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17. Flucht ins Blaue

Indem ich das Zuchthaus hinter mir ließ, war ich in einer Stimmung, gleich jener, die der junge Schiller erlebt haben mag, als er aus der Karlsschule entfloh. Ungewisses Erwarten. Sehnsucht nach einer größeren Welt. Selbstgefühl und Verzagtheit. Alles überstrahlt von dem Jubel: »Frei! Endlich frei!« Als ich die Rauchfahnen und Steinkolosse Berlins sah, da pochte das Herz: »Diese Riesen werde ich mit dem Geiste bezwingen.« Ach, ich wähnte, daß die »deutsche Kultur« auf mein Erscheinen warte. Denn eigentlich wollte ich nichts »Literarisches«. Ja, was wollte ich eigentlich? Ich dachte an Religionsstifter, Sittlichkeitsapostel, Propheten. Meine Lieblingsworte lauteten: Menschheits-Erziehung! Menschheits-Auferbauung! Kulturfortschritt!

Ich fragte nach der Köthenerstraße in einem Gefühl, als müsse jeder mir ansehen, in welch wichtiger Sendung ich nach Berlin komme und daß von Stund an das neue Weltalter der deutschen Geistesgeschichte begonnen habe. Die gleichgültigen Blicke teilnahmslos Vorüberhastender dämpften nicht diesen rasenden Enthusiasmus. Es war in mir damals ein Kraftgefühl, als müsse es dem Willen möglich sein, mit dem ausgestreckten Zeigefinger einen heranbrausenden Eisenbahnzug zum Stillehalten zu zwingen. Ich verachtete die gemeine Menschheit. Das waren »Halbtiere«. Aber nun stand ich weltverloren im abendlichen Taumel des Potsdamer Platzes und die Beine wurden immer müder, der Koffer immer schwerer und das Herz immer unruhiger, je näher ich der Wohnung des unbekannten Freundes kam.

Mit wunderlichem Bangen stieg ich drei Treppen hinauf. Merke, daß ich mich im Hause irrte. Steige wieder hinab, steige abermals hinauf und stehe endlich klopfenden Herzens vor einer nüchternen Flurtüre mit seinem Namensschilde.

Als ich mutig geklingelt hatte, verging eine bange Ewigkeit, bis ein auffallend gepflegtes hübsches Mädchen öffnete, welches offenbar nicht wußte, daß ich erwartet werde, sondern zögernd meinte, der Herr sei beschäftigt und müsse abends ins Theater; immerhin möge ich im Vorzimmer warten. Den Koffer stellte ich in die Flurgarderobe und befand mich plötzlich in einem Wartezimmer gleich dem eines Rechtsanwaltes. Ich hörte im Nebenzimmer Geflüster und Möbelrücken. Man ließ mir Zeit, mich umzusehn. Alte Plüschsessel. Altes Sofa. Schale mit Äpfeln. Ein großer Spiegel. Schale mit Visitenkarten. Obenauf zwei Karten: »Maurice Pollini, Theaterdirektor« und »Hans von Bülow, Pianist Seiner Majestät des deutschen Volkes«. Sie waren offenbar mit Absicht obenauf gelegt, da die darunterliegenden gleichgültigere Namen trugen. Broschüren liegen herum. Ich blättere. Obenauf: »Schröder: Vom papierenen Stil«. Ein damals vielgerühmter Angriff gegen die Schreibart der Zeitungen und des Tintenvolkes. Das hatte ich zufällig gelesen. Viele Sätze und immer die schärfsten sind mit Bleistift angestrichen. Wäre auch darin Absicht? Die Bücher, die zuunterst liegen, sind nicht einmal aufgeschnitten.

Mein Gönner läßt so lange auf sich warten, daß ich schon einen stolzen Abgang erwäge. Ich werde wortlos davongehn. Mußte er nicht auf die Kunde, ich sei nun da, hervorstürzen wie immer er war? In Unterhosen? Im Hemde? Mußte (nach den Briefen, die er mir geschrieben hatte) er nicht rufen: »Wohlauf junger Adler!« Ganz anders hatte ich in meinen Träumen den Einzug mir ausgemalt.

