Joseph von Lauff
O du mein Niederrhein
Joseph von Lauff

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Neuntes Kapitel

Dem seligen Morgen des seligen Tages war auch eine selige Vesperstunde beschieden, denn in diese Vesperstunde hinein wisperten die Rispen und Grannen im Krautgärtlein des Forsthauses, zwirnte das Rotkehlchen dicht neben dem Bildnis des dahingegangenen Hegemeisters sein Abendliedchen zusammen, legte Mutter Auwater ihre Arme um ein junges Weib, das ihr Reiner zugeführt hatte, und sagte in tiefer Bewegung: »Es ist ein banges Schaffen und Sorgen auf Erden. Nicht, daß ich klage gegen die Vorsehung und ihre ewigen Werke. Solches wäre gesündigt vor Gott und seinen himmlischen Heerscharen, denn durch meine Sorgen und Leiden hindurch klingelten auch die silbernen Glöckchen irdischer Freuden und schuldloser Hoffärtigkeiten. Alles zu seiner Zeit und nach der Fügung meines Herrn und Seligmachers ... und am heutigen Tage ... ach! da ist es mir so, als wären die silbernen Glöckchen zu goldenen Glöckchen geworden, als kämen sie aus dem Paradiese herunter, als würden sie zu hohen und heiligen Glocken, um das Wohlergehen meiner Kinder einzuläuten. Ach – Jakobine!« und ihre ruhige und beruhigende Hand glitt still über den Scheitel der Zugeführten, »es ist anders gekommen, als ich mir vorgestellt hatte. Erst dachte ich mir, ich selber, ich müßte Umschau halten unter den Töchtern des Landes, müßte hingehen und sagen: Ihr Herzensjungfrauen umher, ich habe einen lieben Sohn zu vergeben... und fühlte mich lieblich verstört... und sah in meiner lieblichen Verstörung nicht, wie die Vorsehung über mich fortging, mich sachte zur Seite drängte und gütig mir zuflüsterte: Unter den hochgemuten Jungfrauen des Landes gibt es nur eine, die ein wundes Herz zu heilen vermag, nur eine, die da sprechen könnte: Meine Liebe ist stark wie der Tod und ein Siegel für immer... und diese hat sich gefunden, denn siehe: Jakobine Hemskerk ist über meine Schwelle getreten.«

»Mutter, um deine Tochter zu werden.«

»Nur werden...? Bist du schon lange, mein Kind, denn mit dem Tage, wo Reiner mir sagte: sie ist still wie Büchsenlicht und ihre Seele rein und lauter wie der keusche Odem des Waldes, seit dem Tage liebte ich dich, bist du meine Tochter geworden. So...!« und sie atmete auf: »Jakobine, du, Reiner und ich, wir sind nicht allein in der Stube. Einer ist noch unter uns, den wir allzufrüh hingeben mußten. Vater ist von uns gegangen für ewiglich, aber sein Geist ist lebendig geblieben. Seine Freude war allzeit meine Freude, sein Leid das meine. Das ist seit seinem Tode nicht anders geworden. Wir teilen noch immer: die allerhellste und innigste Freude, das gleiche Leid, das man am besten unter vier Augen zu ertragen sucht. So komm' denn, mein Kind,« und sie führte Jakobine zu dem Bild mit dem schlichten Fichtenbruch, in dessen Nähe das Rotkehlchen seine glitzernden Perlen verstreute.

»Vater, du weißt es, ich habe vor vielen Jahren den lieben Gott herzlichst angefleht, uns noch eine Zeitlang denselben Weg wandern zu lassen, auf daß wir uns noch gemeinsam unserer Kinder erfreuen möchten. Der Herr aber hatte es anders beschlossen. Ich mußte mein Trauerkleid anziehen und habe es bis zum heutigen Tage um dich und deiner großen Liebe willen getragen. Mit der heutigen Stunde ist das anders geworden. Du bist einverstanden damit. Ich sehe dich lächeln, und das sagt mir genug, denn ich fühle es: statt der weißen Rosen wollen mir jetzt rote Rosen erblühen, Rosen der Freude, und da solche mir erblühen, so bist auch du dieser roten Rosen teilhaftig geworden, denn meine Freude ist immer deine Freude gewesen. Ach, lieber Mann ...« und ihre sanfte Stimme begann unruhig zu werden und leise zu zittern.

Die Arme Jakobinens hatten sich sacht und lind um ihren Nacken geschlungen.

