Joseph von Lauff
O du mein Niederrhein
Joseph von Lauff

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Neunzehntes Kapitel

Überall stickige Luft. Dazwischen ein Stoßen von herzhaften Böen.

Eine gute halbe Stunde stromabwärts und am diesseitigen Ufer sah man Emmerich liegen, aber nur in Dämmerungen, in dunstigen Umrissen. Die kupferne Sonnenscheibe war tiefer gesunken. Sie machte schon Anstalten, gemächlich hinter Huisberden unterzutauchen. Der Wind blies stärker aus Norden. Der Rhein zeigte bösartige Schaumkämme. Die halbkahlen Pappeln, die die Fährstelle umstanden, schwankten auf und nieder wie Totenbeterinnen. Ein eigenartiges Sausen kam aus der Höhe herunter. Verspätete Krähenvögel ruderten ab und flogen langsam dem tiefen Westen entgegen.

Der düstere Strom zeigte wenig Betrieb. Nur ein holländischer Steamer schaufelte prustend zu Tal und spreitete seine rotbraune Rauchfahne mit holländischer Schwerfälligkeit über das Wasser. Sonst nichts. Weit und breit ließ sich weder Schiffsrumpf noch Segel erblicken.

Der Fährmann machte sich an seinem Fahrzeug zu schaffen, legte die Riemen zurecht und suchte etwas überhastet die Kette vom Pfahlring zu lösen.

»So 'n niederträchtiger Kloben! Verflüchtig!«

»Nur Ruhe, Schepers,« sagte Klemens und sah in das Wetter hinaus, das immer ungemütlicher und diesiger wurde.

Neben ihm harrten zwei Bäuerchen des Übersetzens. Etliche Marktfrauen aus Kleve gesellten sich ihnen. Sie hatten die reiche Gegend von Dornick nach Eiern und Mistkratzern abgesucht, sie in ihre Kiepen und Körbe verstaut, um sie anderen Tages mit gutem Profit unter die Leute zu bringen.

Eine besonders kräftige, überbrüstige, mit der niederrheinischen Knippmütz bekleidete Dame war unter ihnen und zeigte ein reges Interesse für den geistlichen Herrn.

Sie machte sich denn auch naher heran, betrachtete ihn und dann wieder den vierschrötigen Schiffer, um schließlich zu sagen: »Wenn Hochwürdon gestatten, wir sind sonst mit 'nem anderen Nachen übergefahren.«

»Meine ich auch,« gab Klemens zurück. »Schepers, wie ist das?«

»Ja, Herr Kaplan,« sagte dieser mit lurksiger und verrosteter Stimme, »vandag hat sich jedereins nach den Umständen zu richten. Mein Bruder hat den anderen genommen, um 'ne schwere Last Korbweiden nach Grietherorth zu führen. Man hat eben mit die Groschen zu rechnen. Mein Bruder genau so wie ich, und da müssen wir uns schon mit diesem behelfen.«

»Was, mit diesem Seelenverkäufer?!«

»Ganz wurschtig! Es kommt bloß darauf an, wer so 'nen Seelenverkäufer mang die Riemen bekömmt. Also, bitte, angtree!« und zu den Marktfrauen gewendet, rief er mit dem scharfen Kikeriki eines übermütigen ordinären Dorfhahnes: »'rin ins Vergnügen, ihr Mistkratzer- und Eierkarlinen!«

Die besonders kräftige und überbrüstige Dame ereiferte sich.

»Schepers, was soll das?!« fragte ihn Klemens. »Ihr habt es hier mit braven und anständigen Frauen zu tun, und ich muß mir verbitten ...«

»Nichts für ungut, Herr Kaplan, aber was kann ich dafür, wenn ich solche Redensarten in der Gewohnheit besitze?«

»Nein, Herr Kaplan,« warf die komplette Dame dazwischen, »das stimmt nicht, das hat er sonst nicht in der Gewohnheit. Aber er ist soeben erst aus dem ›Fröhlichen Landmann‹ gekommen, wo er sich seine vier bis fünf Schoppen genehmigte, und da ist er auf die Mistkratzer- und Eierkarlinen verfallen.«

Indigniert drehte sie sich auf die andere Seite.

