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14. Unser Reich

In dem luftigen Raum mit blauer Tapete stand ein zierlich Mahagonischränkchen. Hinter seinen Glasscheiben warteten auf mich die ewigen Dichter. Mehrere hundert Reclam-Bändchen, die ich groschenweise zusammengekauft und vom alten Buchbinder Hopmann am Holzmarkt, je zehn Hefte für dreißig Pfennig hatte zusammenbinden lassen. Ich besitze sie noch heute und möchte alles, was ich sonst besitze, lieber missen, als die zerlesenen Reclam-Bändchen meiner Kindheit, die zum Grundstock meiner Bildung geworden sind. Im Winkel das einfache Bett, zwischen den Fenstern der Waschtisch, der Wäscheschrank, die Kommode, das Nachtschränkchen, der große, immer unordentliche Arbeitstisch in der Mitte, das war die ganze Ausstattung meines Paradieses. Vier schmale Fensterchen, verziert mit lustigen Holzpanieren, Geranientöpfe und Alpenveilchen davor, auch im strengen Winter; sie ließen mir weiten Ausblick über die Gärten der Adelheidstraße. Dahinter: Himmel mit Wolkengebirgen.

Wenn der nüchterne, widerwärtige Tag vorüber war, dann kamen die Geister. Mir genügten fünf Stunden Schlaf. Aber der Vater, der oft erst spät in der Nacht heimkam oder zu Geburten weggeholt wurde, bemerkte manchmal das mit List verhängte Lämpchen. Seither hatte er strenge Weisung gegeben, daß mir täglich nur eine bestimmte Menge Petroleum zugewogen würde und punkt halb elf mußte meine Arbeitslampe, ein Geschenk Gretens, neben meinen Schuhen vor der Türe stehn und eine Kerze wurde mir nicht gewährt. Zudem schliefen in den benachbarten Mansarden die Dienstboten, unsre beiden Mädchen und die des Generals; sie hatten Auftrag zu beobachten, wie lange bei mir noch Licht brenne.

Vor der Türe (zwei Stufen führten zu ihr hinan) stand das Körbchen für Margo, meinen Hund, und Gera, meine Katze. Der eine knurrte, die andere schnurrte, wenn Schritte nahten. Ich legte das Ohr an die Rillen im Fußboden, denn unter mir schliefen die Eltern und ich konnte hören, ob sie schon schnarchten. Vor die schmalen Scheiben der Fenster hing ich alles Bettzeug und Nachtzeug; das Schlüsselloch wurde mit Watte verstopft und dann holte ich aus dem Versteck hinter den Stiefeln die Kerzen hervor, denn alles Geld, das ich erlangen konnte, verwandelte ich in Bücher oder Kerzen.

Ich holte mir aus Nordmeyers und Ottos Leihbüchereien und aus der Provinzialbibliothek nach und nach alles was in den Katalogen stand. Wer, außer mir, hat wohl jemals »Die Völkerwanderung von Hermann Lingg« von der ersten bis zur letzten Zeile durchgelesen? Wer das ganze Epos »Ahasver von Seligmann Heller«? Wer die sämtlichen Werke von Karl Gutzkow? Sämtliche Dramen von Brachvogel? Sämtliche Werke von Julius Mosen? Sämtliche Gedichtbände Julius Grosses? Ich verkritzelte alle Bücher mit Ohos! und Fragezeichen. Las den ganzen Lessing, den ganzen Börne. Übervoll von höchsten Hochgefühlen riß ich nachts die Fenster auf und sprach zu den Sternen. O, wie oft flehte ich zu Gotthold Ephraim, er möge mir helfen, möge mich zum Licht gelangen lassen. Oder, um dem drängenden Herzen Luft zu schaffen, schrieb ich Lehrpläne nieder, edle Vorsätze, Gebote der Selbsterziehung, Gelübde der Reinheit, an die von Stund an auf Lebenszeit gebunden zu sein, ich mit ungeheuren Eiden schwur. Daß mich ferne Seelen, gütige Dämonen hörten, daran zweifelte ich keinen Augenblick. Wenn ich nicht Bücher einschlang, so schrieb ich, bis mich der Schlaf im Sitzen übermannte. Nie dachte ich an die Form. Nie schrieb ich wie ein Artist, immer nur wie ein Prophet. Das Netz, das die Spinne spinnt, ist nur ein Stück ihres Organismus. So waren meine Schriften meine erweiterten Organe. Es schuf mir große Mühe, während des Schreibens stille zu sitzen. Auf Socken und im Hemde rannte ich auf und nieder, voller Angst, daß unten die Eltern mich hören könnten. Vor nervöser Erregtheit preßte ich ein Taschentuch in den Mund. In kleine Fetzen zerbiß ichs, während ein überschwengliches Drama »Leah«, ein überstopfter »Ulrich Hutten«, ein fantastisch wilder »Tiberius« gezeugt wurde. Morgens in der Schule fragte Klages: »Wie viele Taschentücher hast du heute Nacht gefressen?«

