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Vorrede

Am Ende eines Lebens, das manche Länder gesehn, viel Menschliches durchdacht und viele Nöte, innere wie äußere, bestanden hat, am Ende eines tätigen Lebens, mit Narben bedeckt, wie kaum ein zweites, am Ende eines bewährten, erprobten Lebens also, darf ich schwerlich mehr erwarten, daß die Herausgabe von »Denkwürdigkeiten« am persönlichen Schicksal ihres Verfassers oder an den Vorurteilen der Mitwelt etwas ändern werde. Außer daß man vielleicht, mehr als schon zuvor, geneigt sein wird, einen unbequemen Zeitgenossen totzuschweigen und seine Schriften vorsichtiger zu tadeln, unverbindlicher zu loben, falls Lob und Tadel eben unvermeidlich würden.

Aber die Blätter dieses Buches sind nicht für Mitlebende und nicht in Hinblick auf die Gegenwart geschrieben worden. Sondern, wenn ich beim Schreiben je an Leser gedacht habe, so dachte ich an ferne Enkel und Urenkel oder an einen kleinen Kreis von Eingeweihten und Kennern. Wenig aber bekümmerte mich die sogenannte Weltgeschichte, dieser Totentanz der Machtwechselzufälle, dieser Ozean von Blut, Galle, Schweiß und Tränen und am wenigsten die unergründliche Dummheit der deutschen Zeitereignisse, von welchen ich so viele lehrreiche Proben miterlebt und vor Augen gehabt habe: Einen Bildersaal voll von Betrügern und Betrogenen, geltenden Strohpuppen, brüllenden Bullen, hohlen Nichtswissern. Überspannte unmenschliche Gesichter, die an mir, wie einst an den meinem Wege voranschreitenden Meistern, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, keine Vaterlandsschwärmer erzogen haben; haben wir uns doch zu oft schämen müssen, Deutsche zu sein.

Ich warf eine einsame Flaschenpost in das unermeßliche Dunkel. Und selbst wenn sie nicht diejenigen Seelen erreicht haben sollte, für welche sie bestimmt gewesen ist, so darf ich wenigstens mit dem Spruche mich getrösten, den ich meiner Jugend der geliebteste Lehrer mir auf den Weg gab:

»Was du dir selber in dir selbst gewesen,
Das hat kein Buch gesagt, kein Freund gelesen.«

Indes auch dann, wenn mein Glaube ein Wahn gewesen sein sollte, der Glaube, daß in hundert Jahren eine neue Jugend auf meinen Spuren wandern und meine Schriften suchen wird, ja wenn meine gesamte geistige Nachlassenschaft spurlos dahinschwinden sollte (»Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« – »Untergang der Erde am Geist« – »Wertaxiomatik« – »Philosophie als Tat« – »Naturtrilogie«) – nun! so wird das hier vorliegende Buch zum mindesten fortdauern als eine einzigartige Geschichtsquelle für das Leben erfolgreicherer Zeitgenossen: für die Frühzeit von Stefan George, Max Scheler, Georg Simmel, vor allem aber für den Werdegang von Ludwig Klages, dessen Jugendgeschichte ich mitschreiben mußte, wenn ich die meine schreiben wollte.

Wer je den Versuch gemacht hat, die wichtigsten Ereignisse seiner Tage zu Papier zu bringen, der muß mit Verwunderung entdecken, wie ungewiß, ja wie zweifelhaft alle Historik und Biographik ist, die nicht nur das Vergangene nach Lagen und Zuständen aus den Grüften hervorruft, sondern auch verwehte Worte neu tönen macht, ja sogar zu wissen scheint, ob zu jenen Worten von einst der Mond leuchtete oder die Sonne, ob die Amsel sang und welcher Wind die Rosenhecken durchwühlte; indes doch schon die einfache Selbstbeobachtung klar zeigt, daß wo immer wir erleiden und erleben, wir überhaupt nicht von Umwelt und Begleitumständen wissen, daß aber, indem wir beobachten und Wahrnehmungen feststellen, wir schon aus dem Element des Erlebens herausgetreten sind, weil ein Ergriffener nicht begreift und weil niemand zugleich sein kann die Harfe, darauf die Natur spielt und der Künstler, der die Harfe meistert. Ich habe diese Denkwürdigkeiten im Laufe von zwanzig Jahren (1912 bis 1932) dreimal vollständig neu geschrieben. Und habe dreimal sie vernichtet, immer in dem selben selbstquälerischen Zweifel, nicht unpersönlich, nicht redlich genug verfahren zu können. Sondern entweder übertreibend oder verschönernd oder zu verbittert oder zu eitel, zu feige, zu rachsüchtig, zu herzensträge, zu befangen ins Allzumenschliche. Ich habe immer wieder gezweifelt, ob ein Mensch je über sich selber klar und wahr, ja ob er auch nur wahrhaftig zu denken vermag. Denn die schönsten der uns bekannten Eigenlebensgeschichten, die des Plato, Xenophon, Augustinus, Dantes Vita Nuova, Goethes Wahrheit und Dichtung, Nietzsches Ecce Homo, Hebbels Tagebücher, Rousseaus Konfessionen, die Geständnisse August Strindbergs, Leo Trotzkis »Mein Leben« –, sind sie nicht allesamt Schöpfungen eines Mythos? Ja, wenn ich wirklich, wie es in der Gegenwart beliebt ist, schonungslos mich selber entblößen könnte, wäre das von Wert für mich oder für irgendwen? Ist es nicht wichtiger, Leben zu dichten als zu beichten?

