Joseph von Lauff
O du mein Niederrhein
Joseph von Lauff

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Schluß

Strom und Niederung nahmen sich wechselseitig ins Schlepp. Sie wollten nicht Ruhe geben. Das Wasser blieb schaumig. Die Ankertrossen rissen und zerrten. Sämtliche Segel waren gerefft, die Flaggen eingeholt worden. Dazu tastete sich ein faustdicker Nebel über den Rhein, stieß in die Kajütenfenster hinein und ließ die Laternen nicht aufkommen, so daß die Schiffe nicht wagten, Tal- oder Bergfahrt zu halten. Dicke Wattepfropfen stauten sich zwischen den Schiffsrümpfen, stiegen hoch, um sich wieder platt auf das Wasser zu legen. Vereinzelte Sirenen begannen zu rufen, erstickten aber in den wolligen Schwaden. Der Klabautermann drehte ihnen Luft und Atem ab. Das schöne und sonst so heitere Emmerich lag vertarnt, als hätte ihm der Wettergewaltige eine graue und riesenhafte Schlafmütze über die Ohren gezogen. Aber trotz dieser diesigen Tage und Nachte – die heroische Tat der schönen Jakobine, der Tochter des allgemein beliebten Kapitäns und Reeders Pitt Hemskerk aus Grieth, flog wie eine silberweiße Möwe dahin und wurde in allen Baronien und Grafschaften des Binnenlandes angestaunt und bewundert.

Nein, diese Jakobine Hemskerk!

Eine zweite Johanna Sebus war in ihr plötzlich erstanden, nur daß sie das Glück gehabt hatte, bei ihrem heldenhaften Vorgehen ihr eigenes Leben gerettet zu haben.

Ernste und bedachtsame Männer und Frauen ließen es sich, ungeachtet der armseligen und bedrängten Zeiten, nicht nehmen, ihre letzte Weinbouteille anzustechen und ein begeistertes Hoch auf ihre kommenden Tage auszubringen – auf Jakobinens Glück und Gedeihen.

Ja, die vom Niederrhein!

Alle Gazetten führten es weiter. Sogar in den entlegensten Ortschaften war ein preisliches Loben und Darbieten, so fein und andächtig, wie das feine und löbliche Darbieten der Wachskerzen in den vielen niederrheinischen Gnadenkapellen. In den Gebeten der Priester wurde ihrer gedacht. Die Mütter hielten ihre Kinder an, abends ihre Händchen zu falten und den gefeierten Namen »Jakobine Hemskerk« zu Gott und seinen ewigen Sternen zu tragen.

Auch Michel Virgilis war Feuer und Flamme. Er trat ans Fenster und horchte in den Abend hinaus, in den nebeligen, dunstigen, naßkalten Septemberabend, den ab und zu vereinzelte Sirenen mit ihren heiseren Stimmen durchrissen. Aber sie kamen nicht weit, denn der noch immer straffe Wind erstickte sie mit seinen baumwollenen Tüchern. Erst um die halbe Nacht flaute er ab, begann es sich aufzuklären, flinzelten einzelne Sternchen, schälte sich ein hoffnungsvolles Morgengrauen heraus, stand in aller Herrgottsfrühe eine strahlende Sonne unter dem Himmelreich ... und wiederum, vielleicht zum letzten Male in diesem Jahre, ruhte die Welt in Gold, dehnten sich Strom und Niederung in leuchtenden Farben.

Halleluja, von den Toten erstanden!

Jakobine erhob sich in ihrer Achterkajüte.

Es war ihr so, als wäre sie von allen Fesseln befreit, als hätte sie ein Wundbett verlassen, auf dem sie nur mit knapper Not dem Tode entronnen.