Am Nachmittage kam Klages. Er hatte das weltvergoldende, das lebensegnende Auge, während mir die Schwermut tief im Blute lag. »Mensch,« rabbelte er, »schau doch den Glost, das Sonnenblut auf Hansteins Dachkuppel. Mensch, du wohnst fabelhafter als Ramses, als Montezuma.« Und da sah man Götter und dann war man Ramses und Montezuma und fühlte höchst königlich. Wir lasen mit verteilten Rollen Schillers und Kleistens Dramen. Er donnerte sein Drama »Desiderata«. Er plante einen »Barbarossa«. Seine Dichtungen waren tönend gewordene Nordlandsseele. Mächtige Flüge über flache Ebenen, starrend in blauen Eiskristallen. Es war darin viel Grauen und Angst der Vorzeit. Reimlose Strophen, voll einer dunklen Angst, wie ein Kind singt, unter Nebelschwaden in der Dämmerung. Aber aus meinen Liedern stürzten Menschlichkeiten. Wüste Proteste wider Staat, Familie, Gesellschaft. Viel Satire, Witz und ein himmelblaues Ethos ... Nichts aber wäre verkehrter, als zu wähnen, daß wir Schreibmenschen, Lesemenschen gewesen sind. Wir sogen frohe Kräfte aus Himmel und Erde. Wir machten endlose Wanderungen und alles, was wir aufnahmen wurde Seele und Blut. In jeder freien Tagesstunde rasten wir über Land. Wir führten Zwiegespräche über Menschheit und Gott, Heldentum und Schicksal. So ungeheuer, daß die Vorübergehenden oft stehen blieben und lachend nach uns umschauten. Aber was kümmerte uns das? Wir wußten felsenfest: »Die ganze Welt wird anders, wenn wir einst Männer sind.« Aber keiner wollte etwas für sich. Jeder wollte nur der Kanzler des andern werden. Wir sahn im Morgenrot das flammende Rom. Der »Urgermane« donnerte im »Goldenen Hause des Nero« seinen Fluch auf die verrottete Kultur der Cäsaren und prophezeite Deutschlands Sonnenaufgang. Wir sahen im Abendrot die brennende Persepolis. Alexander, der Jüngling, umarmte die Griechin Lais, aber Roxane, Asiens bleiche Fürstin, verkündete den Abend der Welt.

Ȇber die weite Ebene zieht der Staub,
Über die fernen Berge jagt ein Reiter.
Lenze sanken, aber du sahst sie nicht.«
»Dir nur will ich mich lassen pulsende Lebensflut
Kann dich noch halten und fassen strahlendes Lebenslicht
Frag nicht nach Müssen und Dürfen, sterbend in deiner Glut
Will ich dich in mich schlürfen, bis mir das Auge bricht.«

Kam ich von unseren Gängen heim, so schrieb ich, um frei zu werden vom stickenden Überschwang, auf einen Zettel Gebete nieder: »Weltmacht, lasse mich sterben, ehe ich je den Segen dieses Tages verliere, laß mich jede Marter lieber leiden, als daß je ich zurücksinke in die Schar der Gemeinen. Kam einst der Tag, wo man mich nicht mehr in vorderster Reih freiester Freien sieht, sterbend und gottentflammt, wo ich verleugne, was ich geglaubt, dann durchbohre die Kugel mein Haupt, dann hab ich selber mich zum Tode verdammt.«

Im Wiesenheu, am Ufer der Leine, vertrauten wir einander unsere Erlöser- und Erweckergesänge. Und ungeheuer erregt von der Gewalt seines Genius, riß ich mein Werk in Stücke, warf die Schnitzel in den Fluß und erklärte, es habe keinen Sinn weiterzudichten, nachdem ich dies soeben gehört habe. Worauf er, ebenso bewegt von meinem Geschreibe, auch das Seine in Wind und Strom wild verfetzte, zur Bekräftigung des Schwures, daß auch er nicht mehr weiterdichten könne. Dann sahen wir wehmütig den tanzenden Schnitzeln nach. »Mensch, einst werden unsere Biographen folgendes schreiben: ›Schon in früher Jugend machten die beiden Genien sich hochverdient um die deutsche Kultur. Jeder hat aus Begeisterung für die Werke des andern seine eigenen der Nachwelt vorenthaltene‹«

Nie wieder sind solche Stunden gekommen. Nur die Spaziergänge mit meiner Tochter Miriam vor ihrem jungen Tode waren tiefer noch und reicher.

Zwei junge Menschen, einer am andern gestützt, bewußt ihre Umwelt verachtend, gleichgültig für allen Hohn und Spott von Seiten anders gestimmter Kameraden, gleichgültig auch für Rüge und Lob von Seiten der Lehrer, zwei junge Menschen, als unzertrennliches Gespann auf allen Gassen, Feldwegen und Waldpfaden dahingestikulierend, hinter ihnen herschwänzelnd das Möpschen Margo; es konnte nicht ausbleiben, daß der verachtete »Pöbel« uns komisch befand. Er rächte sich, indem er uns Beinamen gab: »Schiller und Goethe«.