»Ach, lieber Mann, nun freue dich doch. Vater, hier diese ... ich bringe sie dir ... unser Reiner hat sie gewählt ... und sie hat dazu Ja und Amen gesagt. Sie will sein Weib werden im Namen der allerseligsten Jungfrau, in deinem und meinem Namen. Das ist doch etwas Großes und Heiliges nach all dem Elend, nach all den Tränen, die über uns kamen, als damals in der Heideläufergemarkung, am Wildgatter, bei den verkrüppelten Birken, die Schüsse gefallen waren. Sieh hier, deine Tochter! Nun freue dich doch! Vater, nun freue dich doch!«

Sie kam nicht weiter. Die Arme Jakobinens umschlangen sie inniger. Der Mund des jungen Weibes legte sich fest auf den der beseligten Frau, die in ihrer Herzensgüte und tiefen Erregung nicht wußte, was sie anfangen sollte.

»Vater, nach all den Tränen, die über uns kamen: nun freue dich doch! Vater, nun freue dich doch!«

»Mutter, er tut es,« und ein weicher Mund schloß ihr die Lippen noch fester. »Ach du, vernimmst du denn nichts? Der Wald rauscht herein. Im Rauschen des Waldes glaube ich seine Stimme zu hören. Ja, ich höre sie deutlich. Er segnet uns alle. Auch das Rotkehlchen singt. Es bringt seine Grüße im Namen der allerseligsten Jungfrau, in deinem und seinem Namen ...« und das Rotkehlchen zwitscherte weiter und weiter. Unter seinem Gezwitscher und freundlichen Spintisieren vergingen die Stunden, die Tage, die Wochen. –

Die letzten Blätter drehten sich von den kahlen Bäumen herunter. Unter den Buchenbeständen des Reichswaldes spreitete sich ein purpurner Teppich, bestickt mit Christwurz und jungen Tannenschonungen, in denen die Weihnachtsstimmen schon geheimnisvoll zu wispern begannen. Dichte Nebel legten sich um die Altwasser des Rheines, verhäkelten sich mit den Deichen und Schleusenwerten, ließen allabends die erleuchteten Fenster in einem matten Dunstkreis ersterben. Der Stern von Bethlehem glitzerte durch die Himmelsgardine, drängte sich vor, und während er die Weltenräume durchlichterte, brauste und rauschte es durch die Herzen der Christenheit: »Stille Nacht, heilige Nacht,« zogen die Drei Könige aus Mohrland herauf, klingelten die Silvestergläser gegeneinander, um das vergangene schlimme Jahr gegen vielleicht ein noch schlimmeres einzutauschen, denn die Schande Deutschlands blutete weiter dahin, genau so wie die Wolke über dem Odenwald weiter blutete, rot von dem vergossenen Blute Siegfrieds, des Helden ... und dennoch: was lag dem großen Gestalter und Werkmeister an Deutschland und seinen Geschicken. Er hatte nur ein mitleidiges Achselzucken und Lächeln dafür, spielte mit seinen Weltenbällen wie einst und ehedem, zupfte die Gräschen aus dem lockeren Erdreich, betupfte den Seidelbast mit rosigen Flöckchen, ließ die Wässerchen emsiger gluckern, brachte die Vögel mit den langen Gesichtern ins Land und schaffte im kleinen wie im großen mit der gleichen Allmacht und Liebe, als werte für ihn das kreisende Gestirn genau so viel wie die Wassertropfen am Eimer, wie die Blumen an den Flanken der Deiche ... und siehe: die ersten Lerchen warfen ihre Lieder durch das Himmelreich, und die Ufer der Altwasser waren blau von Veilchen geworden.

Um diese Zeit geschah es ...

*

Von den smaragdgrünen Syringen tropfte der junge Maienregen, tropfte und tropfte, perlte und glitzerte in den Farben des Regenbogens, der weithin über der Niederung stand, und legte die Blüten des violettblauen und weißen Flieders sacht auseinander.

Bald darauf sprühte wieder das helle und blankgeputzte Sonnenlicht über die Landschaft.

Mutter Auwater stand um diese Zeit am geöffneten Fenster und sah auf ihren Blumen- und Krautgarten hinaus, der sich mit sichtlichem Wohlbehagen des erquickenden Maienregens erfreut hatte.

Feierliche Schritte bewegten sich den schmalen Kiesweg herauf. Nur ein pedantischer und umständlicher Mann konnte sich mit solchen vorbedachten und abgemessenen Schritten befassen, denn jedes Heben und Niedersetzen des Fußes schien nach streng logischen Gesetzen und Erwägungen vor sich zu gehen, folgte sich so selbstverständlich wie Ansatz und Lösung einer algebraischen Gleichung.