Plötzlich ging die Schiebetür auseinander und vor mir stand, liebenswürdig und weltsicher, ein hübscher junger Herr. Schauspielerfigur. Gepflegter eleganter Lockenkopf. Puppengesichtchen. Blaue blitzende Stahlaugen. Nein, so hatte ich mirs nicht gedacht. Das war weder Scherr noch Jordan. Er war nur sieben Jahre älter als ich, aber weit, weit überlegen an Haltung, Reife, Erfahrung, Selbstdisziplin. Er begrüßte mich mit einer Mischung von Herzlichkeit und Ironie. Wie ein klügerer älterer Bruder einen jungen Tapps willkommen heißt. Er sei beim Umkleiden gewesen; er habe ins Theater gehn wollen. Er sei durch meine Ankunft überrascht. Aber nun werde er das Theater fahren lassen, ja, er wolle mit Freuden diesen Abend mir widmen. »Bitte, kommen Sie ins Nebenzimmer und machen Sie es sich bequem.« Von meinem Brief, vom Telegramm, sagte er gar nichts. Ich war zu kindlich, um zu argwöhnen, daß etwas nicht stimme. Er war so nett. Ich wäre am liebsten ihm ans Herz gesunken. Er bedrückte mich gar nicht, obwohl er so fein war, ja sein Benehmen warb um Gunst wie ein kokettes Dämchen. Ich war nur ein einfacher langaufgeschossener Schüler; trug derben Flaus, derbe Stiefel, rote Kappe; ein bleicher Junge mit weichem Haupthaar und schwärmerischen Augen, immer bereit zu weltumspannenden Ewigkeitserörterungen. Wie herzlich er war! Er komme grade aus Kairo. Ob ich wohl Freude daran habe, erlesene ägyptische Zigaretten zu rauchen? Er habe sie durchgeschmuggelt. Ich nahm aus Verlegenheit eine Zigarette und entzündete sie am Mundstückende. »Nun«, lächelte er, »Rauchen halten Sie wohl auch für etwas Überflüssiges?« Ich versicherte entgegenkommend, ich anerkenne die Berechtigung der Lebensfreude und sei kein Kostverächter, wobei ich Jordan anführte und auf die betreffenden Stellen meines »Ulrich Hutten« verwies. »Sie erinnern die Stelle vom Gänsebraten. Das haben Sie ja gelesen.« »Gewiß Herr Lessing« lächelte er gerührt, denn ich besaß noch jene kindliche Mischung von Weltfremdheit und Geistesschärfe, die belustigt. Schließlich fragte er, was ich denn in Berlin wolle? Aber, das mußte er doch wissen! Sein Gesicht wurde sehr ernst, als er begriff, daß ich endgültig von zu Hause entflohen sei und nun dableiben wolle und Dichter werden. Das alles hatte er selber vorgeschlagen. »Sie Herr Harden sind mein Vorbild.« Aber nun erst schienen ihm die Schwierigkeiten aufzugehn.

Ich war einen Tag lang in der vierten Wagenklasse gefahren, hatte Hunger, war übermüdet und überreizt. Aber wir redeten und redeten! Ich holte aus meinem Kofferchen die Notizbücher voller Seelenbeichten. »Sie müssen Klages kennen lernen. Klages ist noch größer als ich. Ich werde Ihnen seinen Sonnenhymnus vorlesen.« Er lauschte, achtungsvoll und verwundert, neugierig und spöttisch. Endlich kam das schöne blonde Mädchen herein. Er stellte mich ihr vor und nun ging mir ein Licht auf: Seine Freundin! Ungeschickt von hilfloser Verlegenheit stammle ich eine unnötige Entschuldigung: »Ach Gott, ich habe Sie vorhin an der Tür für das Dienstmädchen gehalten.« Aber sie übersah meine Lage. Menschlicher als er, unterbrach sie meine pompösen Darlegungen: »Haben Sie schon Abendbrot gegessen? Und wo haben Sie Logis genommen?« An diese gemeinen Dinge hatte ich nicht gedacht. Ich gestand, daß ich diesen Tag noch nichts gegessen habe. Denn daß Harden mich bei sich aufnehmen werde, hatte ich für selbstverständlich gehalten. Das Fräulein war im Bilde. »Sie schlafen hier auf dem Sopha. Ich gebe Ihnen Wäsche von Max.« Ebenso anspruchsvoll wie anspruchslos dachte ich gar nicht darüber nach, ob meine Person Störungen verursache. Ich brachte ihnen ja doch das übervolle Herz, und die »neue Epoche der deutschen Kulturgeschichte«. Ich bekam zu essen, und dann sagte Harden: »Gute Nacht. Morgen schicke ich Sie zu Herrn Levysohn vom ›Berliner Tageblatt‹ Auch für Brahm von der ›Freien Bühne‹ gebe ich Ihnen eine Empfehlung. Wollen Sie, daß ich Sie Sonntag zu Fontane mitnehme? ...« Ich entschlief glückselig. Aber sicher schimpfte er indes mit seiner Freundin. »Da haben wir uns etwas Nettes eingebrockt.«