An der Georgstraße, im romanischen Stil gebaut, im Hintergrund einer schönen Gartenanlage, eine Säulenhalle davor, schlief unser Schulhaus. Linker Hand das humanistische, rechter Hand das realistische Gymnasium. Auf dem Platze inmitten der Gartenanlagen, den beiden »Hohen Schulen« den Rücken kehrend, steht in Römertoga, auf einem hohen Postamente ein ausgemergelter Schiller.

»O Schulvorstand vor dem Gymnasium
Stehst rücklings du vor unsrer Weisheit Türen.
Geliebter Dichter! Dreh dich ja nicht um,
Du könntest mit uns den Verstand verlieren.«

Das so besungene Denkmal umkreisten wir täglich in den Pausen zwischen den Schulstunden. Grammatikbüffelnd und butterbrotschmausend, tief beschäftigt mit den großen Angelegenheiten der Menschheit und mit den kleinlichen Launen unsrer Lehrer. Kaum aber erblickten uns die kleinen Quartaner und Tertianer, so blökte die Lämmerherde: »Kieke, da geiht der Schiller«. Oder: »Jotte doch, Jöthe hat die Näse erfroren«. Immer beim Baden höhnten die lästigen Zecken: »Jöthe wird getaucht. Schillern spritzen wir Wasser in die Oogen«. Im Winter legten sie sich in den Hinterhalt. »Backe! Wir werfen Schillern Schnee in die Visage. Wir bringen Jöthe zum Stolpern«. Wir versuchten, die Schreihälse einzeln zu erwischen. Aber je mehr wir Zorn merken ließen, um so toller freute sich die vergnügte Horde. Auch den Lehrern blieb unsre Sonderstellung nicht verborgen. Der jüngste unter ihnen, Schmerbudde, liebte es, geistreich zu witzeln über das »neue Paar kommender Dichterdioskuren«. Und so übten wir uns frühzeitig in schweigender Verachtung und wurden weise.

Bei allen Lehrern, die man irgendwie täuschen konnte, vervollkommneten wir uns in der Kunst, ein Buch oberm Pult und zugleich ein anderes unterm Pulte zu halten. Klages, der eine angeborene Neigung zu jeglicher Magie und Zauberei hatte, erlangte in solchen Täuschungstricks große Vollkommenheit. Keiner hätte je dem lammfrommen Jüngling ansehen können, daß er insgeheim unterm Pulte las oder Gedichte machte, wie es ihm beliebte. Ich las in der Homerstunde mit Genuß im Physikbuche, aber in der Physikstunde zog ich es vor, im Homer zu lesen. Merkwürdig auch war es, daß wir mit Privatstunden an jüngere Schüler uns kleine Taschengelder verdienten, indem wir lehrend leicht jeden Stoff bewältigten, dem wir lernend die Aufnahme verweigerten. In den Ferien wurden wir getrennt. Goethe ging nach Borkum, Schiller wurde vom Großvater nach Heidelberg geholt. Großvaters Landhaus stand am Neckar. Er hatte es von dem klobigen Professor Treitschke erworben. Heinrich von Treitschke, Hermann Grimm und Ernst Curtius waren die drei Sterne der Berliner Universität. So oft ich bei Grete in Charlottenburg weilte, ging ich in ihre Kollegs. Sie verstärkten in mir eine Gemütsverfassung, die Jahre lang vorhielt und zunächst für mein Leben bestimmend wurde: unermeßlichen Vaterlandsfanatismus, glühende Begeisterung für alles Deutsche.

Alle gesunden Jünglinge haben Übergangsjahre, in denen sie gewaltig männern. Sie sehnen sich nach Krieg und Heldentaten. Sie verachten die Dichter, so wie sie weibliche Angehörige verachten. Mit Denkern und Gelehrten können sie erst recht nichts anfangen. Nein! Ihre Vorbilder und Götter sind die großen Feldherrn und Eroberer. Zuweilen auch Seeräuber, Weltumsegler, Abenteurer. Auch wir hatten solche Kraft- und Saftperiode, als wir ahnungslose kleine Jungen waren und Schule und Elternhaus überwanden.

Wie oft, wie oft standen wir nachmittags um sechs, eng an einander gequetscht, vor der großen Eisentüre vorm Hoftheater. Wir harrten geduldig bis um sieben geöffnet wurde. Dann stürmten wir als die ersten die endlose Steintreppe hinan bis zum Olymp. So wurde die Galerie genannt. Da erwischten wir, wenn alles gut ging, einen Platz auf der vordersten Bank und dann berauschten uns Wallenstein und Tell und Posa und die endlos begeisterten, brülldeutsch volldröhnenden Trarahelden von Ernst von Wildenbruch. Nach dem Theater zappelten wir die Lindenallee entlang heimwärts und faßten den Entschluß, gleichfalls Helden zu werden von der Art, wie unsre Lieblingsschauspieler, die Herrn Holthaus und Grube, sie uns vorspielten. Ein andermal gingen wir zu den Versammlungen der Freidenker. Die berühmtesten Athleten der »Gottlosenbewegung« hießen Büchner, Volkelt und Specht. Wir stimmten ganz mit ihnen überein und überlegten tausendmal, ob es uns nicht möglich sei, unsern Elternhäusern zu entlaufen und eine neue Weltreligion zu gründen.

