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25. Umschwünge

Seit zwei Jahren hatte ich die Eltern nicht gesehn. Die Briefe meiner Mutter wurden immer dringlicher, und die kargen Zeilen vom Vater offenbarten einen Gram, der seiner polternden Natur sonst fremd gewesen war. Weihnachten kam eine Karte, darauf stand:

»Lieber Junge, alter Feind, s' ist schon spät, die Sonne scheint
Bleicher schon dem armen Wicht in das bleiche Angesicht.
Fünfe währt, das ist bekannt, Herzverkalkung hierzuland
Dreie sind davon vorbei, bleiben höchstens mir noch zwei.«

Aber ich hatte solches Grauen vor den unausbleiblichen Auseinandersetzungen beim Wiedersehn, daß ich auch jetzt noch die Heimreise hinausschob. Indessen war Klages zu Weihnachten nach Hannover gefahren und schickte nach einem Besuche bei meinen Angehörigen einen mahnenden Brief: »Wenn Du Deinen Vater noch zu sehen wünschest, dann wird es hohe Zeit.« So reiste ich denn, Januar 1896.

Die Zustände in Hannover waren schlimmer als ich vorausgesehn hatte. Mutter und Schwester schienen von der langen Pflege des ungeduldigen, unbändigen Kranken ganz erschöpft. Seine Praxis zerbröckelte langsam. Er schleppte sich mühsam einher, hatte Ödeme, und das Wasser stieg langsam bis zum Herzen. Das Geld ging zu Ende. Er wollte nicht sterben und konnte nicht leben und klammerte sich an jeden Strohhalm.

Er hatte die Sucht gefaßt, alle möglichen Leute zu befragen. Wenn er vernahm, daß ein fremder Arzt durch Hannover reiste, so wurde zu dem ins Hotel geschickt, ob er nicht zu einem erkrankten Kollegen kommen wolle; es sei ein seltsamer ungeklärter Fall und niemand wisse Rat. Aber auch Heilkundige, Naturärzte und Magnetopathen ließ er antreten, ließ sich von diesen Besuchern abklopfen und behorchen und fragte ihnen ihre Weisheit ab, dann aber zum Schluß schalt er sie aus: »Gehn Sie nur ruhig wieder nach Haus, Sie können mir nichts sagen, was ich nicht besser weiß. Ich werde nächstens ersticken, basta. Ärzte sind alle Schwindler, ich schwindle nun auch schon über dreißig Jahr.« Es war, wie wenn sein Machtwille jetzt, wo alle Weisheit am Ende war, die letzte Befriedigung daraus zog, daß er seinen Kollegen ihre Grenzen vorhielt. Eines Tages besuchte ihn sein Freund Wilhelm Ebstein, Professor in Göttingen, und wieder ließ er sich abklopfen, wobei der Untersuchende mit einem Blaustift den Umfang des Herzmuskels auf der Haut markieren mußte. Der Professor behauptete, an einer bestimmten Stelle könne wohl ein »Aneurysma« vorliegen, worüber der Kranke sich erregte. »Der Patient hat kein Aneurysma. Dort sitzt kein Aneurysma. Die Sektion wird es zeigen. Ich gehe jede Wette ein. Sie wissen auch nichts; ich werde es Ihnen beweisen.« Ähnlich verlief fast jede Konsultation, und dennoch schien er zu erwarten, daß ein Heiland erscheine und ihm helfe.

Nach meiner Ankunft ließ er mich nicht von seiner Seite. »Nimm den Blaustift und male den Umfang des Herzens auf die Haut.« Ich mußte ihn behorchen und beklopfen. In den ersten Tagen war er zufrieden. »Alle Ärzte sind Schafsköpfe. Du bist klüger als alle Ärzte.« Nach ein paar Tagen hieß es: »Du bist ein noch dümmerer Esel als alle.«