An eine Rückwand der Kajüte gelehnt, schien sie mit offenen Augen zu schlafen. Ihre immer noch erregten Sinne gingen ins Uferlose hinein. Erst allmählich brachte sie sie wieder auf die richtige Fährte. Sie holte sie ein und hielt die große Heerschau über die letzten Tage und Stunden. Sie dachte sachlicher, abgeklärter darüber. Sie freute sich ihres Rettungswerkes und ihrer hilfreichen Werktätigkeit. Jedenfalls, sie hatte nicht vergebens gelebt, sondern war vollauf berechtigt, für ein Quentchen Abwegigkeit ein großes und edles Gegengewicht in die Schale zu werfen. Aber die Erregung des Blutes hielt an. Sie sah und hörte noch immer. Alle Ereignisse traten ihr lebhaft vor Augen. Sie vernahm verworrene Stimmen, die die Ewigkeit aufsuchten, das Schäumen und Schüttern des Wassers, das Gurgeln aus der Tiefe heraus, das Bellen unter den verlorenen Planken, das Stammeln und Beten auf den umbrandeten Bänken: »Herr, du mein Jesus, erbarme dich unser!« Sie sah das graue Phantom des eilig dahinziehenden verlorenen Kahnes, dessen Bordwände sich immer tiefer neigten, sich immer unaufhaltsamer ins Bodenlose versenkten. Und Opfer bei Opfer.

Nur wenige verstanden es noch, sich über Wasser zu halten. »Herr, erbarme dich unser!« Nur einer stand aufrecht – mit fliegendem Haar, in schwarzer Soutane – ein Priester, das Kruzifix in den Händen, ein Gottesstreiter, ein Kapitän seines Herrn und Erlösers – und dieser Priester war Klemens.

»War Klemens,« stammelte sie dumpf vor sich hin, »und sein Bruder heißt Reiner ... und dieser Reiner hat mich vor Gott und den Menschen ...«

Sie riß sich zusammen. Jeden Fetzen des stolzen Niederrheins raffte sie auf, umkleidete damit ihren reinen Körper, ihre keusche Seele, so daß jedermann sah: sie war wieder Jakobine Hemskerk geworden.

Und Jakobine warf sich zurück in ihrer ganzen jungfräulichen Herbe und Schönheit. Nichts haftete ihr mehr an: keine Zweifel, keine Bedenken, keine Wehleidigkeiten. Sie hatte nur sich und ihr eigenes Leben zu leben.

Das einfallende Spätsommerlicht machte sie heiter. Die Arbeit wartete auf sie, der Dienst, die strenge Zucht und Ordnung, die über und unter den geteerten Bohlen regierten.

Sie hörte auf das Plaudern des Kielwassers, das friedlicher aus der Tiefe heraufgurgelte, auf das Knattern der Topps, das nicht mehr so herrisch und bösartig die Lüfte durchsetzte.

Noch einmal kam es ihr starr von den Lippen: »Und dieser Priester, dieser Gottesstreiter und Kapitän seines Herrn und Erlösers war Klemens ... und sein Bruder heißt Reiner ... und dieser Reiner hat mich vor Gott und den Menschen ...«

Mit einem harten Schrei brach sie ab.

Gleich darauf sagte sie wieder in inniger Weise: »Mögen die Gnaden und Barmherzigkeiten des Herrn bei ihm sein und ihm seine Tage zu gesegneten machen.«

Aufgerichtet stand sie vor der niedrigen Spiegelscheibe, wusch sich vom Scheitel bis zu den schmalen Füßen herunter, warf sich ein derbes, aber schneeweißes Linnenzeug über den unberührten Leib, nestelte ihr blauschwarzes Haar zu einer breiten Flechtenkrone zusammen und begann damit, sich mit Strümpfen und Schuhen und dem warmen Untergewand zu bekleiden. Aber alles mit tiefem Bedacht und beschaulicher Ruhe, als bekundete sie, was der Unantastbarkeit und Heiligkeit ihres jungfräulichen Körpers gebühre. Dann warf sie den kurzen, festen Rock über die Schultern, die elfenbeinfarbig über ihren aufrechten Brüsten emporwuchsen. Jetzt noch das Leibchen aus ungebleichter Wolle... und sie stand stark und morgenfrisch in der Achterkajüte wie der herzhafte Tag in der Jahreszeit steht, wenn die Haselsträucher ihre Blütenkätzchen verstäuben, um Hochzeit zu machen, und die zirkelrunden Dotterblumen wie goldene Sterne auf den Deichflanken liegen.