Er war ein Geheimniskrämer, ein Wichtigmacher. Indem er mich ins »Berliner Tageblatt« schickte, orakelte er: »Packen Sie Levysohn an der Entdeckerseite! Nämlich: er hat die bescheidene Eitelkeit, daß im ›Berliner Tageblatt‹ die halbe deutsche Literatur entdeckt wird. Er ist der Entdecker von Richard Voss. Er hat Ludwig Fulda entdeckt. Er hat mich entdeckt. Nun wird er Sie entdecken. Aber wenn man Sie zum alten Mosse führt – das ist der Geldgeber –, dann: Vorsicht! Ein allmächtiger Oberbonze! Aber liebt nicht die Intelligenz. Darum sagen Sie nicht, daß ich Sie schicke. Er liebt dagegen zärtlich seinen Neffen. Einen Herrn Wolff. Von Beruf: Mosse-Neffe. Gott hats ihm gegeben. Darum heißt er Theodor. Man hofft ihn zum Nachfolger Levysohns zu erziehen. Darum wird Levysohn entzückt sein, wenn ein anderer Theodor mehr Talent hat. Sie sehn, das ist eine Chance. Übrigens: Wie stehn Sie mit Lindau?« – Mein Gott! Wie sollte ich mit Lindau stehn? Was wußte ich von dieser Welt? Ich kam ja doch mit der Absicht, Dichter zu werden und Menschheit zu erziehn.

Herr Levysohn hätte mich gar nicht angehört, wenn er nicht (wieder ein Zufall!) einen Neffen auf dem Gymnasium in Hameln gehabt hätte.

Auch der hatte nicht gut tun wollen und war auf die bekannte strenge Paukanstalt zur Besserung geschickt worden. Davon sprach er. Nebenbei sagte er: »Sie können uns einige Feuilletons zur Probe einsenden. Worüber möchten Sie schreiben?« – »Jordan oder Scherr.« – »Nein, das geht nicht! Im Schauspielhaus wird ein neues Stück von Voss gespielt. Wie wärs damit?« – Richard Voss gehörte nicht zu den von mir in Gnade Anerkannten, und sogleich bollerten meine Geschütze. »Voss? Eine Art Hebbel aus Honigkuchen. Dramatiker mit Ausrufungszeichen!!! Leider ist nichts da, was auszurufen sich verlohnt. Gedankenstriche ohne Gedanken.« – Befremdet sagte Herr Levysohn: »Wenn das meine Meinung wäre, dann wäre das ›Berliner Tageblatt‹ leider nicht in der Lage, sie der Öffentlichkeit mitzuteilen. Aber, hier sei eine Karte, zum Zirkus Renz. Ich möge mal über Pferde und Affen etwas berichten.«

Das wäre wohl unschädlich vor sich gegangen, wenn ich diesen ersten Schritt in die Öffentlichkeit nicht so furchtbar feierlich getan hätte. Statt einer Reportage sandte ich eine Dissertation. Herr Levysohn entschied ähnlich wie meine Lehrer: »Talentvoll aber nicht schulgemäß.«

Herr Brahm schwieg wie ein Fels vor einem Schreibtisch. Er sah aus wie jeder Bankdirektor. Ich habe diesen Mann, einen weitläufig Verwandten, noch mehrere Male gesehn. Er erzählte lachend, ich sei ihm wie das vom Monde heruntergefallene Kalb erschienen. Er und Harden hätten sich gefragt: »Wo hat dieser Jüngling hundert Jahre Weltgeschichte verschlafen?« Damals konnte ich den beiden nicht ansehn, was sie dachten. Brahm ließ mich reden, was immer mein Herz bewegte und glupschte nur erstaunt, als ich ihn abkanzelte: »Ein deutscher Mann, der das Glück hat, einem Gottfried Keller befreundet zu sein, muß sich schämen, zum Vorkämpfer herabzusinken für den gemeinen Realismus dieser Ibsen und Konsorten.« Die Wahrheit war: ich war meiner eignen Generation fremd! Ich hatte in der Schule meiner Jordan und Scherr mich in einen Schillerschen »Idealismus« hineingesteigert, der nicht sah, nicht hörte, nicht roch und nicht schmeckte.