Er nahm mich völlig in Beschlag. Übertags mußte ich an seinem Lager sitzen, ihm Speise reichen, die Decken rücken, das Luftkissen aufblasen, den Fortgang des Wassers kontrollieren und vorlesen. Er war wie ein Kind und wollte nicht einschlafen, wenn ich ihm nicht die Hand reichte. Er hielt einen Finger fest auch während er schlief, damit ich nicht fortgehn könne. Das Nachtwachen teilte ich mit Schwester Borromäa vom Vinzenzstift. Die hatte ein liebliches Wesen, kindlich fromm. Abwechselnd wachte der eine von uns, während der andere im großen Ohrenstuhl am Ofen schlief. Wenn er nicht schlief, redete er unaufhörlich auf mich ein. Er hielt meine Hand und beichtete alle Schicksale und Konflikte seines gequälten Lebens. Kamen seine präkordialen Ängste, so mußte ihm Morphium gegeben werden. In seiner jovialen Art hielt er dann seine belehrenden Reden. »Nimm von deinem Vater eine Lehre an. Wenn Du wirklich ein guter Arzt werden willst – aber so einer wie dein Vater kommt ja nicht wieder –, merke dir dies: Jeder Patient muß dem Arzte aus der Hand fressen. Aus der Hand fressen sag ich. Aber kein Patient darf es merken. Er muß glauben, er täte alles aus freien Stücken. Wenn der Patient Morphium haben will, dann gib es ihm. Aber gib nur die Hälfte von dem, was der Patient glaubt. Der Rest ist Wasser. Wenn der Patient sehr dumm ist, und die meisten sind dumm, dann spritze reines Wasser. Aber sage, das sei Morphium. Es ist doch nur Suggestion.« – Wenn ich nun aber wirklich, seiner Lehre getreu, ihm statt des Morphiums Wasser einzuspritzen versuchte, dann gab es eine große Polterei im entgegengesetzten Sinn. »Mein Sohn, glaube ja nicht, daß dein Vater so dumm ist wie du. Deinen Vater beschwindelt niemand. Ich schwindle nämlich selbst. Jetzt befehle ich dir: Doppelt so viel Morphium. Nun grade!« Zuweilen spritzte er sichs selber ein und weinte gleichzeitig darüber, daß ers tat. Er verschrieb sich täglich etwas anderes. Heute versuchte er es mit Digitalis, morgen mit Tinctura Majalis, heute Antifebrin, morgen Antipyrin, und zuletzt hieß es immer: »Alles Unsinn.«

Sein Absterben war fürchterlich. Er hatte nie eine philosophische, nie eine religiöse Neigung geoffenbart. Alles war ihm klar und sicher erschienen. Jetzt, in den langen schlaflosen Sterbenächten, packte ihn Angst, und er wollte alles nachholen. Er weckte mich nachts drei Uhr und fragte etwa so: »Sage mal mein Sohn, was denkt die Wissenschaft wohl so über das Leben nach dem Tode? Sprich zu deinem Vater sachlich! Dein Vater kann jede Wahrheit ertragen. Aber gib mir die Hand drauf, daß du die Wahrheit sagst.« Dann trug ich ihm alles vor, was ich aus philosophischen Systemen wußte: »Spinoza sagt ... Schopenhauer meinte ... Augustinus dagegen ...« Er hörte begierig zu, aber zum Schlusse faßte er seine Meinungen zusammen: »Na item, sie wissen alle gar nichts. Keiner weiß es genau. Aber sie machen alle Worte, jeder andere. Übrigens: warum sollte es nicht ein ganz simples gemütliches Fortleben geben? Du kannst mir nichts dagegen beweisen. Du verstehst davon nichts. Vielleicht gibt es auch einen Gott. Meinst du, dein Vater fürchtet sich? Dein Vater wird mit ihm reden.« Ergriff nun die gute fromme Borromäa das Wort und tröstete ihn mit den Freuden des Himmelreichs und Jesu Tod und Wunden, dann wurde er ärgerlich und schalt aus dem Gegenteil: »Schwester, gutes Kind. Nun frage ich Sie auf Ehr und Gewissen, wie können Sie einem aufgeklärten Manne auf seinem Sterbebette einen Hokuspokus vormachen? Sie meinen es gut. Aber sagen Sie ehrlich: Glauben Sie den Zimt?«