Klemens runzelte die Brauen.

Er sah über den Rhein hin.

Dann wandte er sich wieder an Schepers.

»Also doch! Im ›Fröhlichen Landmann‹ gewesen und dabei vier bis fünf Schoppen getrunken?«

»Herr Kaplan, bei das lange Warten und das ungemütliche Wetter ...«

»Und in diesem Zustand wollen Sie fahren?«

»Ich?!« und Schepers warf sich lachend in den Brustkasten: »Kleinigkeiten! Nicht zum Ankieken. Für so was klemmen kouragierte Frauenzimmer nicht mal die Röcke zusammen. Nee, Herr Kaplan, da habe ich schon ganz andere Sachen geleistet, Sachen mit 'ner gehörigen Portion Nothelfer mang die Zähne. Aber sonder Besien: ich hab' sie einfach beim Kanthaken gekriegt und sie glattweg erledigt.«

Er stammelte etwas, machte blanke Augen und schlug sich auf die Wolljacke, daß es knallte.

»Glattweg erledigt. Ich ...!«

»Na, denn mit Gott!« sagte Klemens.

Bald darauf glitten die schmalen Planken vom Ufer.

Klemens saß hoch am Steuer, Schepers führte die Riemen, die beiden Bäuerchen vom Emmericher Eiland und die Klever Marktfrauen hockten auf den Bänken herum wie verschüchterte Hühner, denn es ging nun hart gegen das störrische Wasser, das sich immer ungebärdiger zeigte und seine hämische Freude daran hatte, mit gelben Tatzen über die Bordwände zu stoßen.

Dann und wann ein leises Seufzen und Stöhnen.

Die Angst hatte sich mit eingebootet.

Nur die Dame in der opulenten Klöppelhaube ließ sich nichts anmerken, obgleich sie dann und wann das jenseitige Ufer mit heißen Augen aufsuchte und dabei fieberhaft die noch zurückzulegende Strecke abtaxierte.

Sie saß pielgerade aufrecht, heilig gewillt, den zwei Bauerchen und ihren Kolleginnen ein aufmunterndes Beispiel zu geben. Nur keine Angst. Jegliche Unruhe konnte bei so einer Überfahrt verhängnisvoll werden, besonders bei einem solchen Wetter und nach einer Einkehr im ›Fröhlichen Landmann‹ mit ihren vier bis fünf Schoppen.

Sie wurde den aufdringlichen Gebanken, der sich mit dem Fährknecht und den vier bis fünf Schoppen beschäftigte, nicht los. Er bohrte sich in ihre Seele hinein wie der grindige Schnabel einer Saatkrähe in eine vermadete Ackerscholle. Herr Jeses noch mal! immer dieser ›Fröhliche Landmann‹, diese vier bis fünf Schoppen!

Ihre stillen, braunen, aber scharfgeschliffenen Augen, die zielbewußt zwischen den breiten Schläfen standen, nahmen Schepers aufs Korn, beobachteten ihn wie ein braver Hühnerhund eine Feldhuhnkette bestätigt.

Da merkte sie, sie kamen so recht nicht von der Stelle, näherten sich kaum dem anderen Ufer, das immer mehr ins Wesenlose versackte und sich kaum noch mit den Blicken umgreifen ließ.

»Herr Schepers, Ihr müßt den linken Riemen mehr anziehen.«

Schepers grinste sie an.

»Frau Türlings, kümmert Euch gefälligst um Eure Eier und Hinkels, aber nicht um meine vier bis fünf Schoppen. Oder habt Ihr sie auf Eure Rechnung genommen? Ich würde merci zu sagen.«

»Ach was! ich spreche jetzt von dem niederträchtigen Riemen.«

»Meine Sorge, Frau Türlings.«

Er lachte.