Ein schmächtiger und doch untersetzter Mann, dessen Oberkörper eine gewisse Verwandtschaft mit einer Pastorenbirne aufwies, war es, der durch die Frühlingsrabatten dem Forsthause zustrebte. Korkzieherartige Beinkleider, aus denen derbe Schuhe herauswuchsen, zierten den unteren Menschen, während ein schmalgesichtiger Kopf auf den eingezogenen Schultern saß, ein Kopf mit glanz- und schattenlosen Augen, über dessen rostfarbigem Haarschopf sich ein ungepflegter Zylinder in schräger Richtung emporsteilte.

Ganz in Schwarz gekleidet, die Hände wechselseitig in den Ärmelstauchen geborgen, kam er seines Weges gegangen – die verkörperte Ruhe, der unter Petschaft und Siegellack genommene Friede, die hingeschmalzte Seelenreinheit eines Gerechten in Israel.

Der einschmeichelnde Frühlingsgeruch nach Primeln, Veilchen und Ehrenpreis wagte sich nicht an ihn heran. Dafür streute er verschwenderisch sein eigenes Arom aus, ein herausforderndes Duftgemengsel nach Weihrauch und Myrrhen, tropfendem Wachs und sacht dahinschwelenden Dochten von Sterbekerzen.

In dieser levantischen Wolke rückte er näher heran, als ihn Frau Auwater von ihrem Fenster aus bemerkte.

»Mein Gott,« rief sie aus, »der Herr Stappers! Nein, diese Freude! Und wenn es nicht unbescheiden erscheint, möchte ich fragen: Gilt der Besuch mir oder dem Reiner?«

Da löste Herr Severin Stappers seine Arme, die wie Waschhölzer erschienen, aus den Ärmelstauchen, hob die Rechte feierlichst aufwärts und grüßte mit seinem Zylinder.

» Propter reverentiam – Ihnen, Madam.«

»Dann lasse ich bitten,« und alsbald saßen sich Mutter Auwater und der Küster und Kantor dicht gegenüber, erstere gespannt und mit kregelen Äugelchen, letzterer in seinem dunstigen Mantel von Weihrauch und Myrrhen, nachsinnend und die kleine und gütige Frau mit seinen schattenlosen Blicken umschleichend. Aber dieses Umschleichen, wenn es auch auf Katzenpfötchen geschah, es war reich an Freundlichkeit und von dem Wunsche beseelt, nur Gutes und Ansprechendes dem stillen Anwesen zu übermitteln.

Das schmale, glattrasierte, an den Wangen bläulich überlaufene Gesicht stand wächsern und eigenartig im Raum. Es hätte das Schweigen verkörpert, wären nicht nach einiger Zeit die vorgestoßenen Kinnladen langsam auseinander gegangen und die Worte verlautbar geworden: »Madam, bin ich vielleicht ungelegen gekommen? Wenn ich störe oder den Haushalt inkommodiere, dann bitte ich freundlichst um eine andere Stunde.«

Dabei stellte er seinen struppigen Zylinder auf die spitzigen Knie und striegelte darüber hin, als gälte es, irgendeinem Fetisch aus gegerbtem Hasenfell eine gediegene, wenn auch stumme Ovation zu erweisen.

»Sie stören keineswegs, sind mir vielmehr herzlichst willkommen, zumal ich annehmen will: Sie bringen mir irgend etwas Schönes, Herr Stappers.«

»Teils, teils,« sagte dieser und striegelte weiter. »Im Brunnen sinken die Eimer und steigen die Eimer, leere und solche mit köstlichem Wasser. Wie es kommt, meine verehrte Frau Auwater. Dem einen singt die Klarinette am Kirmestag: ›Freut euch des Lebens‹, dem anderen wird um dieselbe Stunde das betrübsame ›Es ist bestimmt in Gottes Rat‹ über die Grube geblasen. Das läßt sich nicht ändern, Madam. Für unsereins, der heute tauft, morgen 'ne Hochzeiterei mitmacht, um übermorgen mit der letzten Wegzehrung 'ner armen Seele über 'nen unbequemen Zaunpfahl zu helfen, ist Derartiges 'ne gewöhnliche und alltägliche Sache, obgleich ich zugeben will, daß es etwas Angenehmes an sich hat, wenn Leid- und Freudvolles sich in 'ner gewissen Wechselwirkung befinden.«