Dieser Sterbende riß seine Umgebung mit sich in den Tod. Er machte auch aus dem Sterben eine Waffe. Wollte die arme blasse Sofie einen kleinen Spaziergang machen, dann hieß es: »Eine Tochter promeniert auf der Georgstraße, während der Vater stirbt.« Beharrten wir dabei, frische Luft sei notwendig, dann hieß es: »Gut, also geht. Falls euer Vater inzwischen sterben sollte, werdet ihr den Fall mit eurem Gewissen ausmachen.« Im unteren Stockwerk wurde musiziert. Er rief das Hausmädchen: »Anna, gehn Sie hinunter und bestellen Sie wörtlich: ›Herr Doktor bittet, das Geklimper bis morgen aufzuschieben. Herr Doktor wolle sich Mühe geben, rascher abzurutschen, damit Fräulein Benfey das ›Gebet der Jungfrau‹ spielen kann. Haben Sie verstanden? Wiederholen Sie, was ich gesagt habe.« Alles was sich nicht um ihn und seine Zustände drehte, erschien ihm als Allotria. Las ich, so war's Allotria. Schrieb ich, so war's Allotria. »Allotria treibst du, während ein sterbender Vater sich langweilt.« Das Verhältnis zur Gattin wurde schrecklicher als je zuvor. Da er nun wehrlos war, so spielte sie gern vor ihm und vor sich selbst die starke und fürsorgende Frau und schwelgte, da sie keinerlei Lebensfreude sonst hatte, in ihrer Tüchtigkeit und Opferfähigkeit; das aber ärgerte ihn bis zur Raserei. Es geschah, daß er ihr die Medizinflasche an den Kopf warf oder mitten aus der Angstqual eines Herzkrampfes die betulich ihm Zuredende anspie. In diesem Hause kämpfte jeder gegen jeden. Nach einer Woche war ich am Rande meiner Kräfte.

Ich hatte Tag und Nacht nur noch einen Gedanken: Flucht! Ich ersann Vorwände und Ausreden, um wieder abreisen zu dürfen. In München, so erzählte ich, geht den Medizinern das Semester verloren, wenn man nicht rechtzeitig die Praktikantenscheine aus der Klinik holt. »Wenn sie merken, daß ich verreist bin, dann ist dies halbe Jahr perdu.« Das waren Argumente, die er gelten ließ. Aber dennoch bettelte er: »Bleib nur noch einen Tag. Schau, morgen kommt der Exitus. Ich ersticke wahrscheinlich schon im nächsten Anfall. Wirst es sehen, daß dein Vater recht hat.« Dann wieder hieß es: »Mach doch schon endlich ein Ende. Gib deinem Vater so viel Morphium, daß er hinüberrutscht.« Aber nach ein paar Stunden tiefen Schlafs war doch wieder neue Hoffnung da. »Kinder vergeßt mich nicht. Kinder vergebt mir. Kinder denkt an mich.« Es war nicht auszuhalten. Er vernichtete sich und mich und alle.

Am 18. März morgens ging ich reisefertig an sein Bett, das Kofferchen in der Hand. »Jetzt muß ich dir Lebewohl sagen, Papa. Mein Zug fährt in einer Stunde.« – »Ist es endgültig?« – »Endgültig.« – »Und wenn ich dir kein Reisegeld gebe?« – »Ich reise, ob du Geld gibst oder nicht.« – »Junge, was soll aus dir werden?« – »Wird sich finden.« – »Junge, zehn Minuten wirst du für deinen Vater noch übrig haben?« – »Laß es uns kurz machen.« – »Setz dich her. Gib mir deine Hand. Schließ die Tür ab, daß Mama nicht stört.« – Er sah mich lange an. »Sprich ehrlich, du hast mich sehr gehaßt?« – »Jetzt nicht mehr.« – »Ich habe dir alles gesagt, in den Nächten, wo du bei deinem Vater wachtest. Hast du begriffen, daß alles so kommen mußte? Daß dein Vater nicht anders sein konnte, als er war?« – »Ich weiß, du hast schwer an dir selbst gelitten.« – »Theo, verzeih mir.« – »Laß es, Papa, ich habe mehr Unrecht als du.« – »Wirst du mich lieben, wenn ich tot bin?« – »Im Grunde, Papa, haben wir beide uns immer geliebt.« – »In dir lebt mehr von mir als du ahnst. Machs besser als ich, werde glücklich, vergiß mich nicht.« – Wir küßten einander. Alles war klar und gut.