Ich erinnere mich nicht mehr, dank welcher Vorwände Harden mich losward. Ich erinnere nur, daß ich am zweiten Tage nach Belle-Alliance-Platz 7 übersiedelte zu meinem Freunde Alfred. Nur noch zweimal besuchte ich Harden. Er lud mich ein zu Spaziergängen. Vor dem Lessingdenkmal im Tiergarten sagte er: »Der da durchschaute den Trug der Dichterei. Sie machen Verse. Sie fühlen sich als Dichter. Aber wenn man in Prosa übersetzt, was in Versen steht, dann erst merkt man, wie leer die Verse sind.« Darauf wußte ich keine Antwort, aber dachte lange darüber nach, denn ich ahnte dunkel die amusische Natur all dieser großen Literaten. Nachts schrieb ich in mein Notizbuch:

Was Poesie ist? Ich weiß es nicht,
ich kann euch nur sagen, was keine ist,
Was ihr nicht in Prosa zu sagen wißt,
Das muß Poesie sein, sagt's im Gedicht.

... Sonntags besuchten wir Theodor Fontane. In einer Etage der Potsdamer Straße, gemütlich geschmacklos, saß in seinem alten Polsterstuhl ein altmodischer feiner Herr, der mit Harden über Theater und Verleger sprach, wobei ich dachte: »Sie reden über Bücher gar nicht anders, als wie die Bankiers in Hannover mit meinem Vater über Kurse sprechen.« Zuweilen fand ich Gelegenheit, ein paar Töne zu verlautbaren. Natürlich immer etwas Hochtrabendes. Dann wiegte der vornehme alte Herr das Haupt und meinte freundlich: »Wo hab ich doch Ähnliches schon gelesen?« Oder: »Ja, ja, in meiner Jugend haben wir das auch gesagt.« Die Wahrheit war: Dieser alte Herr, von dem ich behauptete, er sei nicht geboren, sondern in einem Geschäft für feine Altertümer alt eingekauft, hielt mich für unjugendlich, greisenhaft. Ich war ein überstiegener, verbildeter Junge, wie ihm wohl manche begegnet waren. Damals wurden die Erstlinge von Gerhart Hauptmann aufgeführt. Darüber sprachen sie als über »modernen Realismus«. Klages und ich aber waren übereingekommen, daß der moderne Realismus der Untergang Deutschlands sei und daß wir beide berufen seien, Deutschlands Untergang zu verhindern. Wir schimpften furchtbar auf Zola, Flaubert, Maupassant. Dostojewski und Strindberg lehnten wir unbekannterweise ab. Als »ungesund«. Trotz der schlechten Schülerschaft waren wir die Blüte klassischer humanistischer Verbildung. Jetzt belehrte ich Fontanen: ein Dichter dürfe nie die Wirklichkeit photographieren, sondern erschaue die platonische Idee des Wirklichen. Das Sittliche sei auch schön, und die Schönheit sei sittlich. Der Künstler, der die Seelen auferbaue, brauche nicht den Dreck und die Not zu schildern; dergleichen böte das Leben ohnehin genug. Es sei wertlos. Kurz: Ich war ein kleiner Reaktionär und dazu: Deutsch allerwege!! Harden, der mir voranhelfen wollte, zitierte vermittelnd: »Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet, es gibt zuletzt doch noch 'nen Wein.« Der alte Fontane war nicht unfreundlich, aber kühl und kritisch, etwa so, wie die meisten meiner Lehrer. Etwas wärmer wurde er, als zufällig die Rede auf das Denkmal für Heinrich Heine kam und sich herausstellte, daß Fontane und mein Großvater im selben Denkmalkomitee saßen und sich kannten. Das war nun für mich am beschämendsten: Just der Zugehörigkeit zu den Leuten, denen ich zu entfliehen wünschte, verdankte hier meine Dichterei einige mildernde Umstände.