Gleich darauf sprach ihr Vater vor, redete mit ihr und schloß sie fest in die Arme.

Hierauf begab er sich wieder auf Deck, sichtete ins Wetter hinein, suchte den Horizont ab und führte den angefeuchtete Finger der rechten Hand straff und strack in die Höhe.

»Gar nicht so übel,« sagte er nach einiger Weile, holte den Finger wieder ein und spuckte scharf über Bord hin.

Dann rief er nach achtern: »Welm Driesen!«

Welm Driesen kam wie aus einer Pistole geschossen.

»Kaptein ...?!«

»Alles proper an Bord?«

»Allens, Kaptein.«

»Und wie ist das mit der Ladung?«

»Bis gegen vier können die letzten Ausstände eingeholt werden.«

» All right! und das mit dem Wetterglas?«

»Steht so halb auf ›beständig‹.«

»Denke ich auch. Dann wären wir endlich so weit. Von Michel Virgilis habe ich Abschied genommen. Meine Tochter, so scheint es, hat sich neuen Grund und Boden erobert ... und ich hoffe somit, wir können bald wieder fröhliches Kielwasser haben.«

»Ganz meine Ansicht, Kaptein.«

»Dann Order an Beischiff und Lambert: Sofortige Bereitschaft. Auf Anruf ist alles parat und in Ordnung.«

»Wird in Bestellung genommen. Noch sonst was, Kaptein?«

»Daß ich nicht wüßte.«

»Na, gut denn,« und Welm sockte ab, um von Land aus an Bord des Beischiffs zu gehen.

Hemskerk sah ihm nach und dachte an vieles.

Das Geschick Jakobinens ging ihm nach wie ein gespenstischer Schatten, der von Zeit zu Zeit mit eisigem Frösteln über ihn herfiel. »Blexem! so 'ne herrliche Tat, wie nicht mehr zwischen Himmel und Erde zu finden, und so 'n stolzes und großmächtiges Frauenzimmer, wert und würdig, sich 'nen Hermelin um die weißen Schultern zu schlagen, als ehelich angetrautes Weib 'nem jungen Königssohn in den Armen zu liegen ... und so was wird einfach hingenommen wie 'ne schöne Predigt, oder 'ne gut assortierte Kartenpartie, oder wie 'ne amüsante alte Geschichte, um sie so hinterm Ofen an kalten Wintertagen unter die Leute zu bringen ... und so was zerreißt nicht die Himmelsgardine und schreit aus der Himmelstente herunter: Ein Königreich für Jakobine Hemskerk, dem alten Hemskerk seine einzige Tochter! und so was macht einen nicht kumpabel, dem Mannskerl da drüben so 'n bißchen unter die Stirne zu fahren?!« und sein Blick irrte ab, lief das gegenseitige Ufer an, bis weit ins Binnenland hinein, das der Reichswald mit schwachen Konturen abgrenzte.

»Verdammich!«

Groß Trauern kam ihn an.

Dem alten Rheinbären lief eine schwere Träne herunter.

Er wischte sie fort und sah wieder über das jetzt gemächlich dahinziehende Wasser und über die Achterkajüte.

»Jakobine, mein Döchting,« sagte er mit verzogenen Mundecken.

Hinter ihm ließen sich rasche Schritte vernehmen. Sie gingen über die breite Eichenplanke, die die schmale Gasse zwischen Kaimauer und Deck überbrückte.

Gleich darauf waren sie bei ihm.

Der Kapitän machte kehrt.