An diesem Morgen reiste ich bis Frankfurt. Dort ging ich zum alten Jordan. Der sah noch immer in mir seinen zukünftigen Biographen, er lud mich ein zu einem Spaziergang, der den Manen Arthur Schopenhauers geweiht war. Wir besuchten Schopenhauers Grab und sodann eine Ausstellung von Bildern und Gegenständen aus Schopenhauers Nachlaß, die in den von ihm zuletzt bewohnten Räumen zusammengebracht war. Dort erfuhren wir, daß einige Gegenstände, die aus dem Nachlaß Emdens und Frauenstädts stammten, zum Verkauf angeboten seien, darunter ein alter Krückstock mit den Insignien A. S. Ich erwarb ihn für Omar al Raschid, nach dessen Tode er an mich zurückfiel; er hat mich seither durch viele Länder begleitet.

Als ich am 19. März abends nach München kam, lag dort schon seit vierundzwanzig Stunden das Telegramm: »Vater verstorben.« Er war nach unserm Abschied beruhigt eingeschlafen und nicht mehr erwacht.

Ich hatte eben noch Zeit, Klages an die Bahn zu bitten, an dessen Freundschaft in dieser bedrängten Lage ich mich hielt. Ich fuhr nach Berlin, um Grete mitzunehmen, denn ich überlegte, daß sie in diesem Augenblick meiner Mutter einzige Hilfe sei. Der Zug war überfüllt. Die Waggons stark geheizt. Wir mußten in der Nacht die Fenster öffnen. Am 20. morgens kam ich sehr erkältet nach Charlottenburg. Grete war schon aus eigenem Antrieb nach Hannover gefahren. Als ich mittags endlich nach Hannover kam, schneite ich ins Sterbehaus im ungünstigsten Augenblick. Die Ärzte hatten grade die Sektion gemacht, und da ich ihn nochmals sehn wollte, sah ich im geöffneten Brustkorb das freigelegte Herz. Ich legte mich fiebernd zu Bett. Das Bett stand unterm Dach, weil alle Räume von Verwandten besetzt waren, die zur Beerdigung gekommen waren. Ich konnte nicht schlafen und sah im Fieber sein verstümmeltes Bild mit grauenhafter Deutlichkeit. Gegen Mitternacht hörte ich in der Wand neben dem Bette Klopfen. Ich war fest überzeugt, daß mein Vater sich kundgäbe. Als das Geräusch lauter wurde, stieg ich in das untere Stockwerk hinab, um meinen Vetter Ehrmann zu wecken und zu bitten, bei mir zu wachen. Er ergründete bald die Herkunft des Geräuschs. Eine Maus hatte sich in dem an der Wand entlanglaufendem Schlote verfangen. Am folgenden Tage galt es, Haltung zu wahren vor den Gästen und die Beerdigung zu überstehn. Und dann waren wir verlassen, allein ...

Es wurde beschlossen, daß meine Mutter sogleich in das neue Haus an der Königstraße ziehn und es nutzbar machen solle. Ich aber sollte nach Düsseldorf fahren und den Großvater um Hilfe angehn.

Um den Umschwung in allen Lebensbeziehungen begreiflich zu machen, der auf diese Reise folgte, müßte ich den krankhaften Gemütszustand schildern, in welchem ich den damals achtundsiebzigjährigen Großvater antraf.