»Ganz richtig, Herr Stappers, und wenn ich nicht fehl gehe, haben wir es hier mit letzterem zu tun, also mit 'nem Gemisch von Leid- und Freudvollem.«

»Zu dienen, Madam, und die Frage ist die: wie beginnen? Ich meine, was kommt zuerst an die Reihe: der freudenreiche oder der schmerzhafte Rosenkranz?«

»Das steht in Ihrem Ermessen.«

» Propter reverentiam – steht in meinem Ermessen. Zu gütig.«

Er begann stärker zu duften. Dieses Mal ausschließlich nach tropfendem Wachs und sacht dahinschwelenden Dochten von Sterbekerzen.

»Also beginnen wir mit dem Leidvollen, von dem wir nicht wissen, wie soll es enden, mit welchen Folgerungen hat dieses Ungewisse Ende zu rechnen. In dieser Beziehung treten wir in das Reich der düsteren Schatten und Fragezeichen.«

Seine Stirne verfinsterte sich. Die Augenbrauen rückten näher zusammen. Die wimperlosen Augen versenkten sich wie Grubenlichter in die Tiefe der Zylinderröhre, als hätten sie von dort aus die Beweisstücke des Leidvollen an das Licht des Tages zu heben.

Jetzt schienen die Grubenlichter gefunden zu haben, was sie suchten.

Herr Severin Stappers zupfte seine weiße Binde zurecht und räusperte sich. Seine glanzlosen, fast bleiernen, nur matt opalisierenden Augen waren starr auf Mutter Auwater gerichtet.

»Ja,« meinte er endlich, »in dieser Beziehung treten wir zweifelsohne in das bereits angeführte Reich der düsteren Schatten und Fragezeichen, denn Pater noster, unser hochwürdigster Herr Jacobus Joannes Aegidius Hommersum ex Uedemerbruch, Pastor hujus loci, aetatis suae....«

»Aber mein Lieber, wollen Sie mir nicht in einer allgemein verständlichen Sprache das Weitere auseinandersetzen. Ich wäre dann in der Lage, besser folgen zu können.«

»Ach Gott, ich verstehe! Das muß mir immer passieren, aber wenn man so im Lateinischen drin steckt... Ich meine natürlich und Sie wissen ja selber: unser allbeliebter und hochwürdigster Herr Jakobus Johannes Aegidius Hommersum, gebürtig aus Uedemerbruch, zeitiger Pfarrer hiesigen Kirchspiels und im 78. Lebensjahre stehend, hat sich allzeit als eifriger Seelsorger, als getreuer und bedachtsamer Führer der ihm anvertrauten Herde erwiesen.«

»Das kann ich bestätigen.«

»Sein Leben war vorbildlich.«

»Auch dieses ist richtig.«

»Seine Rechte wußte nicht, was die Linke verausgabte.«

»Ich weiß es, Herr Stappers.«

»Dann wissen Sie auch: er war immer bestrebt, Gott zu geben, was Gottes, der katholischen Kirche die ewige Lampe selbstlos vorzutragen, ihr nach bestem Ermessen zu dienen.«

»Und tut es noch heute,« bestätigte Frau Auwater so herzensfroh, daß davon die Bänder ihrer geklöppelten Spitzenhaube unruhig wurden.

»Sie irren,« versetzte Herr Stappers mit dem Gleichmut eines Leviten am Brandaltare des Herrn, wobei er seinen Zylinder emporhob und ihn wieder auf die eckigen Knie placierte. »Er tat es. In ihm gipfelte die katholische Kirche, lebte sie, schaffte sie, sprach sie im Namen des dreieinigen Gottes. Aber leider, leider: unser Pater noster, unser hochwürdigster Herr Jacobus Joannes Aegidius Hommersum, Pastor hujus loci, aetatis suae... wollte sagen: unser ehrwürdiger Pastor und Seelsorger Herr Jakobus Johannes Aegidius Hommersum, bis vor kurzem ein seraphischer Kanzelredner, ein Tröster der Betrübten und Aufheber der Strauchelnden, ein Kasuist von lauterstem Wasser, als Katechet scharf und geschliffen wie eine Rasierklinge – ach! dieser sanftmütige und verehrungswürdige Herr ist nicht mehr imstande, die stolze und erhabene Bürde seines hohen Amtes allein auf eigenen Schultern weiterzutragen.«

Mutter Auwater lief alles Blut zum Herzen zurück.