Jeder Jüngling guter Art muß einen Mann finden, in dessen Welt und Wesen er eine Zeitlang untertauchen kann, bis er durch die Seele des Meisters hindurch endlich seinen eigensten Weg findet. Wir verschlangen tausend Bücher, bis wir endlich jeder unsern Meister gefunden hatten. Der seine hieß Wilhelm Jordan. Der meine Johannes Scherr.

Ich weiß es nicht, ob die »Nibelungen« von Wilhelm Jordan für uns von so tiefer Bedeutung geworden wären, wenn wir sie pflichtmäßig auf der Schulbank hätten genießen müssen. Aber da Klages, dem Hinweis eines Lehrers folgend, eines Tages sie selber entdeckte, so waren wir erstaunt, ja überwältigt von einer Stimme, die rauh und zart in Eins, in einem massiv gekörnten Deutsch, wie wir es noch nicht gehört hatten, uns Lehren und Geschichte verkündete, die für unser Alter just am besten geeignet waren: eine Phantasie anregende Mischung von Sprachmusik und Heldenmäre, Reflexion und Bildhaftigkeit, Naturgefühl und predigerhafter Moralität. In irgend einer Literaturgeschichte stießen wir auf folgenden Satz: »Dem Dichter Wilhelm Jordan gelang die Versöhnung der modernen wissenschaftlichen mit der religiösen, idealistischen Weltanschauung; sein Werk zeigt den Einklang von Mythos und Ethos.« So wünschten wir denn, alle seine Werke kennen zu lernen.

Zum sechzehnten Geburtstag, dem 10. Dezember 1889, erhielt Ludwig das Gedichtbuch »Andachten«. Seine Tante glaubte, es sei ein frommes Buch und hegte keine Bedenken, es ihm zu schenken. Ein Füllhorn unbekannter Spekulationen stürzte auf uns nieder. Wir empfingen die ersten Keime einer Sitten- und Lebenslehre, die uns für die spätere Gedankensaat durch Friedrich Nietzsche vorbereitete.

Vor unsrer Phantasie erstand ein gewaltiger Mann, harmonisch und gesund. Wir erwarben nach und nach alle seine Schriften. Zunächst das dreibändige Mysterium »Demiurgos« und das philosophische Bekenntnisbuch »Die Erfüllung des Christentums«. Das waren die ersten gedanklichen Werke, die wir lasen. Sie gaben unsern Gesprächen die Richtung und unserm Leben das klare Vorbild.

Wilhelm Jordan, im Pastorenhause des Dorfes Norkitten bei Insterburg in Ostpreußen geboren, hatte gleich vielen Geschlechtern seiner Vorfahren Theologie studiert, aber, zumal unter dem Einfluß der Schriften von David Friedrich Strauß, war er in Glaubenszweifel geraten und hatte sich schließlich als freier Schriftsteller selbst eine Kanzel geschaffen. Schon als Schüler hatte er die Lebensgefährtin gefunden. Er hat ihr ein Denkmal gebaut in der Gestalt der Frau Ute in seinem Epos »Hildebrandts Heimkehr«. 1848 wurde Jordan in das erste deutsche Parlament gewählt, das in Frankfurt in der Paulskirche tagte. Er blieb von da ab in Frankfurt bis zum Tode. Er wandelte sich von einem Freiheitskämpfer der äußersten Linken zum Typus des national begeisterten liberalen Bürgers und Fortschrittphilisters. Er wurde Marinerat und Minister, wurde Sprachforscher, Naturforscher, Mythenforscher, Astronom. Er gehörte zu den stärksten Männern des wilhelminischen Deutschland. Er war auch im Äußeren eine Reckengestalt, gleich Bismarck, Moltke und Roon. Heute, nach den Eindrücken und Gedanken eines einsamen Lebens, würde ich mit diesem Gotte meiner Jugendjahre kein Gefühl mehr gemeinsam haben, keinen Gedanken zu teilen vermögen. Damals war meine ganze Seele von ihm erfüllt und wir beide, Klages und ich, überlegten unaufhörlich, was wir sagen und wie wir bestehn würden, wenn wir dereinst nach Frankfurt pilgern und unserm Gott unter die Augen treten würden.