»Jaja, Herr Kaplan, man hat schon seine Last mit diesen Eierkarlinen.«

»Na, so was!«

Frau Türlings stieß einen heiseren Schrei aus.

»Das ist doch unerhört, einem so was immer unter die Nase zu halten.«

»Schepers,« rief Klemens ihn unwillig an, »ich hab's Euch schon einmal gesagt: Laßt mir die Frauen in Ruhe. Denkt mehr an Eure Arbeit. Ich glaube, wir haben sie nötig.«

»Herr Kaplan, nichts für ungut. Nee, nichts für ungut, Hochwürden. Für die katholische Kirche bin ich immer zu haben, denn ich taxiere sie für die einzig richtiggehende Kirche.«

Dann begann er zu lallen, strammte die Schuhe gegen die Kielrippen und legte sich straff in die Sielen.

»Nu fleckt die Geschichte, oder ich will mich nicht Dores Schepers benennen.«

Die Riemen holten mächtig aus, durchschnitten das Wasser wie mit Rasierklingen, griffen schwer in die Tiefe ... und trotzalledem: das gegenüberliegende Ufer rückte nicht näher, hüllte sich in Schweigen und Dämmerungen.

Die kupferne Scheibe war spurlos verschwunden. Die letzte Helle, die noch im tiefen Westen zwischen den ziehenden Dünsten aufgeisterte, verzehrte sich in sich selber wie das matte Blinken in den Augen eines Sterbenden.

Die Marktfrauen schoben sich enger zusammen. Eine begann ein Stoßgebetlein zu sprechen – ganz verhutzelt, ganz aus Angst zusammengebettelt.

»Unsinn!« rief Schepers. »Immer die langen Vaterunser und die mageren Trinkgelder. Stellt das Kind auf den Kopp und es kriegt 'ne andere Visage. Aber so! Das ewige Geseire – das stört bloß.«

Klemens sprach erregt auf ihn ein: »Nein, das stört nicht. Den lieben Gott kann man immer gebrauchen, vornehmlich, wo wir uns in den Händen eines so pflichtvergessenen Fährmanns befinden.«

»Herr ...!« murrte es von der Ruderbank her.

»Halten Sie Ruhe, oder ich könnte mich als Priester vergessen!«

»Meine ich auch,« versetzte die komplette und kräftige Dame.

»Aber Christus, was ist das?! Meine Schuhe stehen im Wasser.«

Ihre Stimme zerbrach in einer heftigen Bö, die plötzlich aufkam und den Rhein in langen Regenfäden überstriemte.

»Ja, sie stehen im Wasser! Das kommt von dem Fahrzeug. Es ist miserabel kalfatert.«

»Gut oder miserabel kalfatert,« lallte Schepers, »davon ist jetzt nicht die Rede. Laßt mich aus ihr – allmiteinander! Kinder, laßt mich in Ruhe! Die Feinheit beginnt erst. Also los denn dafür! Wir sind mitten im Strom und müssen die Trift hinter uns kriegen. Das hundsföttische Blasen ist doch nicht auf mein Konto zu setzen. Hoidoho!«

Die Riemen packten fester und zugreifender an.

Eine neue Bö sprang auf, warf das Fahrzeug aus seiner Richtung, drückte es seitwärts. Der Rhein nahm ein böses Gesicht an.

»Christus, das Wasser steigt höher!« jammerte die stattliche Dame.

