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15. Tanzstundenjahr

Herr Degen, Ballettmeister an der Königlichen Oper, veranstaltete allwinterlich Tanz- und Anstands-Stunden für die Höheren Kinder Höherer Eltern. Und da unsre Eltern sowohl sich als auch uns für etwas Höheres hielten, so wurden wir mitsamt unsern Schwestern auf die Lämmerweide des Herrn Degen geschickt. Zwar hatten wir schon viele Liebesgedichte geschrieben, aber immer nur zum Preise der Traummädchen unsrer Phantasie. Mit den sehr wirklichen Töchtern hannoverscher Kaufleute und Fabrikanten wußten wir noch nicht umzuspringen. Nun erschloß uns die Tanzstunde die Geheimnisse der großen Welt.

Klages brannte von glühenden Erregungen, aber da sie nur aus dem Geiste stiegen und in Wirklichkeit seine junge Seele einem gefrorenen Wasserfalle glich, so trug er vergebliche Sehnsucht, aus seinem virtuosen Doktrinarismus herauszukommen. Die Frauen in Fleisch und Blut ließen ihn kühl, und es bedurfte stets einer Aufreizung der Phantasie, um ihn in Ekstasen zu versetzen, in denen er sich selbst genoß. Bei Theodor Lessing lag es umgekehrt. Der ließ sich nur zu leicht reizen und in fremdes Schicksal hineinziehn, ja hätte sich verloren und zersplittert, wenn nicht der Intellekt bewahrende Dämme gebaut hätte. Der eine, der niemals gewagt hätte, »von des Schierlings betäubenden Körnern zu essen«, träumte von glühenden Bränden, die den schweren Panzer des Geistes zersprengen. Der andere, von früh an im Chaos daheim und jeder Leidenschaft zugänglich, bedurfte nicht der Erlösung vom Geist, sondern mußte sich dank des Geistes bändigen.

Wehe! Jetzt trat es schrecklich zu Tage: Lessing, der puritanische Obermoralbonze verliebte sich in jedes leidlich hübsche Mädchen und erwies sich als unheilbar »polygam«. Klages dagegen, der Fachmann für heidnische Lebensräusche, vermochte sich nur auf der Grundlage einer darwinistisch-evolutionistischen Weltanschauung zu verlieben. Denn die Sache war diese: Unser Gott, der Nibelungendichter, hatte sich schon als Primaner verlobt und seinem Vorbilde wünschten wir nachzueifern. Klages also, der in der Verzauberung sein Ich genoß, erkor sich unter unsern Tanzstundendamen das Opfer für den Jordanischen Zuchtwahlgedanken. Sie war ein hübsches nußbraunes Mädchen mit großen Kinderaugen; sie hieß Marie Westen. Auf unsern Spaziergängen berieten wir, ob Marie würdig und fähig sei, die rechte Zuchtwahlgattin eines Großen zu werden. Marie hatte eine lichtblonde Freundin namens Adele. Diese war die anerkannte Königin der Tanzstunde und wir Gymnasiasten durften nicht daran denken, die herrliche Adele zu erobern, denn in unserm Kränzchen gab es Studenten und sogar einen Leutnant. Grade darum sammelte sich mein Begehr, ohne jede Beimengung solider Absichten, auf die Eroberung dieses blondbezopften Backfischs und ich siegte dank der naiven Strategie, daß ich den ganzen Winter über als einziger die von allen umworbene Schönheit nie zum Tanze holte. Vielmehr widmete ich mich allen sogenannten Mauerblümchen, die bei den Tänzen sitzen blieben und erlangte dadurch nicht nur die Gunst der Tanten und Mütter, die von der Estrade aus, welche wir den Drachenfels nannten, unserm Gehüpfe zuschauten, sondern erregte auch die Neugier der Ballkönigin, an deren Triumpfwagen ich nicht mitzog, bis schließlich – o seliger Augenblick – bei Gelegenheit einer Damenwahl die Schöne ihrerseits mich zum Tanz aufforderte, worauf ich blasiert erwiderte, ich sei ermüdet und bäte diesen Tanz überschlagen zu dürfen; aber von da an hatte auch sie einen Funken geschluckt. Kein Sieg im späteren Leben hat mich je wieder so stolz gemacht.