Alle Gedanken jener Tage und so auch das ganze mächtige Gedankenwerk Jordans gründeten auf dem Entwicklungs- und Aufstiegsglauben, welchen in den Naturwissenschaften Charles Darwin, in den Geschichtswissenschaften Friedrich Wilhelm Hegel, in den Wirtschaftswissenschaften Karl Marx zum Dogma erhoben hatten. Es war der wichtigste Umschwung in meinem Denken, daß dieser Glaube meiner Jugend schließlich in Trümmer fiel und daß jene drei einflußreichsten Geister des neunzehnten Jahrhunderts, die drei schlimmsten Truggeister, schließlich von mir überwunden wurden. Damals aber glaubte ich an eine Auferbauungs-Ethik, welche dem Menschen aus tierdumpfer Vergangenheit zur Gottähnlichkeit, ja zur Göttlichkeit selber führe. Auch die Philosophie Schopenhauers und Hartmanns, die ich später kennen lernte, befestigte mich noch in diesem Wahn eines Entwicklungs- oder Kulturprozesses. Es war ein Entwicklungsglaube mit negativem Endziel und dem mystischen Ende im Nirvana. Jordan und Schopenhauer, die beide in Frankfurt wohnten, gehörten für mein Gefühl zusammen. Sie begegneten einander oft, aber jede dieser Begegnungen endete mit einer Krachdissonanz.

Wilhelm Jordans gedrungene massige Sprachgewalt, seine Phantasie, seine Herzenswärme standen ganz im Dienst einer rationalen Zuchtwahl- und Fortschrittspredigt. Und im Dienste dieser Aufzuchtslehre wagten nun Klages und ich unsre ersten philosophischen Flüge.

Es war eine harte Schule für einen kränklichen, überzarten Knaben, belastet durch das Schicksal bemakelter Geburt und beständig sich selber zerfleischend. Wie sollte ich bestehn in dieser arischen Siegfriedwelt der Muskelfrohen und im Angesicht ihrer gesunden und rohen Kraft- und Saft-Ideale? Ich fühlte mich als die Frucht der ekelsten Geldheirat. Ich haßte beide Eltern, haßte die Gräber meiner Ahnen. Das Bewußtsein von Schlechtgeburt und Mißratenheit drückte mich tief in die Erde. Ich wollte gerne sterben und war doch noch so lebenssüchtig. Es lag mir himmelfern der Gedanke, daß die jüdische Erbmasse als die ältere und feinere das durch tausendfache Martyrien vergeistete Adelsgut der Menschheit sein könne. Ich trug mein Judentum noch als Last. Denn ich sah, daß unter allen Genien der Menschheit keiner, kein einziger war, der nicht auch seinerseits die schweren Wundmale, die der Jude trug, durch noch eine Verwundung vermehrt und dann diese Wundmale als Schandmale unsrer Art ausgedeutet hatte. Jeder kühlte am Juden seinen Mut, jeder warf auf den Juden seinen Stein. Ich fühlte, daß just die Legende vom Christus nur ein Gleichnis sei für das Los der guten und liebenden Herzen. Das auserwählte Volk selber war der Christus, den die Weltgeschichte ans Kreuz schlägt. Und selbst der Freund trug dazu Nägel und Strick herbei. –

Ich war unfertig und hilflos. Die einzige Rettung aus der Qual meiner jungen Jahre war der Sprung in einen schier unüberbietbaren »Idealismus«. In eine puritanische Geistigkeit, die etwa vom sechzehnten bis zum sechsundzwanzigsten Lebensjahr vorhielt und schließlich grausam zusammenbrach, als die vergewaltigte Natur unter tausend Kämpfen den Panzer meiner idealen Theorien zersprengte. In den Gedichtbüchern »Laute und leise Lieder«, »Einsame Gesänge« und »Saat in Schnee«, muß man die Niederschläge dieser Kämpfe suchen. Ich war ein junger Priester, dem die Eisenkrone seiner Erwähltheit zu schwer ward. Denn unsre Natur war anders, als ich und Klages das wußten. Nur die ewige Gehetztheit, die unablässige Defensive, die Abgedrängtheit von Heimat und Scholle prügelte mich in Wille und Geist hinein. Von Natur war ich ein Träumer, ganz auf das Ästhetische gestellt, auf Spiel und Abenteuer, schlichte Gesundheit, Einfalt und Schönheit. Jedes unreflektierte Leben klang mir vertraut. Aber tief haßte ich das Pathetische. Alles Theologische, alle Art Prophetentum, alles philosophische Raisonnement, alles literarische Klugrednertum. Ich war unvergleichlich ursprünglicher und ungeistiger als Klages. Und doch wollte es unser Schicksal, daß er zum großen Metaphysiker wurde, der als Ethiker (und das heißt als Träger des Geistes) überall versagte, während bei mir der Zwang, mich als sittlicher Mensch bewähren zu müssen, bezahlt wurde mit dem Opfer einer musischen, dichterischen Seele, die ursprünglich ganz gewiß auf Leben ging und nicht auf Ethik. Eigentlich aber habe ich nur ein einziges Jahr erlebt, darin mir diese verkehrte Einstellung meines ganzen Lebens klar ward. Das Jahr 1899. Das war der Zeitpunkt, wo ich durch den plötzlichen Tod des Großvaters vollkommen mittellos und aussichtslos in Mangel und Armut hinausgeschickt wurde, von da ab dauernd dem Lose des Proletariers verfallen. Und es war zugleich der Zeitpunkt, wo im unwiderstehlichen Zwange der großen Liebe ich mein Leben festband und fortschenkte an die verwöhnteste, unserm Lebenskampfe nicht gewachsene Aristokratin. Von da ab hatte ich verspielt. Freund und Frau nahmen alles, was ich zu geben hatte. Der Rest des Lebens war der anständige Kampf eines, der jung zum Krüppel geschlagen ward. –