»Tut nichts! Nur diese sträflichen Böen! Verdammich!«

»Schepers, mehr mit dem linken Riemen heran, sonst kommen wir nicht aus der Strömung heraus. Außerdem: unterlaßt das Wettern und Fluchen. Das bringt uns nicht weiter. Wir treiben ja ab, statt landwärts zu kommen. Mensch – Sie, Sie haben hier Menschenleben zu fahren.«

»Herr Kaplan, haben Sie oder ich hier zu reden? Sie mögen gut auf dem Predigtstuhl sein, auch dort wie 'n Wachslicht aufgehen, aber hier, Herr Kaplan ...« und er ließ den linken Ruderschaft fahren, um mit seinem Arm herrischer gestikulieren zu können, »aber hier, Herr Kaplan ... hier auf dem Wasser ... Wissen Sie was: schon fünfundzwanzig Jahre hindurch habe ich das meine geleistet und bin vandag noch immer kumpabel ... aber Himmel und Herrgott...!«

Wild torkelte er auf. Er griff ins Leere hinein.

»Verdammt! der linke Riemen zum Deubel! Aber das kommt von den weisen Ermahnungen und den vier bis fünf Schoppen, die mir die Mistkratzer- und Eierkarlinen anhängen wollen.«

Ein einziger Aufschrei.

Die Planken zitterten. Das Wasser röchelte. »Tut nichts!« brüllte Schepers dazwischen. »Auch egal, wo ich mein Logis beziehe, hier oder drüben. Fort mit Schaden! Wo der eine hinmachte, kann auch der andere hinmachen ...« und er packte den zweiten Riemen, um ihn mit gewaltigem Ausholen ...

»So 'n Strundzeug ...!«

Ein Schrei gellte auf, wie der Schrei in einem Narrenhause.

Gottes Hand packte zu, und Gottes Hand packte Dores im Nacken.

Noch ein ›Gottverdammich!‹ und ein trunkener Körper fühlte sich über den Bordrand geworfen. Bleiern, ohne nochmals aufzutauchen, versank er.

Alles vereiste, stierte auf die entsetzliche Stelle.

Klemens stand hoch beim Steuer. Mit eiserner Hand umgriff er die Pinne, um mit der anderen das Zeichen des heiligen Kreuzes gegen das gurgelnde Wasser zu machen.

»Absolvo te!« rief er mit heißer Inbrunst, um sich gleich darauf an die verstörten Passagiere zu wenden: »Nur Andacht und Vertrauen in Gott! Wir befinden uns mitten in Trift und Strömung. Ich bleibe am Ruder. In Emmerich kann uns Hilfe werden. Also harren wir aus im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Lasset uns beten.«

Das wirkte wie Salböl.

Die verängstigten Menschen beruhigten sich.

Aller Augen waren auf Klemens gerichtet, der hoch auf Posten stand und mit blanken Augen die Pinne regierte, obgleich er fühlte: das schlecht kalfaterte Fahrzeug ist im langsamen Sinken begriffen.

Kein Halten und Dämmen mehr!

Die morschen Planken rasten stromabwärts.

Klemens stand aufrecht, die Blicke starr geradeaus wie die eines Sehers. Sein Schattenriß erhob sich steil über dem grauen Fahrzeug, das mit tobender Hast inmitten des Stromes dahingurgelte, unaufhaltsam, in einer wütenden Trift ohne Ende.

Es war so, als hätte der Tod seine große Talfahrt gehalten.

Kein Zweifel mehr: das Kielwasser stieg. Die Bordwände sanken immer tiefer und tiefer. Zur Rechten und Linken zogen die Ufer wie niedrige Kirchhofsmauern vorüber.

Klemens rührte sich nicht. Die eisigen Windstöße, die plötzlich aufsprangen, zerschnitten ihm das Gesicht, lähmten ihm die Hand, die das Steuer gefaßt hielt.

Seine Blicke durchstießen die graue Luft, ersehnten den rettenden Hafen mit dem Durst eines Verschmachtenden in der Wüste.

Endlich!

Er atmete auf.

Ein verstörtes Bäuerchen, das sich direkt unter den Schirm und Schutz der tapferen Frau Türlings gestellt hatte, rief verklammt aus seiner Ecke heraus: »Herr Kaplan, ist es so weit? Müssen wir sterben?«

Ein Wimmern folgte, das an das eines verschüchterten Kindes erinnerte. Noch hielt die straffe Haltung des jungen Klerikers Ordnung und Zucht zwischen den gefährdeten Planken. Aber die zurückgehaltene Angst begann langsam mit ihren stumpfen Tatzen über die Herzen zu kriechen.