»Christus, was Sie nicht sagen!«

»So ist es.«

Herr Stappers hob feierlich die Rechte und ließ sie gleich darauf wieder feierlich sinken. Seine Stimme erhob sich: » Exeunt omnes!! Wir müssen alle daran glauben. Friede und ewige Ruhe unseren Aschenkrügen. Es ist etwas Schönes um das Säuseln von Trauerweiden. Auch er muß daran glauben. Auch ihn werden die Trauerweiden umflüstern. Noch sind ihm Stunden, Tage, Wochen und Monate gegeben. Wir wissen nicht, wann der Herr ihn abruft. Aber das wissen wir: er ist mit Sankt Urbans Pein und Plage vielfach geschlagen. Besonders die letzten Wochen haben's ihm angetan, und da ging das nicht anders: in einer langen und trefflichen Epistel, verfaßt unter meiner Beihilfe, wurde er am hohen apostolischen Bischofsstuhl in Münster gewissenhaft und propter reverentiam vorstellig, um mit Rücksicht auf sotane Beschwerden und Gebresten unverschuldeten Ursprunges mehr oder weniger entlastet zu werden. Auf diess Schreiben nun fand sich das Episkopat in hohen Gnaden und mit allem Verständnis für die vorliegenden Gründe gerne erbötig... Aber – mein Himmel...!«

Herr Severin Stappers verlor Fassung und Atem.

Eine Art von Mundsperre bedrängte ihn. Der Kopf drehte sich langsam herum, und der Träger dieses Kopfes mit dem rostigen Haarschopf verstummte. Er verstummte, wie der Predigeramtskandidat Emil Eduard Wundermann bei seiner Präsentationspredigt auf der Kanzel in Schmalkastenhausen verstummte, als ihm so aus heiterem Himmel herunter die Nachricht wurde: Deinem Hause ist Heil widerfahren, denn dein dir rechtlich angetrautes Eheweib Euphrosine Desideria geborene Kurzgürtel wurde soeben durch Gottes Zutun und Beihilfe von drei gesunden Knaben entbunden. Alles wohl. Mutter und Kinder befinden sich in bester Verfassung.

Die Mundsperre löste sich wieder, und wie hingehaucht ließ sich ein schöner Name vernehmen.

»Angelika – du?« sagte er leise.

»Ja,« kam es energisch zurück, denn das adrette, appetitliche, wenn auch erregte Gesicht Frau Engelkes stand im geöffneten Fensterrahmen, musterte den Gatten von oben bis unten.

»Ich bitte darum,« rief ihr Mutter Auwater zu, »mich freundlichst beehren zu wollen.«

Das tat auch Frau Stappers, um gleich darauf sich wie der Mann mit der eisernen Maske aufzupflanzen, ihrem Herrn und Haushalter die Worte entgegenzuschleudern: »Wie kannst du es wagen, mich so lange im Ungewissen zu lassen, wo du doch weißt, welch großes Interesse ich an den Auwaters nehme, wie ich mich ihnen verpflichtet fühle? Seit einer vollen geschlagenen Stunde warte ich darauf, wie man hier die große Botschaft aufnehmen würde. Und nun muß ich sehen...«

Ihre Arme stemmten sich ein.

»Ich ersuche um Antwort.«

»Angelika,« und abermals schickte Herr Stappers seine schattenlosen Grubenlichter in die Tiefe der Zylinderröhre, »ein wohltuender Maienregen ist dazwischen gekommen.«

»Wie – ›ist dazwischen gekommen‹?«

»Weil ich mich meines neuen Gehrockes wegen genötigt sah, unterzutreten.«

»Wo bist du untergetreten?«

»Angelika, im ›Goldenen Anker‹.«

»Ohne irgendetwas zu nehmen?«

»Ich habe mir ein Gläschen Dünnbier geleistet.« »Schön, und als der wohltuende Maienregen vorbei war...?«

»Angelika, da dachte ich mir: Severin, besieh dir deine Tabakpflanzungen. Vielleicht ist dieser wohltuende Maienregen den zurückgebliebenen Blättern, besonders dem Sand- und Mittelgut, äußerst bekömmlich gewesen, denn wir können eine gute Ernte gebrauchen, haben sie sogar bitter nötig... und, Angelika, ich kann dir versichern: es war so, als wäre der liebe Herrgott in höchsteigener Person durch unsere Felder gegangen.«

»Severin, das sind müßige Experten, wie man solche Ausflüchte bezeichnet. Hauptsache ist, du hast dich in den ›Goldenen Anker‹ begeben, um deiner Genußsucht und deinem sogenannten Lebenswandel zu frönen.«

Die schattenlosen Grubenlichter hoben sich wieder aus der gähnenden Tiefe.