Der alte Herr komplimentierte uns ins »Berliner Zimmer«. Da saßen seine Frau und Tochter hinter dem Teetisch. Er stellte mich vor als »Großsohn des alten Herrn Ahrweiler« und meinte: »Sie haben Ähnlichkeit mit dem Großpapa.« Zu seiner Tochter sagte er ironisch: »Der junge Herr ist in Berlin, um Dichter zu werden.« »Nur nicht«, sagte die Tochter, und die alte Dame nöhlte: »Man kann in dem Beruf nicht anständig bleiben.« Hocherrötend stammelte ich etwa: »Herr Fontane und Herr Harden zeigten mir ja, daß man es doch könne«, worauf Herr Fontane lachend Herrn Harden fragte: »Sind Sie anständig?« und dieser lachend erwiderte: »Mit Auswahl.« Dann sprachen sie zu meiner Pein von Berufswahl und den Schwierigkeiten für die heutige Jugend. »Sie haben doch Primareife?« fragte Fontane. »Nun wohl, wie wärs mit dem höheren Postfach? Oder Eisenbahner?« Als sie meine Verlegenheit sahen, sagte Harden hilfreich, daß ich schöne Gedichte mache und Fontane: »Sie haben gewiß welche in der Tasche. Wollen Sie uns etwas lesen?« Natürlich! Ich war ausgepolstert mit Lyrik. Ich las, der Umgebung angemessen, ein biederes Gedicht: »Die Jagd nach dem Glück.« »Recht nett«, sagte Fontane. Seine Frau meinte: »Zahntechniker sei noch nicht so überfüllt und böte gute Aussichten.« – Ja! Dieser Besuch bei einem großen Dichter war erhebend, aber gab nicht die mindeste Gelegenheit, in Abgründe der Seele zu leuchten oder Menschheit zu erziehn. Als wir endlich nach vielen Höflichkeiten uns empfahlen, rief Fontane an der Treppenstufe mich zurück. Er stand in seiner Flurtür, legte freundlich die Hand auf meine Schulter und sagte lächelnd: »Hören Sie meinen Rat, Herr Lessing. Zahntechniker ist besser, als Lyriker. Grüßen Sie Großpapa.«

So brachte schon der erste Ausflug in die blauen Himmel der Illusion jenes bittere Ergebnis, das ich in meinem Bericht an den Freund in folgenden Vers zusammenfaßte:

»Daß endlich wieder unter Deutschen
Ein einz'ger Dichter kann geraten,
Gilt's aus dem Heiligtum zu peitschen
An zweimalhunderttausend Literaten.«

Sieben Jahre später war ich ein Lehrer. Ich unterrichtete im »Deutschen Landerziehungsheim« überbegabte Knaben, die sozusagen serienweise »Dichter« wurden. Ihre Väter hatten in Finanz oder in Konfektion genug Geld verdient. Nun konnte Bubi eine Villa mieten und »sich der Literatur widmen«. Ach, was ging mich denn je »die Literatur« an? Sorgte ich mich denn um ein Werk? Mir bangte um meine Seele ... In jenen Tagen zeigte mir Alfred das Getriebe der Weltstadt. Eines Nachts bummelten wir durch die Friedrichstadt; die galt als Inbegriff aller Weltstadtlaster und Freudenhöhlen. Er führte mich in die großen Nachtkaffees »Keck« und »Imperial«, wo farbige Kokotten in Scharen auf Käufer lauerten. Als wir unterm Sternenhimmel heimwärts schritten, heulte ich fast vor Schmerz. Ich wolle sterben. Die Menschheit sei todesreif. Es verlohne sich nicht, für sie zu leben. Auf das fernste Eiland der Südsee wolle ich fliehn. Nein! Ich sei zu gut, um meine Wunden auf den Märkten auszustellen, damit dieser Pöbel von unserm Herzblut Notiz nähme. Alfred hörte teilnehmend meine Tiraden. »Du bist kein moderner Mensch«, sagte er, »dir fehlt ein Sinn für die Wirklichkeit.«

Der Augenblick, der in den Wirrungen dieser Tage die Entscheidung brachte, war im wörtlichen Sinne ein Augenblick. Wir hatten die Absicht, einen Spaziergang durch den Tiergarten zu unternehmen und befanden uns in der kleinen Wohnung an der Köthenerstraße im Aufbruch. Ich war vorangegangen, um im Flur Hut und Stock zu holen. Harden säumte in dem Wartezimmer, wo der große Spiegel hing. Die Tür war halb angelehnt, und durch die halbgeöffnete Tür setzten wir unsere Gespräche fort. Aufwühlende Gespräche über unsre Stellung zur Welt, über unser Werden, über Judesein und Deutschsein. Über das Los der Guten auf dieser Erde. Er sagte tiefe schöne Worte, aber ich wunderte mich, daß er immer noch nicht aus dem Zimmer komme, trete in den Rahmen der Türe und sehe wie er vor dem großen Spiegel sich grade ein hübsches Schmachtlöckchen in die Stirn dreht und es unter dem Filzhut zurechtlegt, während er weiter auf mich einspricht. Dabei kreuzen sich im Spiegel die Blicke und in seinen blauen stählernen Augen blitzt etwas auf, wovor ich erschrecke.