»Potz Wetter, sehe ich richtig?! Der Klemens! oder aber ...« und über das harte Gesicht riffelten sich schmerzliche Fältchen, »nach all der Biesternis, nach all den Opfern, dem verkosteten Leid und dem niederziehenden Malör unter meinen eignen Dachsparren, nach all den Tränen und Bitternissen – ich weiß nicht: habe ich da noch Klemens oder Hochwürden zu sagen?«

Der junge Kleriker schreckte zusammen.

Seine weiße Hand streckte sich aus, um die des Kapitäns zu erfassen, scheute sich aber zuzugreifen und ließ sie wieder verstört am Leibe herunter.

»Herr Kapitän, ich weiß nicht, wie ich das halten soll,« und seine Stimme war mit Tränen verhangen. »Ich habe hier nichts zu sagen, denn nach all der Not in Ihrem eigenen Hause, nach dem Wiederauferstehen meines eigenen Leibes, der nahe daran war, ausgelöscht zu werden wie ein Licht am Tag Allerseelen, und ohne Zutun eines von Gott gesegneten Weibes auch ausgelöscht worden wäre ...«

»Herr Kaplan, lassen wir das.«

»Herr Kapitän,« und die Augen des jungen Klerikers standen in einem herzzerreißenden Fieber, »nicht Sie haben zu bitten, sondern ich habe zu bitten, und wenn es Ihnen recht ist ... Ach, Herr Kapitän, ich weiß nur, daß ich bittere Wochen hindurch zwischen Toten wohnte, mir Flügel wünschte, aus dem Bereich dieser Toten zu kommen ... und so möchte ich bitten: ja, wenn es Ihnen recht ist, dann wollen wir es bei dem vertraulichen Ihr und bei Klemens belassen. Das gibt mir Mut und Zuversicht, ruhig zu sprechen und auch die Verstattung, den alten Kapitän Hemslerk in seiner Güte und Barmherzigkeit wieder vor mir zu sehen.«

»Klemens, so richtig. Hier meine Hand,« und die Pranke des Alten griff zu und legte sich fest um die Rechte des anderen. »Zwischen uns beiden soll es denn beim alten verbleiben, denn jeder für sich und Gott für uns alle,« und er tat einen schweren Atemzug und fragte: »Wie geht's denn zu Hause, besonders der Mutter und sonstwie?«

»Ich danke der Nachfrage. Sie lebt so dahin, wie die Menschen dahinleben, die nur noch an das Aufbügeln ihres letzten Hemdes denken. Von Reiner ...« und seine Stimme schrumpfelte ein, »darf ich hier wohl nicht sprechen.«

»Von Reiner ...?«

Dem Alten lief ein eisiger Frost über den Rücken. Er wollte was sagen. Aber Klemens kam ihm zuvor. Mit verhaltenem Atem begann er: »Es ist ein ewiges Ringen zwischen den Menschen, ein Sichnichtverstehen und Zerbrechen auf Erden. Mir ist so, als vernähme ich den lauten Schrei eines weidewunden Vogels über einer trostlosen Heide. Es ist alles so verschüttet um uns, so ohne Sonnenglanz und Sternenfeuer. Ich fühle es deutlich: es fällt ein grauer, feiner, immerwährender Aschenregen über uns her, und wir frösteln und frieren. Das geht nicht so weiter. Ich möchte wieder an Gottes Herdfeuer sitzen, in seinem Frieden, bei seinen stillen Geschichten und Legenden, um mir die kalte Seele und die kalten Hände zu warmen. Auch Mutter ... auch Reiner...«

»Auch Reiner...?!«

»Ja, auch Reiner. Denn er ist zumeist in die Irre gegangen. Sein Leben ist krank unter Bast und Borke. Seine Tage sind kalte Tage, und seine Nächte wollen nicht aufwärmen.«

»Dann mein lieber Kaplan ... Klemens, wie ist das?«

Der Alte sah ihm groß und still in die Augen.