Seitdem wir in Jordan unsern Lehrer gefunden hatten, lebte ich wie unter den Augen fordernder Zukunftsgeschlechter. Es war ein methodisches Entlastungs- und Ertüchtigungs-Leben. Ich war damals entschlossen nie zu heiraten. Aber insgeheim keimte wohl doch eine leise Hoffnung, daß dauernde Treue, unablässige Hingabe an die Jordanwelt der Zuchtwerte mich einst würdig machen könne, einen Sohn haben zu dürfen, besser als ich selbst. Ich begann auf körperliche Tüchtigkeit weit mehr Wert zu legen als auf geistige. Es war mein tiefster, immer saugender Gram, daß ich körperlich zart und schwach war. Nie habe ich je einen andern um überlegene Gaben des Geistes oder des Herzens beneidet. Aber ein bitteres Weh stieg in mir auf, wenn andere Knaben im Fußballspiel obsiegten oder an den Turngeräten sich mutiger zeigten. Jederzeit hätte ich fröhlich meine ganzen dichterischen Gaben und kritischen Einsichten hingegeben für ein Kränzlein bei den Turn- und Sportspielen. Ich begann Muskeln und Gelenke zu üben, wünschte mir ein paar Hanteln, stärkte mich in meiner Mansarde durch kalte Waschungen und sprang nackt über alle Stühle. Alle Verordnungen meines Vaters verwarf ich. Zu seinem großen Ärger las ich beständig volkstümliche Gesundheitsbücher. Ich weigerte mich Alkohol und Fleisch zu nehmen. In unsrer Kaserne des Wahnsinns aber galt just meine Gesundheitswut als Verrücktheit. Ich hieß verdreht, weil ich besessen war von dem Willen einfach, normal und gesund zu werden. Zum Glück half mir Grete und der nach ihr benannte Margo. Wenn es Fleisch gab, so lag der Mops unterm Tisch und fing die Bissen auf, die ich heimlich fallen ließ.

Aber so tief auch die Zuchtgebote Wilhelm Jordans in mein Leben eingingen und mein Herz beherrschten, eigentlich war doch Jordan weit mehr der Klages-Mann. Mir allein aber gehörte jene wahrhaft erlösende Stunde, wo ein Buch in meine Hände fiel mit dem ironisch weltschmerzlichen Titel: »Menschliche Tragikomödie«. Aus den Seiten dieses Buches blickte mir ein Menschenantlitz entgegen, nicht minder männlich stark und hochgestimmt als Jordan, von ebenso großer Kraft des Willens und des Geistes, zugleich aber beseelt von Lebensverachtung und Menschenekel, die meinen eigenen Gefühlen weit näher kamen. Johannes Scherr war gleich Wilhelm Jordan ein alter Revolutionär von 1848, welcher schließlich an der technischen Hochschule in Zürich eine Zuflucht gefunden hatte als Professor der Geschichte, aber – abgesehn von mancherlei Halbheiten, die ich damals noch nicht überschaute –, doch weit mehr als Jordan ein freier Mensch, ein unbürgerlicher, starker Gesinnungsmensch war. Wenn ich in späteren Jahren dem Freunde Wilhelm Jordan von dieser anderen Schwärmerei meine Jugendjahre beichtete, so sagte er: »Johannes Scherr ist der Mann aus Butter und Eisen. Johannes, das ist weich wie Butter. Aber Scherr, das klingt wie wenn man mit der Butter eine Fensterscheibe einwirft und nun klirrt das zersprungene Glas.« Diese Deutung des Doppelklanges im Namen traf wirklich das Richtige. Scherr war ein herzenswarmer, sehr weicher Mann von unerbittlicher Urteilsstrenge.

Kein Denker, kein Philosoph, durchaus kein großer Geist, aber der ehrlichste, ehrenhafteste, reinlichste Mann unter der Sonne. Damals fühlte ich noch nicht seine unausgeglichenen Dissonanzen. Er war Weltbürger, Vaterlandsfanatiker und Anhänger Bismarcks, Fortschrittsgläubiger und Verzweiflungspessimist in eins und sich selber getreu eigentlich nur in seinem immer gleichen Fluchen auf den Irrsinn der sogenannten Weltgeschichte, ihre endlosen Lügen und Schwindeleien. Aber just dieser großartige Geschichtsekel, diese verbitterte Entrüstung gegenüber dem Narrenhause Menschheit, gegenüber diesem Theater der durch Wissenschaft und Zivilisation größenwahnsinnig gewordenen Horde von Raubaffen, dieser herbe Spott und verzweifelte Hohn, der jedes Buchkapitel endete mit dem Satze: »Item: die Dummheit, Gemeinheit und Niedertracht sind ewig. Sela und Amen.« – Just dieser Zweifel, diese Verzweiflung wirkte auf meine Jugend. Scherr verdanke ich, daß ich die Bücher der politischen Geschichte niemals wieder ernst genommen habe, daß ich die Zusammenhänge von Mythos und Geschichte, von Wunscheinblendung und Geschichtswirklichkeit früh ahnte, bis dann schließlich unter den Einwirkungen des Weltkrieges 1914-18 und der ihm folgenden lächerlichen Revolutionen meine systematischen Hauptwerke: »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« und »Untergang der Erde am Geist« hervorgebrochen sind.