Dann gingen wir in den Tiergarten. Und unser Einklang war dahin. Er sprach herrisch gereizt. Ich antwortete unsicher beschämt. Ich hatte ein dunkles Gefühl, wie wenn ich einen hohen Menschen in einer Lage betroffen hätte, die seiner nicht würdig war. »Er spricht vom Leiden Christi und dreht dabei sich ein Löckchen. Du hast es gesehn, und das verzeiht er nie.« Harden sprach von der Gründung einer großen Zeitschrift; dabei werde er mich beschäftigen. Ich dachte: Er will mich beherrschen. Am Abend des Tages erklärte ich Harden, daß ich heim wolle. Ich passe nicht zur Literatur, wolle Lehrer werden oder Arzt. Seine Antwort war schneidend: »Gut! Wenn Sie zu schwach sind, um zu fliegen, dann kriechen Sie zurück unters Joch.«

Die Beziehung zu Harden wurde Feindschaft. Ich schrieb ihm aus Hameln einen Dankbrief. Endlich hätte ich doch einen Menschen gefunden. Aber er antwortete abweisend: »Von solcher Gesinnung habe ich in Berlin nichts bemerkt.« Dann haben wir uns nie wieder gesehn. Sein Weg stieg bald danach zu ruhmvoller Macht. Wohl der größten Macht, die je in Deutschland ein Mann mit der Feder errungen hat. Mein Weg ging durch Dunkelheiten, Not und Entsagen. Oft kamen Lagen, in denen Harden hätte helfen können. Ich schickte ihm jedes meiner Bücher. Aber nie kam ein Dank, nie ein Wort der Förderung, des Anerkennens. Er schwieg ehern. Als 1914 der Weltkrieg losbrach, da machte ich den letzten Versuch, diesen Eitelsten der Eitlen zu versöhnen. Denn ich hatte in diesem Augenblick den Torenglauben: Jeder Geistige müsse gleich mir nur das eine Ziel kennen: dem barbarischen Wahnsinn des Völkermordens sich entgegenzustemmen bis zur Selbstvernichtung. Ich unterbreitete Harden einen Plan, in seiner »Zukunft« sofort herauszutreten mit einem Aufruf zur Kriegsdienstverweigerung von Seiten aller wesentlichen Denker und Dichter aller europäischen Nationen. Die Regierungen müßten in die Lage gebracht werden, alle führenden Geister, die besten Herzen und Hirne Europas, füsilieren lassen zu müssen, weil alle dem Wahne Gefolgschaft verweigerten. Wenn nur in Deutschland, England, Frankreich, Italien hundert weltbekannte Namen den vom Rausch des Vaterlands entbrannten Regierungen diese Verlegenheit schufen, so war die Zelle geschaffen, von der aus das sinnlose Morden verhindert werden konnte. Er antwortete mit Hohn. Er fühlte sich ganz Deutscher, ganz Patriot. Damals stand ich völlig allein. Ich war zwar nur als Arzt felddienstpflichtig, aber was ich sah und erlebte, flößte mir Zorn und Verachtung ein gegen jeden, der den Irrsinn erkannte und nicht dagegen ankämpfte. Damals haßte ich Harden. Dann kam – nach dem Kriege und nach der Revolution – ein Augenblick, wo aus dem Hasse doch wieder die alte Jugendliebe vorbrach. Ein Komplott völkischer Mordbuben überfiel den unbeliebt Gewordenen, der während seines ganzen Lebens immer nur für Deutschlands Größe und Würde zu kämpfen geglaubt hatte. Man zerschmetterte seinen Schädel und schlug ihn zum Krüppel. Alle Brüller und Prahler der Nation, alle seine vielen Neider verfolgten ihn damals als »Fremdling«, als »Jude«. Und die Nation sah zu, als ginge sie das nicht an. Er stand plötzlich ganz allein, seine Leistungen waren vergessen und er stand vor dieser Hetze wie ein nichts begreifendes Kind. Damals schrieb ich ihm und bot die Hand über dreißig Jahre Feindschaft hinweg. Seine Antwort zeigte, daß er verstand. Bald darnach verfiel auch ich der nationalen Ächtung. Er trat für mich ein. Kurz vor seinem Tode haben wir unter den Bäumen seines Gärtchens im Grunewald uns versöhnt.


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