»Herr Kaplan, müssen wir sterben?«

Klemens streckte die Hand aus. Er deutete stromabwärts, in Richtung, wo Emmerich liegen mochte. Einzelne Lichter hellten dort auf.

Er wollte was sagen. Aber die behäbige Madam kam ihm zuvor. In ihren braunen Samtaugen, die zuversichtlich die Gestalt des Steuermannes umklammerten, leuchtete es auf mit dem Feuer des gottseligen Vertrauens und der Hingabe, das Berge versetzen konnte.

Sie rief durch die Windstöße hindurch: »Und wenn auch der Tod zwischen uns sitzt, um uns mit sich zu nehmen – der Herr Kaplan ist auch vorhanden. Und der Herr Kaplan ist der Stellvertreter Gottes auf Erden. Also ist auch der liebe Herrgott zwischen uns und wird nicht ermangeln, sondern es schon so einrichten, wie er es für notwendig befindet. Nicht, Herr Kaplan? und wenn es nicht anders sein kann, dann im Namen des Herrn: sein Wille geschehe.«

Sie flocht ihre Hände zusammen.

»Herr Kaplan, für alle Fälle: wäre es nicht gut, uns auf ein würdiges Sterben vorzubereiten? Es braucht ja nicht sein, ich meine das Sterben, und ich denke, es wird auch nicht kommen, aber man kann immer nicht wissen ...«

»Jesus Christus, sei mit uns!«

»Herr, erbarme dich unser!«

Die farblosen Lichter rückten immer näher und näher. Aber das Kielwasser stieg. Vom Himmel fiel es mit Floren herunter.

Der sinkende Kahn raste in immer schnellerer Flucht stromabwärts. Noch hielt er Balance. Aber Spritzer flogen über ihn fort. Gierige Wasser stierten über die Bordwände, benagten die Planken, folgten ihnen wie eine Meute von grauen Wölfen.

»Herr Kaplan, Herr Kaplan!«

»Ja, ich will!« rief Klemens durch die Böen hindurch, und seine Stimme erschallte wie die Stimme des Herrn, wenn sie zu den Bedrängten und den Verzweifelten redet: »Herr, du mein Gott, wenn unsere kalten und bebenden Lippen deinen anbetungswürdigen Namen zum letzten Male suchen und aussprechen, dann, o barmherziger Jesu, erbarme dich unser!«

»Herr, erbarme dich unser!«

»Herr Kaplan,« rief es ihm zu, »immer man weiter, immer man weiter!«

»Herr, wenn die letzten Seufzer der Herzen unseren Seelen gebieten, vom Leibe zu scheiden, dann nimm diese Seufzer als Wirkungen einer heiligen Ungeduld, zu dir zu gelangen und in den ewigen Tempel Gottes zu treten – und darum, o barmherziger Jesu, erbarme dich unser!«

»Herr, erbarme dich unser!«

Und nun ... bis an den Knien im Wasser stehend, das Steuer fest in der Rechten, die Augen unentwegt auf die näher rückenden Lichter im Emmericher Hafen gerichtet, flackerten seine Worte auf wie Signalfeuer, die gegen die goldenen Pforten des neuen Jerusalems anstießen, um dort mit heißen Zungen zu flehen und die Ankunft von erdemüden Seelen vorzubereiten.