Ludwig tobte beständig wider die bürgerliche Moral, dennoch liebte er zwei Jahre lang in unwandelbarer Treue die Braut seiner Zuchtwahl. Ich dagegen, ein fanatischer Sittlichkeitspriester, benahm mich wie ein kleiner Don Juan. Denn weder die katonische Tugend, noch die Liebe zur unerreichbaren Adele konnte hindern, daß ich gleichzeitig auch noch ein halbes Dutzend andere glühend liebte. Unter diesen war die reizende Erika, eine Verwandte des Dichters Frank Wedekind. Aber die Liebe zu ihr war so bitter als süß. Denn wir konnten uns nur auf dem Eise sprechen, wo wir beim alten Turnlehrer Metz das Schlittschuhlaufen lernen sollten. Der alte Metz, eine Gestalt wie der Turnvater Jahn, mit Schlapphut und wehendem Wotansbart, war ein bekanntes hannoversches Original. Er hatte dem großen Geiger Joseph Joachim Unterricht im Schlittschuhlauf gegeben und wenn der auf dem Eise hinfiel, so sagte Herr Metz tröstend: »Jäö, jäö Herr Joachim, so lichte geiht das nüch wie 's Vijolinespielen«. Wenn aber Fräulein Wedekind und ich hinfielen, dann ließ der alte Metz uns teilnahmslos liegen. Darum mußte meine Schwester oder Ludwig und Lenchen Klages unsrer glitschrigen Liebe beistehn; aber auch die Mädchen hatten ihre Stelldicheine. Erst kam ein Jüngling namens Seutemann und holte Sophie, dann kam ein Jüngling namens Salle und holte Lene, und plötzlich erspähte Ludwig in der Ferne die Geliebte seiner Zuchtwahl, und fort war er und kam nicht wieder. Das süße Fräulein Wedekind und ich aber standen totverlegen auf Schlittschuhn und wagten nicht uns zu regen, denn sobald wir voran trachteten, saßen wir beide auf den Hintern. Dann entschuldigten wir uns vor einander, denn zum Glück glaubte jeder, nur die eigene Ungeschicklichkeit trage die Schuld und der andere könne besser laufen als er selbst. Also stolperten wir über einander, verbissen unsre Schmerzen, standen mühsam wieder auf und spähten vergebens nach Herrn Metz, während von der fackelbeleuchteten Grogbude her Sophie und Lene hämisch herüberfeixten, und in der Ferne Ludwig am Arme seiner Zuchtwahlflamme Kurven lief. – Die schönste unter diesen Winterfreuden war ein Rezitationsabend, an welchem ich und Willi Grunewald, der später ein gefeierter Schauspieler wurde, Gedichte von Schiller und Baumbach vortrugen; schließlich deklamierte ich eine lange Ballade »Nero«; ich hatte sie selbst gedichtet, gab sie aber aus für ein Jugendwerk von Wilhelm Jordan, und indem ich an meinen Vater und Grahn und alle Lehrer dachte, benutzte ich die Gelegenheit, den Hörern wilde Beleidigungen ins Gesicht zu schleudern, welche ich einem alten »Urgermanen« in den Mund legte, der im »Goldenen Hause« von Nero als »lebende Fackel« verbrannt wird, aber zuvor der Welt gehörig seine Meinung sagt:

»Ihr könnt belächeln, schwatzen, mißverstehn
Die Zeit wird euer kleines Ich verwehn
Und Dummheit nur wird diese Welt beklagen.
Mich sende Kaiser in den Flammentod
Ostaras Fackel hoch zum Himmel loht
Und bis zum Himmel wird mein Weltruhm ragen.«

Ich hatte die Genugtuung, daß das »Hannoversche Tageblatt« feststellte, eine so wilde, leidenschaftliche Dichtung habe man dem besonnenen Nibelungendichter nicht zugetraut.