Es war aber nicht nur die Scheu vor Selbstpreisgabe, was mich jahrelang schwanken ließ, ob ich recht daran täte, die allzu nahen Erinnerungen ganz oder teilweise fremden Blicken preiszugeben. Nein! Eine lästigere Zweifelsfrage war die folgende.

Hat der Schriftsteller das Recht, Herzen und Taten jener Personen zu entblößen, die seinem Leben schicksalsmäßig verbunden waren? Darf er in ein fremdes Bereich eingreifen, wo er unmöglich mehr gerecht sein kann?

Aber just dieses schmerzlichste aller Bedenken wurde entscheidend, ja wurde allein entscheidend für den Vorsatz, diese Blätter zu veröffentlichen. Schrecklicher nämlich konnte keine Vorstellung quälen, wie die folgende:

»Hier ist ein Schriftsteller, der nie einen Satz anonym veröffentlicht hat, keinen je, den er nicht Auge in Auge, Mensch zu Mensch voll zu vertreten den Wunsch und Willen hatte. Und nun nach seinem Tode erscheinen ›Erinnerungen‹ und erregen den Verdacht: dieser Mann will, nachdem er vom Schauplatz des Lebens abgetreten ist, doch noch Recht behalten, Schlappen schönfärben, Irrwege rechtfertigen, hat vor der Nachwelt sorgsam Staat gemacht, hat aus dem Grabe sich an denen gerächt, die ihn einst gequält oder verunrechtet haben.« – Nein! Ich will Gerichtstag halten über mich und ehrlich meine Überzeugung vertreten, so lange ich das noch kann. Will den natürlichen Rückschlag des Lebens leiden, so lange ich das noch muß.

Das erste Buch, welches der Zwanzigjährige 1892 in die Welt sandte, begann mit einigen kindlichen Versen, die ich an dieser Stelle noch einmal wiederholen will.

»Mein Deutschland, ob ich dich liebe,
Die Worte sagen es nicht.
Ersieh's an meinem Liede,
Am glühenden Zorngedicht.

Ersieh's an meinen Witzen,
Wahrhaftig, die Witze sind gut,
Du lachst, du kannst es nicht ahnen:
Ich schrieb mit Lebensblut.

Du bist mir Vater, Mutter,
In dir nur wurzelt mein Sein,
Wärs mir nicht so ernst, hochheilig,
Es könnte so schmerzlich nicht sein.

Denn meines Hassens Pfeile
Und meiner Liebe Schaft,
Beflügelt ein einziger Glaube:
Der Glaube an deine Kraft.

Bluternst ist in meiner Seele
Die Flamme der Muse entbrannt.
O mein Deutschland, heiliges Deutschland,
Ich liebe dich, Heimatland.«

Viele Enttäuschung mußte erlitten werden, ehe diese einfache Liebe erschüttert wurde und Platz machte dem mich heute ganz erfüllenden Ekel vor deutscher Geistigkeit und ihren Führern. Immer schwerer wurde die Last auf den Flügeln; immer seltener der freie Flug. Für die schönen Traumeinblendungen unsrer Jugend tauschten wir ein graues Wissen um graue Wirklichkeit. Für das Traumgold der Phantasie die harten Groschen der Erfahrung. Das letzte Ergebnis aber blieb wie das erste: Alle Worte, Werte und Werke der Menschheit sind wie der Geist selber: Lebenswunde und -genesung in eins. Die Menschen, vor allen andern die Deutschen, hassen den Geist. Sie fühlen, daß er durchaus nur ist: Notausgang einer Hemmung oder Schwächung ihres Lebens. Eines aber wissen sie nicht: »Geist allein kann, wie Achilleus Lanze, die Wunde, die er verursacht, schließen und heilen.«

Im ersten Jahre des Krieges, 1914, diente ich als Arzt in einem Erholungsheim für Offiziere, welches die Bestimmung hatte, hochgeborene und hochgestellte Persönlichkeiten aufzunehmen, die an der Kriegsfront Torheiten begingen, Vorrechte mißbrauchten, Untergebene quälten, aber infolge ihrer bevorzugten Stellung nicht unschädlich gemacht werden konnten. Man beurlaubte sie in diese Erholungsheime. Es waren Narrenhäuser.