»Nein, Klemens, dann müßt Ihr schon deutlicher werden. Warum zündet Ihr Gottes Herdfeuer nicht an, um Euch die kalten Seelen und die kalten Hände zu wärmen? Ich sollte doch annehmen, einem geistlichen Herrn könnte es nicht schwer fallen, gutes und braves Holz auf die erloschene Asche zu tragen. Es kann ihm doch nicht an Holzbeigen fehlen. Das wäre das richtige, denn sein Wort brächte es wieder ins Leuchten. Blexem! so wäre Gottes Herdfeuer aufs neue ins Brennen gekommen.«

»Das steht nicht bei uns, Kapitän.«

»Bei wem steht es denn, Klemens?« »Bei den Hemskerks.«

»Bei uns?!«

»Nur bei euch,« und Klemens' Stimme geriet in ein seltsames Flackern. »Der Herr hat im Wetter gesprochen, und im Angesichte des Todes werden auch verstörte Herzen wieder zu einsichtigen Herzen. Kapitän,« und der junge Kleriker raffte sich hoch, als müßte ihm ein schwerer Stein von der Seele herunter. »Nein, mir fällt es nicht schwer, gutes und braves Holz auf das gefährdete Feuer zu tragen, und ich sorge dafür von morgens bis abends – aber im Namen des Herrn, des Mittlers und Allerbarmers, ich flehe Euch an, hat denn Jakobine in all dieser Zeit kein erlösendes Wörtchen gefunden, ist sie nicht willens, auch ihrerseits ein Fünkchen auf die erloschene Asche zu tragen, auf daß Gottes Herdfeuer wieder die kalten Seelen und die kalten Hände erwärme, die jetzt bitterlich frieren ... ich meine ... O, ich harre des Herrn! ich meine, hat Jakobine ... denn ohne dieses ist alles nichts, ist nur ein klingendes Erz und eine tönende Schelle.«

Klemens verstummte, denn der Kapitän machte eine große und stille Bewegung.

»Wo soll das hinaus?« fragte er bitter, und wieder begannen seine Augen in einem hellen Wasser zu schwimmen. »Klemens, es liegen Tage und Wochen hinter uns, die selbst nicht die ältesten Kaptäne in schwerster Rheinnot durchgemacht haben, und es befinden sich Fälle darunter, die es mit 'ner regulären Seenot aufnehmen können, und so was geht einem schlimmer herunter, als den Mynheer mit dem kahlen Schädel und dem Tonstummel zwischen den kranken Zähnen zu 'nem Partiechen Sechundsechzig invitieren zu müssen. Aber um wieder an Gottes Herdfeuer die kalten Seelen und die kalten Hände wärmen zu können ... ja, Klemens, um Euretwillen und Eurer Rechtlichkeit willen – sie hat schon ein erlösendes Wörtchen gefunden ... und das ist vor kurzem gewesen und liegt mir im Sinn und zwischen den Lippen, als hätte sie es vor einer Stunde gesprochen. Ja so ...« und er sah wieder über das blanke, ziehende Wasser dahin und über die Achterkajüte fort, in deren Fensterscheiben das Sonnenlicht sich wie in lieben und traulichen Spiegeln ergötzte, um dann verloren vor sich hin zu sprechen: »Da sagte sie in ihrer ungezwungenen und kirchenstillen Gelassenheit: Die Erinnerung an das Geschehen in Borghees hat kein Erschrecken für mich ... und wenn ich sündigte – eine solche Sünde kann auch sein Martyrium und seine Heiligkeit haben. Lassen wir das, denn müßte ich mit dieser Sünde in die Ewigkeit gehen, ich glaube, die Himmelstür täte sich auf, ohne auf mein Klopfen zu warten.«

»Ah ...!«

Mit stummer Gewalt und dem Antlitz eines Verdürstenden hatte Klemens die Hände des Alten ergriffen.

»Und weiter, Kapitän,« rief er heiser. »Ich bitte darum, was sagte sie weiter?«

»Klemens, nur dieses.« Langsam fuhr sich der alte Hemskerk mit seiner borkenrissigen Hand über die Stirne, um seine Gedanken zu sammeln, gewillt sich das Herz aus der Brust zu nehmen und es dem jungen Priester zu zeigen.