»Herr, höre mich an! Ich gebe den abgeschiedenen Seelen Geleit. So ziehet denn hin, ihr christlichen Seelen, aus der Welt im Namen Gottes, des allmächtigen Vaters, der euch erschaffen hat ...« und seine Stimme kletterte immer höher und höher, durchsetzte die Wolken, drang vor bis zu den goldenen Fenstern, hinter denen die ewigen Lampen brennen, träufelte wie Salböl in die Herzen der Menschen, die immer tiefer im Wasser versanken, tröstete sie, richtete sie auf und redete weiter: »Ja, ziehet dahin, ihr abgeschiedenen Seelen, im Namen der Engel und Erzengel; im Namen der Thronen und Herrschaften; im Namen der Fürstentümer und Mächte; im Namen der Cherubim und Seraphim; im Namen der Propheten und Patriarchen, der heiligen Apostel und Evangelisten, der heiligen Märtyrer und Bekenner. Heute schon werdet ihr im Paradiese sein und dem gefeierten Sion – durch Jesum Christum, unseren Herrn!«

»In Ewigkeit, Amen. Herr, erbarme dich unser!«

»Herr Kaplan,« schluchzte die tapfere Madam, »meine Seele ist ruhig,« obgleich sie fühlte, daß das Wasser bereits ihre Knie umspülte. »Ja, Herr Kaplan, meine Seele ist ruhig.«

»Des freut sich der Ewige,« hielt ihr Klemens flammend entgegen, »und sollte der Herr in seinem unerforschlichen Willen einen von uns anfordern und sein Sterben verlangen – schon jetzt: ich breite die Hände und rufe über ihn aus: Absolvo te! Absolvo te! im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes,« und aufs neue lief das heiß gesprochene Vaterunser zwischen Himmel und Erde, lief mit dem rasenden Wasser und dem sinkenden Fahrzeug den immer größer werdenden Lichtern entgegen.

»Vater unser, der du bist in den Himmeln ...!«

» Absolvo te! Absolvo te

Klemens streckte aufs neue den Arm aus. Seine Soutane war wie ein todschwarzes Segel.

Genau um dieselbe Minute, als das Vaterunser anhub, über das Wasser zu rudern, hilfeflehend um Beistand zu rufen, wie ein Stoßvogel über das ziehende Grau hinaus in das Himmelreich zu schrauben, befand sich Jakobine Hemskerk mit Welm Driesen und Lambert auf Deck des Hauptschiffes, um nach dem Rechten zu sehen und ihre Orders für den anderen Morgen zu geben.

Im Hafen war's still. Kein Lärmen, keine Geräusche. Das unfreundliche Wetter hatte jedermann in den Häusern und in den Kajüten gehalten. Das Dunkel nahm zu. Nur hin und wieder ... von hüben und drüben liefen rasche Blinkfeuer über den Rheinstrom.

Jakobine vergewisserte sich der eingezogenen Segel, der richtig angebrachten Laternen, sah nach Tauen und Ankern, dann warf sie sich jählings herum und horchte ins Weite. Durch das Pfeifen der Wanten hindurch glaubte sie Stimmen, verzweifeltes Beten und Hilfeschreie zu hören.

Gleich darauf ließ sie die Kapitänspfeife schrillen.

»Welm! Lambert!« gebot sie, »das Achterboot flott und auf mein Kommando gehört, denn ich glaube ... Da seht nur! Da kommt was! Menschen in Not ...! Her mit dem Flieger ...!« und keine zwei Minuten vergingen, da schnitt das Hilfsboot durch die fauchende Strömung. Lambert und Welm führten die Riemen, Jakobine das Steuer.

Von jenseits fiel ein neues Blinkfeuer quer über das Wasser ... und in seinem Lichtkegel ...

Es war deutlich zu sehen: eine schwarze Gestalt in einem sinkenden Fahrzeug.

Und dann eine Stimme: »Wenn unsere verdunkelten und gebrochenen Augen noch einmal zu dir ihre matten und sterbenden Blicke erheben – dann, o barmherziger Jesu, erbarme dich unser!«

»Herr, erlöse uns und erbarme dich unser!«

»Los, Kinder, los! Es gilt hier Menschenleben zu retten! Brav so, Welm! Richtig so, Lambert! Gott wird's euch lohnen!«

Die Riemen schnitten durch wie stählerne Ruten. Das Boot schoß dahin, als säße Volldampf dahinter.