Um Weihnachten 1888 veranstalteten die Damen der Stadt einen Wohltätigkeitsbazar, auf welchem die Sterne der Oper und des Balletts als Verkäuferinnen sich betätigten. Den größten Zulauf hatte eine Bude, in welcher »Visitenkarten mit Küssen« verkauft wurden. Gefeierte Künstlerinnen, Fräulein Miorini vom Ballett und Thoma Böhrs von der Oper hefteten vor den Augen des Publikums Küsse auf ihre Visitenkarten und dann wurde die Karte zu beleidigend niedrigem Preise versteigert. Die Lebeherrn trugen in ihren Westentaschen Küsse aller möglichen Künstlerinnen. Der Regierungspräsident Wilhelm Bismarck, zweiter Sohn des mir so verhaßten »Länderdiebes«, ein behaglicher Herr, dick, gutmütig, dumm und fidel, hatte den Einfall, eine »Kunstausstellung« zu stiften. Das war ein Zelt, in welchem scherzhafte Karrikaturen der bekanntesten Stadtgrößen zu sehn waren. Dazu gehörte ein Sonderkabinett für Damen, in welchem gegen ein Extratrinkgeld »das schönste Kunstwerk der Neuzeit« besichtigt werden konnte. In diesem Kabinett durfte ich als Kustode Dienst tun. Es hing dort ein Vorhang. Zog man ihn zurück, dann erschien dahinter ein Spiegel, und die Besucherinnen, die man einzeln hereintreten ließ, sahen ihr eigenes Bildnis. Die Aufgabe, diesen Vorhang zu bedienen, bot die hübscheste Gelegenheit, den schönen Frauen und Mädchen Erfreuliches zu sagen, aber ich mißbrauchte meine Stellung zu galligen Wahrheiten. Trat eine alte Dame vor den Vorhang, dann sagte ich etwa: »Sie sehn einen antiken Torso. Die Kunstforscher wissen nicht, ob es eine Minerva oder Venus ist. Sie hat gelbe Flecke im Gesicht. Das sind die Reste einstiger Schönheit.« Oder ein eitles junges Mädchen bekam zu hören: »Das Kunstwerk, das Sie sehn werden, ist von großer Treue. Der Meister verkörperte die ganze Schönheit und Dummheit der Natur.« Und als ich schließlich der Gräfin Bismarck etwas von Pferdenase und Raubtieraugen gesagt hatte, wurde ich empört hinausgewiesen und das Amt einem höflicheren Knaben übertragen.

Der achte Februar 1889 war mein siebzehnter Geburtstag. An diesem Tage wurde unser angebeteter Meister siebenzig Jahre alt. Wir hatten uns vorgenommen, ihm eine Ehrung zu bereiten. Aber als der feierliche Tag da war, hatten wir nichts als ein paar Huldigungsverse. Klages hatte die seinen in altgermanische Stabreime gebrannt. Sie erzählten, wie Siegfried, der Frühling durch das tief verschneite Land reitet. Im Flusse treiben Eisschollen. Am Himmel jagen finstere Wolken. Aber in den Knospen rumort schon Frühling. Er behauptete, Jordan werde schon verstehn, daß mit Siegfried er selber gemeint sei, mit dem Frühling der Sieg des germanischen Epos, mit den schwarzen Wolken die Widersacher und mit den rumorenden Knospen wir beide. Meinerseits begnügte ich mich mit ein paar deutschen Stanzen, denn den Stabreim konnte ich nicht bemeistern.

»Dir sind der Jahre siebenzig gegeben,
Das siebenzehnte heute mir verrann,
Dir möge Gott mein Alter sechsfach leihen
Und mir das Deine, um es Dir zu weihen.