In jedem Bett prahlte ein erlauchter Narr, verteilte Reiche, erlöste Volk, verbesserte Menschheit. Nichts hatten sie durchdacht und erblutet, und ihre »Weltanschauung« ließ sich glatt auf die Formel bringen: »Im Frieden großes Maul, im Kriege starke Faust«. Die ganze Welt schien solch ein Narrenhaus geworden zu sein. Dennoch klappte alles vorzüglich. Darum nämlich, weil die unüberbietbar fühllose Sachlichkeit des militärischen Mechanismus all unsern vaterländischen Helden und sogenannt starken Persönlichkeiten glücklicherweise das Denken abnahm. Unsre Tage regelten sich zwangsläufig. Man brauchte nur einen Hebel zu ziehn oder auf einen Knopf zu drücken.

Damals verfestigte sich in mir die folgende letzte Erkenntnis:

»Alles kommt darauf an, in einem Reich erhabener menschlicher Narrheiten solche Sicherungen zu schaffen, welche, der Willkür der Person entzogen, dafür sorgen, daß kein Mensch fürder an dem andern, keiner an sich selbst Schaden anrichtet.«

Längst ist die Gemeinschaft mit den Dämonen zersprengt. Längst meistern und martern einander tausend hochgesteigerte Willkürwillen. Längst ist die Gemeinschaft der Natur amortisiert. Längst martern und meistern einander zahllose selbstgerechte Individualmächte. Die Sicherheit im Unbewußten ist dahin. Wie kann man die Dauben schlagen, ehe das Faß auseinanderfällt?

Die Sphäre der Mathesis, der eherne Fels der Logik und Ethik, ist uns Richte und Pol. Wir erobern sie Schritt um Schritt gemäß der wachsenden Bedrängnis. Denn aller Wert, alles Werk ist Ausgleich.

Anders gesagt: Die Gemeinschaft, je mehr sie zerstückelt, vereinheitet sich als Gesellschaft. Die Nationen retten sich in den übernationalen Staat. Den Reichtum der Landschaften verbürgt die Einerleiheit in Recht und Wirtschaft. Je bindender der Oberbau, um so gelöster mag die Seele schalten. Je anarchischer die Seele, umso rationaler die Maschine.

So bin ich Vorkämpfer für die Genien der Menschheit, weil ich die Dämonen liebe. Die Menschheit wird in Urtiefen, religiöse und völkische, elend versinken, wird wechselweis einander zerfleischen, wenn nicht der alles bindende und schützende Bau des übernationalen Geistes sie vor sich selber rettet. Die Ordnung der Natur ist gestört. Sie kann nur noch gerettet werden durch die »Ordnung Gottes«. Seele nur durch Geist.

Kommunist bin ich und Rationalist geworden kraft des Individualismus. Dank anarchischer und liberaler Zielbilder: Diktator der Vernunft. Es hat eine dichterische Begabung mich zum Logiker, romantische Stimmung zum Sozialisten gemacht. Und ein tiefes Wissen um Politik und Geschichte hat mich mit der Gewißheit erfüllt, daß eben nur Politik von Politik, nur die Geschichte von Geschichte, das heißt von aller Willkür und Zufälligkeit des Nur-Persönlichen, uns erlöst. Ich habe der Meduse furchtlos in die Augen geblickt, der Grauen erregenden Mutter der Dämonen, welcher Theseus, der Geistgott, das Haupt vom Rumpfe schlug, damit aus ihrem dunklen Blute das helle Flügelpferd Pegasus entspränge.

Ich weiß darum, daß diese Erinnerungen nicht nur eigenpersönliche, sondern allgemein gültige Bedeutung haben. Denn es besteht das köstliche Wunder, daß, wer in den innersten Punkt des nur persönlichen, nur einmaligen Gewissens vordringt, damit auch das Allgemeine, Ewiggültige erreicht.

Darum darf man den Titel »Einmal und nie wieder« nicht ausdeuten, als solle gesagt sein, daß ein Allgültig-Einziges mit dem Erzählenden dahinging; sondern umgekehrt meint der Buchtitel, daß auf diesen Blättern nichts verzeichnet steht, als ein zufälliges kleines Leben. Eines aus Milliarden. Aber freilich wie eines jeden Menschen Leben: einmalig, unwiederholbar. Für das zartere Gefühl möge auch als Unterton mitklingen die frohe Gewißheit, daß der schwere Weg bald beendet ist und nicht wiederholt zu werden braucht. So wie in Indien auf Gräbern zu lesen steht:

»Bittet für uns, daß wir nicht wiederkehren.«


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