Die eine Hand legte er feierlich auf den Zylinder, die andere hielt er ihr flach und mit gespreizten Fingern entgegen. »Keine Unterstellung, Angelika. Propter reverentiam – ich bitte ernstlich darum. Lediglich das mit der Besichtigung der Tabakpflanzungen hätte ich hinhalten können. Der wohltuende Maienregen mit dem ›Goldenen Anker‹ jedoch war nicht zu umgehen. Die kleine Verspätung bietet doch keine Veranlassung, mir in diesem forstlichen Anwesen eine häusliche Szene zu machen... und daher: ich muß dringend ersuchen, dich mir gegenüber mäßigen zu wollen.«

Er schien krötig geworden.

Seine sonst mit Salböl getränkte Stimme nahm einen härteren Ton an, indem er fortfuhr: »In meiner amtlichen Stellung als Küster und Kantor von Huisberden darf ich mir solches nicht bieten lassen, niemals, selbst nicht bei unseren vertrautesten Freunden und Bekannten. Hinsichtlich meiner Pflichterfüllung habe ich mir nicht das geringste vorzuwerfen. Ich versäume kein Iota, habe niemals etwas versäumt. Meine Tätigkeit im aufreibenden Kirchendienst ist vorbildlich. Ich arbeite, um es in einem Atem zu sagen, von morgens bis abends, um dich, deine häuslichen Anforderungen und unseren reichlichen Nachwuchs mit knapper Not den Daseinsmöglichkeiten anzupassen.«

»Na, so was!« und Engelkes Augen huben an, bengalisch zu leuchten. »Wer trägt denn die Schuld an diesem reichlichen Nachwuchs? Bin ich etwa der alleinschuldige Teil? Bin ich diejenige welche? Oder sagst du nicht allzeit: Viele Kinder, viele Brotschnitten, aber auch viele Vaterunser? Nach dieser Legende richteten wir uns ein, denn kaum fällt mir ein Kleines von der Brust herunter, gleich darauf setzt ein anderes mit seiner saugenden Tätigkeit ein, um kaum nach Jahresfrist einem neuen Sprößling die nämliche Stelle zu überlassen, und da sollte ich annehmen... Nein, mein Bester, obgleich du geruhst, dich als Jammerorganist aufzuspielen – nicht du, sondern ich habe von diesem reichlichen Nachwuchs das meiste zu tragen. Du aber scheinst vergessen zu haben, was ich aus freien Stücken alles dahingehen mußte, lediglich aus dem Grunde heraus, mich Engelke Stappers benennen zu dürfen. Weißt du denn nicht... Ach! ich mag gar nicht daran denken, aber es fehlte nicht viel, ich wäre zweifelsohne Frau Baronin Angelika Riswyk auf Haus Borghees geworden, berechtigt, allsonntags in 'nem Mercedeswagen nach Sankt Aldegondis zu fahren. Das solltest du doch immer bedenken.«

Der also Belehrte fingerte verlegen durch seinen rostigen Haarschopf, dem die Farbe eines altbackenen Pfefferkuchens anhaftete.

»Angelika, tu' ich auch allzeit. Indessen, ich kann absolut nicht kleinkriegen, warum gerade dieser wohltuende und bekömmliche Maienregen herhalten muß, einen solchen unerquicklichen Auftritt heraufzubeschwören, zumal es sich lediglich um eine Zeitspanne handelt, während welcher ich mich gezwungen sah, mich im ›Goldenen Anker‹ aufzuhalten, um dann eine kleine, wohl zu billigende Exkursion in meine Pflanzung zu machen.«

»Hast du denn wenigstens deine dir aufgetragene Mission restlos erfüllt?«

»Angelika, propter reverentiam – ich bin noch dabei.«

»Ja, meine liebe Frau Stappers,« fiel Mutter Auwater ein, »bis jetzt ist er mit dem Leidvollen so ziemlich zu Rande gekommen.«

»Was – und mit dem Freudvollen nicht?!«

Engelke Stappers versteinte, wie das Weib Lots versteinte, als der Herr es für zweckmäßig hielt, selbiges mit einer gehörigen Portion Bittersalz zu überkrusten.

Sieben lange und bange Herzschläge hindurch währte diese Versalzung.

Dann löste sich die Versinterung auf.