»Klemens, sie sagte: Ich kann nicht Reiners Seele durchleuchten, und wenn ich es könnte, ich wäre zu stolz, auch nur einen brennenden Span zu erheben. Ich vergebe mich nicht und habe mich niemals vergeben. Was er zu tun gedenkt, hat er mit sich selber auszumachen. Ich rufe ihn nicht, suche auch nicht seine Hand. Täte ich es, ich schämte mich im Spiegel vor meinem eigenen Angesicht, denn ich bin eine Hemskerk. Wenn Reiner aber was will – ich warte, denn ich bin immer zu finden, wenn es auch schwer wird, die alten Saiten wieder in ein harmonisches Klingen zu bringen.«

»Mein Gott und mein Heiland!«

Der junge Kleriker streckte beide Arme gen Himmel.

Das scharfgemeißelte Antlitz verklärte sich, leuchtete auf wie das eines Hohenpriesters am Rauchaltare des Herrn.

»Kapitän,« und seine Seele jubelte auf, als würde sie von überirdischen Psaltern und Harfen getragen, »dann, Kapitän, habe ich eine hohe Mission zu erfüllen. Weist mich nicht ab, Kapitän. Eine heilige Flamme ist bei mir. Sie weist mir die Pfade. Ich komme mit hohem Geleit. Die Muttergottes von Dornick ist bei mir. Sie will Jakobine begrüßen.«

»Klemens ...!«

»Sie will.«

Der Alte erschauerte vor der Hoheit des Priesters.

Seine Rechte erhob sich.

»Klemens, da drüben. In der Achterkajüte ist sie zu finden.«

Mit einem dumpfen, zerbrochenen Laut brach er ab. Er wandte sich, und der wetterharte Rheinbär, der Mann, dem es schwer wurde, außer in seinem Kämmerlein und in der Kirche, das Vaterunser über die Lippen zu bringen, sank wie gemäht auf die Knie.

Seine Hände falteten sich.

»Mein Döchting, meine Herzensmamsell! Vater unser, der du bist in den Himmeln ...«

Als er sich aufhob, hatte Klemens bereits die Achterkajüte betreten.

Es war ihm so, als käme ein goldenes Scheinen vom Himmelreich und in diesem goldenen Scheinen schwebe eine silberne Möwe mit gebreiteten Schwingen – eine silberne Möwe, die anhub, weithin leuchtende Kreise über ihn und über den Strom und über die weite Gegend zu ziehen. –

»Ich bin die Auferstehung und das Leben. Was tot war, soll sich wieder dem Licht zuwenden und froh und fröhlich werden in Gott, auf daß ihm werde die Freude und die Andacht und die Seligkeiten, die ihm zugedacht waren vom himmlischen Vater.«

»Klemens – du ... Klemens – Sie sind gekommen?!«

Mit geschlossenen Augen, starr wie eine aus kaltem Stein gemeißelte Bildsäule, stand sie im Räume. »Jakobine ...!«

Langsam öffneten sich ihre verhangenen Blicke.

»Ja, ich bin wieder gekommen, einer, der schon gesonnen war, mit einem Fuß über die Schwelle der Ewigkeit zu treten ... und wärest du nicht gewesen ... Aber ich dankte dir schon, ich dankte dir beim heiligen Meßopfer und werde dir danken bei jedem Opfer, das Gott mir verstattet, in seinem geheiligten Namen darzubringen – und das ist das Höchste auf Erden. Nein, Jakobine ...« und seine Stimme wurde weich wider Willen, »ich bin der, der ich bin und berechtigt, in die Herzen der Menschen zu sehen, zu lösen, zu binden, wo Sünde ist, diese Sünde zu tilgen, und wo Verstörung sich findet, diese Verstörung hinwegzunehmen, als wäre sie niemals gewesen.«

Sie stierte ihn an, als wäre einer gekommen, der sich berufen fühlte, in blankem Eisen zur rechten Hand Gottes zu stehen.