Als Gratulantenfrack im Schmuck der Reime,
So nah ich Dir, der deutschen Jugend Bild,
Hat man doch unsrer Köpfe hohle Räume
Mit altersschwachen Formen angefüllt.
Drum sind auch der Begeistrung Herzenskeime
Im Treibhaus falscher Maße groß gedrillt.
Doch Deine Kunst verlangt ein ganzes Leben:
Ein Schuft nur wird mehr als ihm möglich geben.«

Wir warfen unsre Glückwünsche in den Briefkasten und hofften insgeheim auf Antwort. Einige Wochen später überbrachte uns während der Frühstückspause der Schulvogt Stöcker zwei Kuverte, die schon vergeblich bei andern Gymnasien der Stadt angepocht hatten, addressiert an die Primaner Klages und Lessing. Es waren faksimilierte Dankeszeilen mit dem Bilde Jordans.

»Daß ich am Ende meiner Tage
Als Dichter noch zu schaffen wage,
Das wünscht im Glückwunsch jede, jeder,
Doch dankt ich mit der eignen Feder
Für all die Grüße, all die Spenden,
Ich könnt dazu ein Jahr verwenden,
Darum verdenkt es nicht dem Greise,
Daß er Euch dankt auf diese Weise.«

Noch dreißig Jahre später hat Ludwig Klages die Zeilen veröffentlicht und in seinen Lehrbüchern der Graphologie voll Liebe charakterisiert. Aber in dem an mich adressierten Danke lag ein Brieflein von der Hand der Tochter Jordans:

»Sie dürfen stolz darauf sein, daß es Ihnen gelungen ist, dem Dichter selbst an einem solchen Tage eine besondere Freude gemacht zu haben. Bester Lohn des Dichters ist jede junge Menschenknospe, die sich verstehend ihm erschließt. Nun möchten wir gerne von Ihnen mehr erfahren, von Ihrem Leben und Zukunftsplänen.«

Mein Gefühl beim Empfang des Briefes war stolzer Jubel, aber auch eine tiefe Beschämung vor dem Freunde, denn nicht mir, sondern ihm gebührte dieser Dank, und wenn Jordan auf mich aufmerksam wurde, so wollte ich seine Aufmerksamkeit auf Klages hinlenken; er erschien mir als der wichtigere. Und mit der ganzen Treuherzigkeit und Gutgläubigkeit der Jugend schrieb ich eine Autobiographie, in welcher ich für Jordan all meine Qualen und die Zustände im Elternhause darlegte, machte dann ein »Zehnpfandpaket Gemüt« aus meinen Schriften, fügte auch Gedichte von Klages hinzu und schickte den ganzen Bulk gen Frankfurt, mit der Bitte, Jordan möge uns helfen.

Inzwischen ging die Tanzstunde mit Herannahen der Ostern ihrem Ende entgegen. Ihr Abschluß sollte der große Ball in Rudolphs Hotel sein. Wochenlang sprachen wir von nichts anderm. Aber am Vormittage des Balltages erfolgte der schwere Schlag, der all unsre Träume zertrümmerte.

Arglos war ich mittags aus der Schule heimgekehrt, als mich Christiane in das Studierzimmer des Vaters rief, und da ich eintrete, sehe ich mit starrem Schrecken auf dem Tische meine Papiere ausgebreitet, alle Papiere, die ich an Wilhelm Jordan geschickt hatte, auch die Autobiographie, in der ich so schreckliche Worte über Vater und Elternhaus gebrauchte. Mein Vater, gegen alle Gewohnheit beherrscht und ruhig, überreichte mir triumphierend einen Brief:

»Lieber junger Freund. Eine übergroße Inanspruchnahme mit Anliegen ähnlich dem Ihrigen hat mir seit Jahren die Regel aufgenötigt, jede solche Zusendung ungelesen zurückgehen zu lassen. Die erste Ausnahme von dieser Regel verdanken Sie den frischen Versen zu meinem Geburtstag sowie dem großen Ernst Ihres Begleitbriefes. Ich habe einige Abendstunden dazu verwendet, mir aus Ihren Manuskripten von meiner Tochter vorlesen zu lassen und kann Ihnen nach strenger Gewissensprüfung nur Folgendes raten: Versuchen Sie mit all der offenbar Ihnen zu Gebote stehenden Energie etwas Tüchtiges zu leisten und Sicheres zu erreichen in demjenigen Fache, welches Ihr Vater aus besserer Kenntnis Ihres Wesens, als sie mir zur Verfügung steht, für das bestgeeignete hält; wie zum Beispiel im Bankfach. Praktische Tüchtigkeit im bürgerlichen Leben hat noch niemals einer echten Begabung Abbruch getan. Ob Sie eine solche besitzen, läßt sich in Ihrem Alter nie mit Sicherheit sagen. Ihre Dichtungen offenbaren viel Angelesenes; Lesefrüchte, freilich daneben auch, zumal im Satyrischen einen eigenen Ton, zumal wenn Sie Schulerfahrungen mit Glück verwerten. Mehr kann und darf ich nicht sagen. Meister im Liede werden nur die Wenigen, denen es vergönnt ist, auch auf alten Schultern einen Kindskopf zu tragen.«

»Ein sehr vernünftiger Mann«, sagte mein Vater. »Endlich hast du mal die Wahrheit zu hören bekommen. Du siehst wohin eure Fisematenten führen. Deine Biographie? Ein Schurkenstück! Du hast versucht, deinen Vater anzuschwärzen. Ich weiß jetzt wie du denkst. Wir verkehren künftig in andern Tönen mit einander.« – Ich erschien mir vernichtet. Jordan, unser gebietender Gott, hatte mich gewogen und zu leicht befunden. Er hatte mich ausgeliefert an den Vater, vor dem ich zu ihm geflohen war.

Erst viele Jahre später erklärte mir Jordan den Zusammenhang. Beunruhigt durch meinen leidenschaftlichen und bitter anklagenden Beichtbrief, hatte er sich an eine ihm befreundete Familie in Hannover gewandt und diese um Auskunft gebeten über die Person des Vaters und die meine. Es war die Familie Kasten, die das größte Hotel der Stadt besaß. Aber zufällig war mein Vater seit Jahrzehnten Arzt und Berater dieser Familie und die Auskunft lautete: »Der Vater ist einer der besten und achtbarsten Männer der Stadt; der Sohn sehr überspannt, macht den Eltern bittere Sorgen.« Daraufhin hatte Jordan seinen wohlgemeinten spießerlichen Mahnbrief mitsamt den anvertrauten Papieren an die Person des Vaters geschickt.

Das war ein Schicksalsschlag! Am Abend sollte der große Ball sein. Meine Tischdame Fräulein Wedekind wartete mit den Kotillonschleifchen und Veilchen. Die Tischdame für Klages war Fräulein Westen. Schon den zweiten Winter warb er um ihre Liebe, und für diesen letzten Abend hatte er sich vorgenommen (so war es auf hundert Spaziergängen besprochen worden) endlich den großen Schritt zu wagen. Er wollte sie fragen (so wie Jordan Frau Ute gefragt hatte): »Wollen Sie die Meine werden? Wollen wir auf Lebenszeit zusammenbleiben?« Und nun mußte ich, so befahl der Vater, an Fräulein Wedekind die Botschaft senden, daß ich den Ball nicht besuchen werde.