Das Leben kehrte zurück, das Blut begann wieder zu kreisen.

Sie sackte auf einen benachbarten Sessel, umgriff ihre stattliche Büste, sah bald ihren Mann, bald Mutter Auwater an, um dann mit einem tiefen Seufzer zu sagen: »Was, bis zum Freudvollen, zum eigentlichen Zweck seiner Sendung ist er bis jetzt nicht gekommen?! Herr Jeses noch mal, da muß man dem Schaf ja seine eigene Wolle nachtragen. Aber ich werde...« und Engelke Stappers richtete sich zwischen den Lehnen straff und strack in die Höhe.

Ihre kregelen Äugelchen blitzten. Die runden Hände verschränkten sich. Ihre üppige Büste drohte die Frühlingsbluse nebst allen Nesteln und Zutaten auseinanderzerren zu wollen.

»Meine liebe Frau Auwater, so werde ich selber. Mein Mann hat's nicht gekonnt, um so mehr freue ich mich, Ihnen als schlichte und einfache Frau, die allerdings einstmals berufen schien, als Edeldame auf Haus Borghees zu sitzen, eine überaus wichtige Freudenbotschaft über die Schwelle tragen zu dürfen.«

Ihre Blicke nahmen einen überirdischen Glanz an, schienen mit Engelshaar und Lametta durchgeistert zu sein.

»Ja, meine liebe Frau Auwater, ich möchte fast sagen: Ein Engel ist hineingetreten ...«

»Halt!« rief Herr Stappers. »Diese Satzbildung ist grammatikalisch nicht zu rechtfertigen. In was denn hineingetreten? Angelika, du denkst wohl an das schöne Gedicht ›Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen‹ und wolltest den Anfang der zweiten Strophe zitieren, der da lautet: Zwei Engel sind hereingetreten. Also: sie sind herein- und nicht hineingetreten, und das ist nicht nur grammatikalisch, sondern auch ästhetisch vorzuziehen, sonst könnte man vielleicht an einen Kuhfladen denken.«

Frau Engelke verfärbte sich.

»Herr, bleiben Sie mir mit Ihrem Kuhfladen vom Leibe. Hier sieht man die Kinderstube eines Proletariers. Ich danke meinem Herrn und Erlöser, daß Gisbert Kreuzwendedich Riswyk nicht Zeuge dieses Ausdrucks gewesen ist. Ich, als seine beinahige Braut, müßte mich ja in Grund und Boden scharnieren.«

Herr Stappers bügelte verschämt seinen Zylinder.

»Verzeih mir, Angelika. Es sollte ja nur ein Witzchen bedeuten.«

»Wenn auch,« kam es grantig zurück. »In Gegenwart der ehrenwerten Frau Auwater dulde ich solche leschären Auslassungen nicht. Man könnte dabei ja in Teufels Speck- und Räucherkammer geraten. Im übrigen...« und ihr erregtes Gesicht legte sich wieder in ruhigere Falten, klärte sich auf und zeigte schließlich einen schönen Regenbogen, der das ganze Antlitz umspiegelte. »Im übrigen ist es völlig egal, ob ich sage: Ein Engel ist hinein- oder hereingetreten. Hauptsache ist, daß er sich in dieser Stube befindet. Ja, er befindet sich hier, und zwar in meiner Person, die sich gehorsamst als Engelke Stappers unterfertigt... und da der Abgesandte sich zu lange bei dem Leidvollen aushielt, will ich per sofort mit dem Freudenreichen beginnen.«

Und nun legte sie los.

Engelke Stappers bewies, daß sie unter ihrer adretten Stupsnase noch immer einen guten Infanteristen abgeben konnte.

Ihr Mundwerk marschierte. Sie sagte denn auch: »Das mit dem Herrn Pastor ist nicht so ängstlich zu nehmen. Er ist aber in die Jahre gekommen, und wenn die Semester so anheben, du lieber Gott noch einmal! dann hat man schon mit allerhand Gebrechen und Miesepetereien zu rechnen. Gewiß, mit seinen achtundsiebenzig Jahren kann er nicht mehr wie 'n Landbrieftrager von einem Kirchspiel ins andere überwechseln, aber er ist immer noch kräftig genug, seine Bouteille Wein zu trinken, das Hochamt zu lesen, auch dann und wann zu 'ner pläsierlichen Hochzeit seinen apostolischen Segen zu geben.«

»Dem pflichte ich bei,« versicherte Mutter Auwater.