»Was soll mir das, Klemens?«

»Jakobine ...«

Ein feines Lächeln spielte um die Mundecken des Klerikers.

»Geschrieben steht,« sagte er nach einiger Weile, »lieblich und schön sein ist nichts, aber ein Weib, das den Herrn fürchtet, ist alles. Du bist lieblich und schön und fürchtest den Herrn ... und wohl dem Manne, dem es vergönnt ist, eines solchen Weibes teilhaftig zu werden.«

Er war näher getreten, hatte ihre Hände ergriffen.

»Und wenn es wahr ist, was dein Vater mir sagte ...«

»Und was sagte mein Vater?«

Sie stieß es hervor, als wollte ein Sturm ihre jungen Brüste zersprengen.

»Er sagte: Ich kann nicht Reiners Seele durchleuchten, und wenn ich es könnte, ich wäre zu stolz, auch nur einen brennenden Span zu erheben. Ich rufe ihn nicht, suche auch nicht seine Hand. Täte ich es, ich schämte mich im Spiegel vor meiner eigenen Seele, denn ich bin eine Hemskerk. Wenn Reiner aber was will – ich warte, denn ich bin immer zu finden, wenn es auch schwer wird, die alten Saiten wieder in ein harmonisches Klingen zu bringen.«

»Das sagte mein Vater – dir ...?!«

Ihre Blicke öffneten sich maßlos, gingen in ein goldenes Leuchten hinein.

»Ja, das sagte dein Vater.«

»Und meine Sünde ... wenn auch nur eine Sünde, kaum zu umspannen und nur in Gedanken ...? Was soll mit einer solchen Sünde geschehen?«

Er legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Wenn du mit einer solchen Sünde in die Ewigkeit gingest, ich glaube, die Himmelstür täte sich auf, ohne erst auf dein Klopfen zu warten.«

»Und Reiner ...?!«

Sie schrie es, beide Hände an den pochenden Schläfen.

»Ja, Reiner ...«

Mit stummer Gewalt zog er sie an sich. »Gebet den Wein der Verzeihung denen, die nach ihm dürsten,« sagte er mit sicheren Worten und heiliger Inbrunst, »daß sie ihn trinken und ihres Elendes vergessen, zudem ihres Unglückes nicht mehr gedenken. So melden die Sprüche des Königs. Und sie melden zum andern: Tue den Mund auf für die Stummen im Lande und für die Sache aller, die verlassen einhergehen. So will es der Herr, so gebietet es die Liebe in ihrem Verzeihen und in ihrem Erbarmen. Und so wahr mir Gott helfe – ich tue den Mund auf ... denn Reiner ist bei mir ...«

»Reiner ...!«

Sie taumelte rücklings.

Sie mußte sich an einer Tischkante halten.

Ihre Augen waren wie mit Licht übergössen.

»Ja, Jakobine, ich rufe. Meine Stimme hat keine weite Reise zu machen. Sie braucht nur an das nahe Ufer zu pilgern. Dort wird sie ihn finden ...« und hohen Mutes verließ er den Raum, der erfüllt war von seiner Mission und seinen versöhnenden Worten.

Und siehe: keine drei Minuten vergingen ... und in der Achterkajüte standen zwei Menschen, die eine böse Stunde auseinandergerissen, die ein gütiges Geschick wieder vereinigte zeit ihres Lebens.

Dann ein Schrei, der die Planken durchstieß und sich mit dem Knattern der Topps und Wanten vereinigte.

»Reiner – ach, du!«

»Jakobine, vergib mir!«

Er kniete vor ihr, wie die Reuigen knien.

Er umschlang ihre Knie, drückte sein bleiches Gesicht in die Falten ihres jungfräulichen Schoßes.

Dann hob er den Kopf.

Er lechzte nach ihrem Munde.

Da beugte das hochgemute niederrheinische Weib ihr Haupt tiefer und tiefer, und ihr Mund küßte ihn wie nur ein reiner und stolzer Mund zu küssen vermochte.