Noch vierzig Ruderschläge, noch dreißig ... und wieder die tapfere und allgütige Stimme über den Wassern: »O Herr, wenn unsere kalten und bebenden Lippen deinen anbetungswürdigen Namen zum letzten Male suchen und aussprechen – dann, o barmherziger Jesu, sei bei uns in den Stunden des Todes und erbarme dich unser!«

»Mein Gott!« schrie Jakobine, »das ist ja ...« und »Klemens! Klemens ...!« stieß es den Todgeweihten entgegen, die sich an den Bänken klammerten, um nicht in die Tiefe gerissen zu werden. Nur Klemens stand wie ein gigantischer Schatten am Ruder, wenn auch schon halb von den dunklen Fluten umbrandet.

Kaum noch zwanzig Herzschläge hindurch war das wracke Fahrzeug über Wasser zu halten. Dann mußte es sinken.

»So 'n infamer Seelenverkäufer!« rief Lambert.

»Haltet bei!« kommandierte Jakobine dazwischen, und das Rettungsboot legte sich in rascher Bewegung längsseits gegen die verlorenen Planken.

»Herr Kaplan! Herr Kaplan ...!«

»Absolvo te! Absolvo te!«

»Klemens ...!«

»Erst die Frauen und Männer, dann ich! Herr, sei bei mir in der Stunde des Todes!«

Welm und Lambert griffen zu. Alle wurden übergeholt ... nur Klemens ...

»Herr, sei mir gnädig!«

Die Bretter glitten unter ihm fort, strudelten ab, und unter wildem Gelächter – die Wasser kamen und nahmen ihn mit sich.

Im Blinkfeuer – noch einmal tauchte er auf.

»Herr Kaplan! Herr Kaplan ...!«

Die Weiberstimmen kreischten gen Himmel.

Jakobine zuckte auf wie unter dem Hieb einer Peitsche. Der Ölmantel fiel ihr vom Leibe. Über sie hin sprühte es mit Gotteskraft und Gotteserleuchtung.

»Klemens ...!« Mit ihrem stolzen und heiligen Leib fährt sie in das Gischen und Gurgeln hinein. Ihre Arme ringen und rudern ... packen zu ... umklammern etwas Starres und Kaltes ... halten es fest ... lassen nicht nach, bis Welm und Lambert ...

»Gerettet!«

Der liebe Gott im Himmel mußte es hören. –

Eine halbe Stunde spater lag Jakobine entkleidet in ihrer Achterkajüte. Mit wildem Herzen ruhte sie zwischen den Kissen. Ihre Pulse fieberten. Ihre Gedanken irrten wirr durcheinander. Der Rhein brauste um sie ... die Wasser suchten sie zu umarmen ... sie in die Tiefe, in ein furchtbares Sterben zu ziehen ...

»Klemens, was willst du von mir?!«

Sie flocht ihre Hände zusammen und betete und wußte nicht mal, warum der, den sie aus der Umschlingung des Todes gerettet, die Muttergottes in Dornick aufgesucht hatte.

Sie schien von dieser Erde genommen.

Nur war es ihr so, als würde ums Morgengrauen ein Lied im Hafen gesungen... ein Nachtwächterlied, gesungen von irgendeinem verspäteten Mitglied der Sozietät, einem braven, gediegenen, blütenweißen, alten Herrn, der voll des süßen Punsches, den Wahlspruch hochhielt:

»Ich supe mich noch immer satt
In der geliebten Vaterstadt.«

Und also sang er:

»Vier Üren sein vorbei,
Wi wöns 'n üw guje Morgen.
Die Nacht, die es vor mei,
Den Dag mut gei nu sorgen.
In Vorsputh en Verdriet,
Vergeet üw Scheper niet –
Klepp klepp, klepp klepp, klepp klepp!
In Vorsputh en Verdriet,
Vergeet üw Scheper niet.
Klepp klepp!«


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