»Meinen gehorsamsten Dank für getätigten Ausdruck,« gab Engelke zurück, um dann in gehobener Stimmung weiterzusprechen. »Also das Leidvolle ist somit nicht auf die große Wage zu legen. Es läßt sich ertragen. Auch der Herr Pastor Hommersum kann es gleichfalls ertragen. Bloß die auswärtigen Gänge, so bei Schnee- und Graupelwetter, bei glühendem Sonnenbrand und lelken Hochwasserzeiten – die, meine liebe Frau Auwater, sind von ihm nicht mehr so richtig auf dem laufenden zu halten, weil ich die Ansicht vertrete, reißmatische Beine und die hierzu benötigten Selfkantpantoffeln können Ruhe gebrauchen, sind der äußersten Schonung bedürftig. Das hat unser hochwürdigster Herr Pastor auch eingesehen, sich dieserhalb an den bischöflichen Hochstuhl in Münster gewandt und mit Rücksicht auf seinen jetzigen Zustand um 'ne jugendliche Hilfskraft gebeten. Das ist so rund herum vor gut drei Wochen geschehen.«

Sie wandte sich um und sah ihren Mann an.

»Stimmt das oder bin ich irrig im Datum?«

»Nein, es stimmt,« sagte dieser, froh, von seiner besseren Hälfte wieder gewürdigt und in Anspruch genommen zu werden, »denn ich habe sotanes Schreiben, gerichtet an den Vicarius generalis, eigenhändig, unter Befolgung aller Vorsichtsmaßregeln auf das Postamt getragen. Auf dieses gewichtige Schriftstück nun kam heute morgen mit der ersten Bestellung...«

»Severin, das ist meine Angelegenheit. Du hast bis jetzt nur Talmi geredet, ich aber komme mit veritablen Goldplomben zwischen den Zähnen,« und die vive, pummelige, noch immer begehrenswerte Angelika Stappers trudelte hoch, schritt energisch auf Mutter Auwater zu und bekam sie mit beiden Händen zu fassen.

Mit leuchtenden Augen, die aussahen, als wären jubilierende Ostern und farbenfreudige Pfingsten auf ein und denselben Sonntag gefallen, gackerte sie über sie hin: »Ich halt's nicht mehr aus, ich muß Rapportierung erstatten. Denken Sie nur, meine herzensgute Frau Auwater: Gott ist gerecht, und seine Wege sind unmögliche Wege!«

»Sind sie,« nickte Herr Stappers.

Hierauf legte er sich in seiner ganzen Länge und äußerst zufrieden in den Sessel zurück, nunmehr der felsenfesten Überzeugung, die Angelegenheit ist spruchreif geworden. Er könne sich sonder Bedenken auf seinen Altenteil zurückziehen.

»Ja, meine liebe Frau Auwater, ganz unmögliche Wege! Denn in aller Kürze dargelegt: Herr Hommersum hat beim heiligen Generalvikariat um eine junge Hilfskraft gebeten, die just die letzten Weihen empfängt – und ist bei diesem Bittgesuch auf Herrn Klemens verfallen.«

»Auf meinen Klemens, Frau Stappers?«

»Ja, auf Ihren Klemens, und was die Hauptsache ist...« und eine schwere Stimme rollte dazwischen, die Stimme des Küsters und Kantors: »Das Bittgesuch wurde genehmigt. Herr Klemens wird in aller Kürze als wohlbestallter Kaplan für das hiesige Kirchspiel verpflichtet und eingeholt werden.«

»Und seine Primiz...?«

»Wird er in hiesiger Pfarre begehen.«

»Mein Gott und mein Heiland!« und die kleine und gütige Frau stand wie auf Tabor, so verklärt wurde sie, eine solche hohe und stolze Gloriole war um sie und um alle gebreitet.

»Ihr Lieben, ihr Guten! Ihr seid zur Primiz alle geladen – Sie, meine liebe Frau Engelke, und Sie, mein lieber Herr Stappers.«

»Machen wir,« sagte der Küster, groß und getragen, und schwenkte dabei seinen struppigen Zylinder gesinnungstüchtig aufwärts und abwärts, stets wiederholend: »Machen wir, meine liebe Frau Auwater,« um dann geheimnisvoll wie ein Rotkehlchen zu pfeifen: » Lauda Sion Salvatorem...«

Draußen begann es wieder leise zu träufeln. Ein warmer, wohltuender und gesegneter Maienregen rieselte nieder. Er befruchtete alles und jegliches: die Mutter Erde und die Herzen der Menschen.


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