Unter ihnen aber rauschte das Kielwasser seine ewige, uralte Weise, als hätte es ihnen das Brautlied gesungen.

Zwei Stunden später bekränzte sich die Schanktür am Krantor mit herbstlichem Laubgewind, schob sich eine Fahne mit den alten glorreichen Farben aus der Bodenluke des hochgegürteten Giebels.

Alle hatte die umsichtige Hand des wackeren Mynheers um den runden Tisch im Honoratiorenstübchen vereinigt.

Inmitten der Tafel erhoben sich zwei weiße, spiegelblanke Poularden. Daneben stand auf einem Kanzleibogen geschrieben: »Von Frau Türlings. Die eine für die kapiteinische Tochter, von wegen Errettung aus Rheinnot. Die andere dem hochwürdigen Herrn aus Huisberden, von wegen Beistand in tiefsten Seelenängsten und der bekömmlichen Sterbegebete. Selbige sind aufzusetzen in Dill, Petersilie und Pimpernell. Abzustammen ist nötig. Andere Zutaten können wegen der Herrichtung nicht schaden. Mögen sie schmecken und einige angenehme Stunden bereiten.«

Mynheer hatte auch das kleinste geregelt. Nichts war ihm durch die Wicken gegangen.

Auch Mutter Auwater hatte er zu holen gewußt, und nun saß sie an der Seite Hemskerks, der nichts Besseres zu tun hatte, als ihr seinen Kapitänsarm um die Taille zu legen und ihr einen Kuß auf die weinenden Augen zu drücken.

»Das auf Anzahlung,« sagte er munter, »die Rest- und Hauptsumme wird völlig erledigt, wenn das Kirchenbuch zuklappt und Hochzeit gemacht wird. Du aber, Michel Virgilis, gib mir die Hand, denn du weißt alles immer mit 'nem stolzen Aweck zu umkleiden. Dazu kann ich nur Blexem und Donnder zu sagen. Auch vergelt 's Gott noch. Und nun, Reiner, zu dir. Was nu einmal geschehen ist, das ist nu einmal geschehen. Gras soll drüber wachsen, ordentliches und duftiges Raigras, und kein Kamel soll erscheinen, um sich diese barmherzige Grasnarbe in den Magen zu fressen. Das übrige, Reiner – das war nicht besser zu machen. Ich meine das mit deiner Abschiedsgeschichte. Bravo! Ich diene, hat der große König gesagt. So richtig, denn jeder muß dienen, aber nur dem, der wert und würdig ist, seinen Dienst zu empfangen. Daß du den jetzigen Zeitläuften aufsagtest, ist gut. Das habe ich auch nicht anders von dem Sohn des alten Hegemeisters erwartet. Es gibt andere Herren genug ... als da sind die von Sonsfeld und Steengracht. Nimm an, wenn du willst, denn du wirst dort hoch und brav in Bewertung genommen. Aber noch besser ... Diene weiter deinem angestammten Herrn und König, deinem zukünftigen Weib und dem, was sie in die Ehe mit einbringt. Die Reederei wartet auf dich, und vierhundert Morgen prima Wiesen- und Salweidenland wollen bewirtschaftet werden.«

Und er hob sein Glas in die Höhe.

»So mag es geschehen, so und nicht anders. Sonst Fixfeuer auf die verdammelten Köppe. Und wenn ihr, du und dein Weib, so ums Abendschummern ins weite Land hineinseht, dann werdet ihr sagen: O du mein Niederrhein! Wir leben in dir, wir schaffen in dir, wir sterben in dir, und wenn die letzte Stunde uns kommt, dann bitte, siehe uns noch einmal ins Auge. Amen.«

Und die Gläser klangen zusammen, ganz leise, ganz heimlich, als wenn ferne, unendlich ferne Glocken ins Land klangen.

Dann wurde es stille. Die Menschen aber, die um den runden Tisch im Honoratiorenstübchen am Krantor saßen, sahen sich an und gaben sich stumm und versonnen die Hände.

O du mein Niederrhein!


 << zurück