Mein Vater verfügte – das war das Schlimmste – daß mir künftig das eigene Zimmer entzogen werde. Meine Mutter zog auf die Mansarde. Ich mußte künftig neben meinem Vater schlafen. Denn ich sollte nun unter seiner beständigen Aufsicht stehn. Mein Bücherschrank wurde gesperrt. Meine sämtlichen Papiere beschlagnahmt. Mein Vater verschloß sie in seine rote Kommode. Ich war verzweifelt. Am Abend, als er fortgegangen war, stülpte ich schnell die rote Mütze über, schlich aus dem Hause und lief entlang Hildesheimer- und Georgstraße zu Rudolphs Hotel, wo der Ball in vollem Gange war. Das Herz blutete; ich ließ durch den Portier Klages herausrufen. Er erschien hochroten Kopfes. »Mensch«, flehte ich, »es handelt sich um mein Leben. Komm in die Anlagen drüben am Theater. Du mußt hören.« – »Mensch«, flehte er zurück, »gleich fängt die Polonaise an. Bei der Polonaise werde ich es ihr sagen. Du kommst grade im wichtigsten Augenblick meines Lebens.« Der arme Freund! Er war im ernsten Kampf der Gefühle. Hier forderte ihn der Freund, dort wartete die Geliebte seiner Zuchtwahl. Wir rannten die hundert Male um das Marschnerdenkmal. Er hörte mit Schauder, was uns Jordan eingebrockt hatte, aber sein Glaube an diesen großen Mann war unantastbar. Schließlich riß er sich los. »Mensch« rief er. »Die Polonaise! Hörst du es denn nicht? Ich muß hinein. Sonst holt sie ein anderer. Jetzt, jetzt werde ich es wagen.« – Wir drückten einander fest die Hand. »Morgen in der Schule sprechen wir weiter.« Dann stürzte er sich in die Ehe und ich mich unter das Tyrannenjoch.

Das Sprichwort sagt: »Es wird keine Suppe so heiß gegessen, wie sie angerichtet wird.« Und so verlief in der Folge auch diese Sache leichter, als zu erwarten war. Mein Vater war allzu launenhaft, allzu unberechenbar. Ich hustete fleißig die ganze Nacht durch. Ich wälzte mich im Bett und tat geflissentlich alles, was ihn stören mußte. Es dauerte denn auch nicht lange, da schimpfte er: »Scher dich auf dein Zimmer.« Meine Papiere aber gab mir ein Zufall zurück. Eines Sonntags war große Gesellschaft. Seine Freundin wollte Zigaretten haben; die lagen verschlossen, und ich sollte sie holen. Am Schlüsselbund, den er mir gab, befand sich auch der Schlüssel zur roten Kommode. Schleunig bemächtigte ich mich meiner Papiere und schickte sie sogleich nach Berlin an Grete; ich wußte, die wird sie nie herausgeben. Mein Vater hatte meine Untat zwar gemerkt, aber er schwieg. Denn er wußte, daß ich mich eher totschlagen lassen würde, als diese Papiere wieder ausliefern. – Der arme Freund aber blieb unbeweibt. Am Morgen nach dem Balle wollte ich ihn beglückwünschen, aber wehmütig winkte er ab. »Mensch, ich konnte es ihr doch nicht sagen. Ein gräßlicher Zufall! Grade als ich es ihr endlich sagen will, reißt mir ein Hosenknopf. Er trullert übers glatte Parkett. Er blieb mitten im Saale liegen. Sie wird rot; ich werde rot. Wir starben fast vor Verlegenheit. Glaubst du, daß Jordan in einem solchen Augenblick die entscheidende Frage hätte stellen können?«

»Mensch«, sagte ich. »Sieh! So ist die Weltgeschichte! Wenn die Nase der Kleopatra ein Zentimeter länger oder kürzer gewesen wäre, dann gäbe es noch heute das »Imperium Romanum«. Setz mal den Fall, Marie Westen wäre vorbestimmt die Mutter eines Riesengenies zu werden. Dann wird jetzt das Riesengenie nicht geboren. Einzig darum, weil seinem Vater im entscheidenden Augenblick ein Hosenknopf abriß. Siehst du, das ist Weltgeschichte!« – Klages sagte tiefsinnig: »Fatum sive Heimarmene.« – Und nun waren wir schon wieder in der Philosophie. Und wenn wir philosophierten, waren wir glücklich.


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