Zwischen Vater und Großvater hatte ihr ganzes Leben hindurch Haß und Feindschaft geherrscht. Mein Vater hatte sich in den Stolz versteift, dem verhaßten Schwiegervater beweisen zu wollen, wie er ihn nicht nötig habe und auch ohne sein Geld fürstlich zu leben vermöge. Dann aber war allmählich die Krankheit gekommen und der langsame Zusammenbruch der Existenz, und je länger die Krankheit dauerte, um so näher rückte das voraussichtliche Ende, wo alle Einnahmequellen versiegt und die nackte Not da sein würde. In dieser trostlosen Lage hatte ein Neffe, der meinem Vater sehr ergeben war, nicht ohne Vorwissen des Kranken, mehrmals an den Großvater Briefe gesandt, die den traurigen Abstieg und die Verzweiflung in meinem Elternhaus schilderten und dem Empfänger nahe legten, in Rücksicht auf die Tochter und die Enkelkinder helfend einzugreifen. Aber der Großvater hatte diese Briefe nicht beantwortet, vielmehr so getan, als ob er von dem Notstand im Heime der Tochter nicht wisse. Das geschah nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil er beständig auf den Triumph wartete, daß der zuwidere Schwiegersohn, der ihm jeden Tort zugefügt hatte, endlich mürbe werden und selber kommen und ihn um Hilfe bitten werde. Dann hätte er sicherlich geholfen. Aber er wollte, daß der Schwiegersohn endlich ehrlich bekenne: »Ja, ich habe das Geld deiner Tochter längst verspekuliert.« Bis dahin tat er, als ob das verlorene Vermögen eben noch da sei. Der andere dagegen konnte dieses demütigende Schuldbekenntnis seinem Stolze nicht abringen und starb vertrotzt. Und nun geschah etwas Merkwürdiges. Die Stimmung seines Gegners schlug völlig um. Ich traf den Großvater, der noch immer im Besitz eines Millionenvermögens war, in einer schweren Seelenerkrankung. Er hatte sein Lebtag einen ängstlichen und bequemen Charakter, des alles Störende, Peinliche, Unbequeme statt ihm entgegenzugehn und es zu überwinden, lieber dialektisch verschleierte und diplomatisch umging. Nun aber litt er an einer dunklen Gewissenslast, ja, er schien fast zu befürchten, daß der Tote kommen und Rache nehmen könne. Er schlief nicht mehr und ging stundenlang ruhelos von Zimmer zu Zimmer, und da ich vom frischen Grabe des Vaters zu ihm kam, so machte ihn wohl eine unheimliche Vorstellung anwandeln, der Sohn komme, um das gebrochene Leben des Vaters zu rächen. Ich war denn auch in frischer Erinnerung all der Qual, die ich miterlebt hatte, so voll Mitgefühl für den Toten, daß ich es nicht unterlassen konnte, dem alten Manne die Angst und Sorge der letzten Jahre und das schwere Ende seines Feindes auszumalen und ihm vorzuhalten, daß wahrscheinlich eine Rettung, sicher eine Erleichterung möglich gewesen wäre, wenn meinem Vater rechtzeitig Hilfe gekommen wäre, so daß er die harte Last der großen Praxis hätte ablegen oder vielleicht ein paar Jahre im Süden hätte verbringen können. Das traf den alten Herrn schwer. Und sobald ich diese Bilder beschwor, begann er zu reden von der besseren Zeit, die nun für uns beginnen solle. Und redete her und hin, daß er doch unmöglich von dem Verlust des Vermögens und der Not des Vaters etwas habe wissen können. Ich aber ließ seine Ausflüchte nicht gelten und zeigte ihm klar, daß ich von den Briefen meines Vetters Sternheim an ihn unterrichtet sei und wohl wisse, daß er alle die Jahre meines Vaters schwere Lage gekannt habe. Und so in die Enge getrieben und voller Angst war er bereit, auch durch große Opfer sein Gewissen zu beruhigen. Zuerst wurde eine Rente für meine Mutter ausgesetzt. Meine Schwester erhielt ein kleines Kapital, von dessen Zinsen sie leben konnte und das ihr als Mitgift zufiel, sobald sie heiraten würde. Und mir, als seinem einzigen Enkelssohn, den er besonders liebte, überwies er zunächst eine Monatsquote von 500 Mark, aber versprach darüber hinaus, daß er in seinem Testament so gut für mich sorgen werde, daß von nun an ich getrost und sorgenfrei meinen eigensten Neigungen leben könne. Nur einen Wunsch knüpfte er an den Genuß des vielen Geldes, ich solle, wenn ich mir einst einen Namen erworben habe, auch seine literarische Hinterlassenschaft herausgeben.

