und mich; Sie brauchen nur etwas Schwefelwasserstoff einzuatmen und das pathologische Phänomen verschwindet.« Sie unterzog sich denn auch dieser widerwärtigen Kur, während wir glückselig danebenstanden und ihr zusahen. – Sie hatte nur wenige gelbe Zahnstumpen im Munde. Eines Morgens – wir standen gerade im Begriff in die Ferien zu reisen – kam sie aufgeregt, sie habe im Schlaf einen Zahn verschluckt. Ich holte eine Düte Kalomel, und als wir aus den Ferien heimkamen, war unsere erste Frage: »Hat die Medizin geholfen?« – »Ja«, sagte die Alte, »da sitzt er wieder.«

Inniger und enger verwuchs ich dem grünen Nest. Mit seines Stromes Wehr und fröhlicher Welle. Mit seines Ohrbergs wildumbuschtem Geklüft. Mit den alten Mären vom Rattenfänger, der die Kinder in den Berg lockt. Mit Hochzeitshaus und Münster. Wir besuchten Emmertal und Bodenwerder. Wir ruderten auf der Weser, falls wir nicht vorzogen, an den Sonntagen in Pyrmont flotte Herren zu spielen.

Die Lachsfischerboote, die Dampfer von Bremen, der Fernzug nach Aachen, einmal am Nachmittag; der Teergeruch bei der Soldatenschwimmanstalt, die Villenstraße den Felsenkeller lang, der Finkenborn, tief im Walde mit den blonden Töchtern Förster Leeges, dann die Stadtoriginale: der Doktor Finnefroh mit seinem grauen Zylinder, der alte Konsul Schläger, »die letzte Säule des Freisinns«, Forke, der Mathematiker, »der eigentlich ein Lineal hatte werden wollen«; allmorgendlich für fünf Pfennig zwei herrliche Frühstückshörnchen bei Bäcker Lemcke, ja! das Leben hatte viele Freuden. Und nun kamen auch Freundschaften.

Da war ein Bruder in Apoll: Hans Henning. Sohn eines Wachtmeisters, gottbegnadet, zubenannt »die Quellwurst«, weil seine Verse quollen, sobald man ihn anstach. Hamelns Stadtpoet, der alte Christian Rüdiger, hatte ihn neidlos in Hexametern begrüßt: »Heil Hans Henning, Du Liebling der Muse, den sie geküßt hat.« Henning war befreundet mit den Dichtern Julius Wolf und Friedrich Spielhagen und brachte es im Leben zu hohen Würden. Dann: Christian Ahrens, mutiger Freund! Er ließ sich im leichten Kanoe das große Wehr hinuntertreiben und tauchte schadlos empor aus dem riesigen Wasserstrudel. Er wurde Leutnant der deutschen Schutztruppe und starb in Afrika vom Pfeilschuß eines Herero. Dunkel war die Sache mit dem jungen Perchland. Mit diesem Mitschüler hatte ich wenig Verkehr, aber eines abends lud er mich ein zum Spaziergang an der Weser. Wir orakelten über Gott und Tod. Sein Reden war feierlich. Am nächsten Morgen fehlte er in der Schule. Dann fand man den Leichnam auf dem Bahndamm. Es blieb unaufgeklärt, ob Selbstmord vorlag oder Unglücksfall ... Ach, unsere Tänze und Pfänderspiele! Die Tanznacht Himmelfahrt 1891 auf der Paschenburg, als wir Arm in Arm den Waldhang hinunterliefen, trunken von Jugend; das schöne Mädchen hieß Adele Glaser aus Braunschweig. Nahe beim Mühlentor war das Töchterheim der alten Clazius. Dort waren »die höheren Töchter von auswärts« und ich bevorzugter Gast. Wir lasen »Faust« und »Don Carlos«. Wir schwärmten für einander harmlos. Die »höheren Töchter der Stadt« gingen in das »Riefkohlsche Institut«, kurz »Gestüt« genannt. Die größeren guckten schon nach den Leutnants, die jüngeren aber schwärmten für unsere roten Primanermützen, das Töchterlein vom Buchhändler Brecht und die Schwester unseres Mitschülers Gauß, Enkel des großen Mathematikers. Davon kündet das Lied:

»Die kleine Gauß, die kleine Brecht, die sind am Ende auch nicht schlecht,
Die kleine Brecht, die kleine Gauß machen am Ende auch was aus.«

Winters schlichen wir verbotenerweise auf den Tanzboden bei Engelke und tanzten mit Dienst- und Ladenmädeln. Mehlis brachte uns die Hausschlüssel:

»Knigge tanzt bei Engelken, bring ihm dies mein Bengelken
Diesen Schlüssel bring ihm und von dannen wink ihm,
Mehlis aber zitternd spricht: »Merkts auch Euro Alte nicht?«

Winters gabs schöne Konzerte. Herr Oppenheim, Musikalienhändler und die schöne Frau Silberberg waren die Mäzene der Kunst. Dann der Amtsrichter Mühry mit seinem berühmten Bariton. Einmal kam Lilian Sanderson. Wir führten sie zum Klüt hinan. Als die Lichter unten im Tale glommen, sang sie Dingelstedts Weserlied: »Hier hab ich so manches liebe Mal mit meiner Laute gesessen.« Ein Sonett in den »Lauten und leisen Liedern« bewahrt die Erinnerung an diesen Abend:

»Traum ist das Denken, nur das Lied ist Klarheit.
Die Wahrheit ringt mit Gott Gedankenschlachten,
Das Lied hat innig sich in Gott geschlungen.
Wenn Weise uns die Gottheit ringend dachten
Du tatest mehr: Du hast sie laut gesungen.«

An der Stelle wo sie sang, steht heute ein Gedenkstein.

In den Osterferien 1892 war ich in Düsseldorf beim Großvater. Damals verliebte ich mich in eine junge Sängerin, die ich bei Stägemann, dem Theaterdirektor, kennenlernte. Sie hieß Thessa Gradl. Ich kaufte einen ungeheuren Lorbeerkranz und verfaßte ein ungeheures Gedicht. Es begann äußerst düster:

»Holder Mädchenfalter gaukle, froh im Sonnenstrahle nippe
An den Rosen, die bedecken ein vermorschendes Gerippe.«

und es endete gewaltig vielversprechend:

»Hörst dereinst auf Deinen Bahnen oft noch meinen Namen nennen
Mög ein leiser Hauch Dich mahnen, daß wir uns schon lange kennen.«

Das ließ ich auf die Bühne werfen, als sie den Ariel in Glucks Orpheus sang. Dabei lag ein Zettel: »Möchte Fräulein Gradl wohl ihr Bild senden unter L 225 Hauptpostlagernd.« Sie tat es, und das Bild stand Jahre lang auf meinem Arbeitstisch, gelehnt an einen Totenkopf.

Die Juliferien über blieb ich in Hameln bei Förster Leege auf dem Finkenborn, um fürs Examen zu büffeln. Am 10. September 1892 bestand ichs. Es war eine Farce. Alle halfen. Alle schmierten mir die Antworten in den Mund. Vierzehn Jahre lang hatte ich verzweifelt die Bänke gedrückt. Und nachdem man vierzehn Jahre lang mir alle Phantasien ausgeprügelt und alles selbständige Denken bestraft hatte, sahen sie nun in mir einen »hoffnungsvollen jungen Dichter«. Aber so viel Wohlwollen ich auch erntete, die schönste Stunde meines Lebens war doch die, als ich die ausgetretenen Stufen des Gymnasiums herabstieg mit dem Wissen:

»Endlich sprang der Riegel, endlich bin ich frei
Und zu Ende ging die große Schinderei.«

Nur eine Stunde kann an Schönheit dieser einzigen gleichen: jene, wo ich die Schule des Lebens absolviert habe und das Reifezeugnis empfange »zu neuen Sphären reinerer Tätigkeit«.


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