Es fügte sich in meinem späteren Leben immer wieder, daß ich Gelegenheit hatte, die in der Jugend empfangenen Geschichtszweifel bestätigt zu finden. Ich sah manche Vorgänge, viele Personen aus nächster Nähe, die zu Wahrbildern und Gleichnissen für unsres Vaterlandes Kultur, für unsres Volkes Geschichte geworden sind. Meine ganze Jugend hindurch kannte ich die Familie von Hindenburg, deren Oberhaupt, nachmals Sinnbild aller deutschen Treue und Mannhaftigkeit, als junger Offizier unsrer Reitschule, meines Vaters Patient war und als alter Herr nach seiner Pensionierung abermals in unsrer Nachbarschaft wohnte. Niemals hätte ich mir vorzustellen vermocht, daß dieser enge, gutmütige, übrigens lenksame und gar nicht auf Treue und Edelmut gestellte Mensch, mit der gradlinigen Seele eines Schwerarbeiters dereinst zum Repräsentanten Deutschlands, ja nach der grausamen Masurenschlacht der Abgott des ganzen Volkes werden könnte. So sehr verdrängte die aus Glaube und Liebe des Volks gewobene Mythengestalt die Wahrheit des empirischen Menschen, daß ich Brot und Amt und fast das Leben verlor, als ich den Versuch wagte, mit ein paar bescheidenen Worten auf die mir ganz klare und deutliche Wirklichkeit des Menschlichen hinzuweisen. Das Volk kann sich seine Idole und Götzen nicht nehmen lassen. Ich habe die Helden der Kriegsjahre und die Götzen der Revolution aus naher Nähe gesehn. Ich war als Jüngling bei Bebel und Singer, den Führern der Sozialdemokratie, ich verhandelte oder briefwechselte mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, habe Lenin in seiner Verbannung gesehn, habe mit Noske, Ledebour, Otto Braun in nächster Nähe zu tun gehabt. Es war immer ganz anders, als es sich in den Spiegeln der Geschichteklitterer und Meinungsmacher spiegelte und in der Regel viel banaler, dummer und alberner, als irgendwer ahnte. Die wahrhaft großen Menschen, die starken Seelen und hohen Geister, die ich kennen lernte, gehörten nicht der Geschichte an. Sie gelangten auch nicht in die Konversationslexika der Kultur. Ja, ich habe gesehn, wie eine Horde von Rohlingen, Machtstrebern, Menschenquälern, Fehmemördern, Morphinisten, Päderasten und Phrasenmachern, Männergestalten, derengleichen ich oft gesehn hatte in Zuchthäusern und Irrenhäusern, sich zu Gipfeln der Volkheit, zu Führern der Geschichte aufwarf. Und es wurde ihnen geglaubt. Das Volk vertraute ihnen. Und fortan wuchsen sie wirklich in den Mythos und wurden legendäre Männer des Schicksals. Immer wieder lernte ich: Was der Mensch seine Weltgeschichte nennt, ist Dichtung und Erklitterung. Sie hat gar nichts zu schaffen mit Sinn, mit Recht, mit Logik, mit Ethik. Sie ist so zufällig wie die Launen des Ozeans, wie Verheerungen oder Verschonungen eines Sturms. Dagegen ankämpfen wäre so nutzlos, wie dem Weltmeer Vernunft predigen und dem Winde befehligen wollen. Der größte Unsinn, das abscheulichste Verbrechen, wenn es nur Erfolg hat, erhält die Billigung der Massen, erlangt Verklärung und Rechtfertigung von Nachhinein. Die adeligste Tat aber, wenn sie mißglückt, wird in den Büchern der Geschichte zum Verbrechen. Das leitende Gesetz der Geschichte ist (so nannte ich es): die logificatio post festum, das »Sinngeben von Nachhinein«. Diesem Kulte der Tatsache dienen die Drohnen der Kultur, der öffentlichen Meinung: Zeitschreiber, Professoren, Literaten. Sie sorgen dafür, daß die jeweils herrschende Macht und Gewalt auch ein Recht, auch einen Sinn sich erschleicht. Denn anders hielten Menschen ihr Leben nicht aus. Sie müssen lügen! Und so bleibt es, bis die Menschheit von der Geschichte selber befreit ist, das will sagen von aller Willkür und Selbstsucht des Nur-Persönlichen. Die Vernunft aber, der Geist, Wahrheit und Gerechtigkeit, sind geknüpft an die Not oder das ewige Leid. Nur die Not keltert aus dem Narrentanz der Geschichte den ordnenden Geist hervor, welcher die objektiven, von Person und Schicksal, Religion und Nation unabhängigen Institutionen schafft. Und die Leidenden, die Unbekannten, die Zertretenen sind die Träger des Geistes. – So gestaltete sich früh mein Weltbild. Und es hat sich bestätigt! Ich habe den Terror und die Suggestion von heute auf morgen die Welt verändern gesehn. Ich habe Mussolini und Hitler erlebt, die faschistischen Götter meiner Tage; es waren geistig und seelisch völlig leere, unglückliche Menschen, vorangepeitscht vom Größenwahn. Ich habe auch immer gefunden, daß Geschichte und Politik die Zuflucht der ungedanklichsten Menschen gewesen ist. Kaum je traf ich unter Historikern und Philologen auf einen philosophischen Kopf. Ich habe Männer, die gewiß nie in ihrem Leben ein ernstes strenges Gedankenwerk wahrhaft erarbeitet und erblutet hatten, ja die kaum die Sprache ihres Landes richtig beherrschten, als Kultusminister die elendsten Köpfe in Rang und Würden einsetzen, die hervorragendsten ins Elend stürzen sehn, und die ganze Professorenschaft und Literatur kuschte, duckte sich und hat gehorcht! Macht, brutale Macht, das ist die einzige Triebgewalt der Geschichte. Sie verkleidet sich als völkisches Wachstum, als Seele, Blut und Landschaft einer Kultur. Die Menschheit selber schafft sich diesen Ozean von Galle und Träne, Blut und Schweiß. Und wenn ich warnte, wenn ich widersprach, so wurde mir bewiesen, ich habe keinen Sinn für die kosmischen Urtiefen dieses Prozesses, kein »Organ für Geschichte«, sei eben ein Jude, ein Heimatloser, ein Sozialist, ein Mensch blasser Abstraktion. Und so begann ich denn an allen geltenden Meinungen zu zweifeln, zu verzweifeln. An allen Tatsachen des Erfolges. An allen Inhalten der Geschichte, sei das nun Staats- und Kriegs- oder Kunst- und Geistesgeschichte. Alle diese Inhalte erwiesen sich als Ungerechtigkeit und Lüge. Die wahren Größen der Menschheit lebten außerhalb von Zeit und Geschichte. Ganz still, ganz abgeschieden, ganz im Schweigen der Überwindung. Mir aber war es nicht gegeben, zu schweigen und zu überwinden. – In einem der frühen Tagebücher jener Schülerjahre heißt es:

»Ludwig Klages, der Freund, gut geboren und gut geborgen, ja, Du darfst in den Himmel der Metaphysik entfliegen. Ich darf es nicht. Ich werde wandern müssen auf allen Straßen der Welt. Und wenn er der umfassendere Geist wird, so werde ich der gerechtere Revolutionär sein. Ich möchte die Stimme werden für die Bedrängten und Unbekannten, die Verachteten und Verschmähten. Ein Kampfmensch, der nicht fragt: Was tut mir not? Sondern: Wem bin ich nötig?«

Gemeinsam aber blieb uns beiden Freunden der Traum nach Frankfurt, Taunusplatz 20 zu pilgern. Indes neben diesem großen Traume unsrer Ehrfurcht glühte, seitdem ich Scherr und seinen Geschichtspessimismus kennen gelernt hatte, noch ein zarterer, persönlicherer Traum meiner Liebe: Ich wollte nach Zürich pilgern und an sein Grab treten. Ihm die Blumen des Herzens bringen und ein Gelübde für Lebenszeit ...

Während so mein Kopf immer wacher und kritischer wurde, ein Schlachtfeld für tausenderlei Ideen und Pläne, ging es in der Schule unaufhaltsam bergab. Alle Lehrer klagten: Dem Schüler fehle jeglicher Ehrgeiz. Und das war richtig, denn mein Ehrgeiz flog weit hinaus über die Gefilde der Schule. Sie hatte auf mich längst keinerlei Einfluß mehr, während doch ein Fingerzeig von Jordan oder gar von Scherr genügt hätte, um mich freudig in den Tod marschieren zu machen.

So nahm ich denn, obwohl ich die Untersekunda wiederholte und mir das Pensum bekannt war, bald wieder den gewohnten untersten Platz ein und bekam täglich einen Haufen Warnungen und Mahnungen. Klages indes stieg in der Obersekunda zu ungeahnten Ehren, indem mein Quäler und Hasser, Grahn, merkwürdigerweise Klages bevorzugte, beschützte, ja mit Vorliebe gegen mich ausspielte. Es lag in Klages Seele eine Art ausgekühlte Ekstatik, die der wärmelosen Natur Grahns sympathisch war. Auch war Klages instinktiv lebensklug und hatte nie den Drang gleich mir, wild um sich zu schlagen und Galle zu verströmen. Grahn wähnte sich durch den stillen Schüler bewundert, und es mag wirklich sein, daß der ehrfürchtige Jüngling ihn bewunderte oder den eitlen Lehrer in diesem Glauben ließ. Genug, der Despot, der gegen mich nur Abneigung fühlte, war Klages wohlgeneigt und hatte wider unsern Umgang nichts einzuwenden.


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