Von allen den vielen Dummheiten, die ich im Leben machte, war die dümmste die, daß ich diesen Versprechungen glaubte und auf sie von da ab mein Leben baute. Aber wie konnte ich auch voraussehn, daß der Großvater nur sein Gewissen beschwichtigen und für den Rest seiner Tage sich Ruhe verschaffen wollte? Ich wünschte meinen Studien wenigstens durch die Promotion einen Abschluß zu geben, aber der Alte argumentierte: »Sagt man Schiller oder Herr Doktor Schiller? Schreibe du einen guten Roman, dann kannst du dir den Doktor sparen. Danach kräht heute kein Hahn mehr.« Ich blieb ein paar Wochen am Rhein. Im Mai kam ich nach München zurück ... So war denn alles in Erfüllung gegangen, was ich nur je hatte wünschen und hoffen können. Jetzt war keiner mehr da, der mich beaufsichtigen, bedrücken konnte. Ich stand allein und hatte mehr Geld als ich brauchte und zu gebrauchen verstand. Ich durfte meinen Begabungen und Neigungen leben, hatte keine Vorgesetzte, keine Untergebene, war der freieste Mann unter der Sonne. Nur eines war schade: dieser Umschwung kam just zu dem Zeitpunkte, wo ich den Glauben an eine »Berufung«, eine »Sendung für die Menschheit«, eine mich vor den Menschen auszeichnende Würde verloren hatte. Stets hatte ich geglaubt, ein Dichter zu sein. Von Geburt zum Künstlertum berufen. Nun konnte ich es sein, bewähren und betätigen, und nun stellte sich heraus, daß ich unter »Dichter« und »Künstler« wohl etwas ganz anderes verstanden hatte. Was es sei, das war schwer zu sagen. Ich wollte das Höchste, Beste, Reinste, aber wußte durchaus nicht was ich denn nun wollte. Es war wohl etwas wie Wahrheit und Klarheit über das Leben. Es war wohl etwas wie Gerechtigkeit und sittliches Wachsturn. Ich konnte ein Weltweiser werden. Ich konnte ein Menschenhelfer werden. Ich hätte mich als Jurist, als Arzt, als Lehrer zweifellos bewährt. Nur grade eines konnte ich nicht werden, was ich doch damals durchaus werden wollte und sollte: ein Dichter. Denn zu jener Zeit ging mir eines völlig ab und lag mir nach Temperament und Lebensgefühl himmelfern: die Freude an der Form, die Hingabe an ein künstlerisches oder literarisches Werk, der Stil, die Zucht und Freude am Stil, kurz die Künstlerfreude. Das Bücherverfassen erschien mir unlebendig und überflüssig. Ja, mich ekelte die Literatur und die Literatoren, wie ich sie in München vor mir sah und kennen gelernt hatte. Herz und Seele ausmünzen, um des Erfolges oder gar um des Erwerbes willen erschien mir verächtlicher als ein freies Räuberleben. Ich hatte einen ethischen, keinen literarischen Ehrgeiz. Im Grunde suchte ich etwas Großes – einen großen Menschen oder eine große Idee, – wofür ich meine Haut hätte zu Markte tragen, wofür ich meinen Kopf auf den Block hätte legen mögen. Und so erklärt sich das unbegreifliche Paradox, daß die zwei Jahre, während deren ich nun völlig frei und sorglos dahingelebt habe, die unerfülltesten, unfrühesten und traurigsten meines Lebens gewesen sind und daß nun, wo die Muse kam und ich aus der Hölle der Jugend entlassen wurde, ich als Erstes – so wunderlich ist das Herz – schmerztiefe und sehnsüchtige Verse schrieb zum Gedächtnis des Vaters, dessen Tod ich gewünscht hatte.


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