Joseph von Lauff
O du mein Niederrhein
Joseph von Lauff

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Sechzehntes Kapitel

Es gibt Menschen auf diesem unseligen Stern, die einem beim ersten Begegnen augenblicklich Atem, Galle und Nieren versetzen. Nicht, daß sie etwas Molestierendes, Abweisendes, Unerquickliches und Absonderliches an sich hätten. Im Gegenteil, die Nase steht ihnen gerade im Gesicht, sie zeigen nichts Grindiges vor, ihre Art und Weise sich zu geben, erinnert an die gebräuchlichen Formen, sie schielen einem nicht mit dem linken Auge in die rechte Westentasche, packen einen nicht direkt mit der Selbstverständlichkeit eines keifenden, bissigen, räudigen Dorfamis an den Hosenboden ... und dennoch: begegnet man einem solchen Kostgänger des Herrn, erhebt sich ein Kribbeln im rechten Handgelenk. Dieses Kribbeln verstärkt sich, wird größer und drückt letzten Endes den sehnlichsten Wunsch aus, die rechte Hand zu straffen, sie unter Kraftentfaltung des Biceps langsam in die Höhe zu wuchten, um sie dann regelrecht mit Schwung und Schwänke besagtem Bewohner unseres unseligen Sternes auf seine unausstehliche Visage zu setzen. Ebenso widerwärtig sind die, die immer große Töne auf ihrer Zupfgeige haben, von einem Gegensatz in den anderen fallen, heute sich als frömmelnde Pazifisten hinstellen, dafür anderen Tages einen blanken Schleppsäbel über das Pflaster rattern lassen. Dann andere wieder ... Sie könnten es sich vergönnen, vierspännig einherzukutschieren, es dennoch aus irgendeinem Liebesstachel oder einem anderen Grunde heraus vorziehen, sich höchsteigenhändig vor einen Zigeuner- und Komödiantenwagen zu schirren, um im Schweiße ihres Angesichtes ihr selbstgewähltes Geschick mit dem Lächeln eines Anachoreten oder eines Simeon Stylites bis zum Beschluß ihres wenig ersprießlichen Lebens durch die ihnen noch verbliebenen Jahre zu tragen.

Hic niger est, hunc tu, Romane, cavete!

Als der Angemeldete eintrat, stand Klemens in einer Fensternische, machte sich Reiner mit seinen Papieren am Schreibtisch zu schaffen.

Beide wandten sich dem eintretenden Herrn entgegen, und sie hatten gleich das Empfinden: besagter Ankömmling ließ sich in die Gattung von Menschen einrubrizieren, die beim ersten Erscheinen einem Atem, Galle und Nieren versetzen.

Reiner dachte nicht dran. Er war dagegen gefeit, musterte vielmehr den Fremden vom Scheitel bis zu den tadellosen Stiefelspitzen.

Selbiger war kräftig und stiernackig auf den Boden gestellt, glattrasiert, rötlichen, schon etwas entwaldeten Hauptes, mit schwerauslagernden Schultern, von denen die rechte die Gewohnheit angenommen hatte, sich etwas tiefer zu neigen. Man sah es ihm an, er gab sich alle Mühe, den gebildeten Mann und den Beamten in höherer Stellung herauszubeißen und den tadellosen Gehrock mit den gestreiften Beinkleidern in die richtige Beleuchtung zu stellen, obgleich man unter den breiten, straff übergezogenen rehbraunen Glacéhandschuhen etwas vermutete, das an irgendeine, im jugendlichen Drang angebrachte Tätowierung oder sonst etwas gemahnte.

Unter der linken Achselhöhle trug er eine Aktentasche mit Schließe von tadellosem und handfestem Leder.

Seine Kopfbedeckung hatte er in seiner Pullman-Limousine gelassen.

Er räusperte sich, machte eine korrekte Verbeugung.

Ein Aristokrat schien in die schlichte Försterwohnung getreten zu sein.

Er wandte sich an Reiner.

»Ich habe wohl die Ehre, den Herrn Förster begrüßen zu dürfen?«

»Ganz richtig.«

»Soll mir angenehm sein. Mein Name ist Genske, Kasimir Genske.«

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Genske. Ich vermute, Sie haben mir etwas zu sagen.«

»Zweifelsohne, Herr Förster.«

»Und darf ich nicht wissen ...«

»Ich komme im Auftrag der Gesellschaft für allgemeine Menschenrechte. Mein inzwischen eingetroffenes Schreiben dürfte Sie doch verständigt haben?«

»Dann bitte ich höflichst: ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«

»Ja, aber ...«

Herr Kasimir Genske geruhte, einen vielsagenden Blick auf den jungen Priester zu werfen.

»Mein Bruder, Herr Genske, Kaplan im hiesigen Kirchspiel.«

»Herr Förster, ist sagte schon eben: ich komme im Auftrag der Gesellschaft für allgemeine Menschenrechte.«

»Ich bin völlig im Bilde.«

»Das heißt doch: in schwerwiegenden Angelegenheiten.«

»Drum eben. Wenn es sich um solche handelt, liebe ich es, einen Zeugen bei mir zu haben.«

Herr Kasimir Genske schüttelte den bereits obgemeldeten etwas entwaldeten Schädel, nahm den ihm angebotenen Stuhl ein und bemühte sich, die sich unter seiner linken Achselhöhle befindliche Ledermappe umständlich auf den Tisch der Schreibstube zu legen.

Er versuchte zu schmunzeln.

»Wenn Sie denn wollen: ich habe nichts dagegen, obgleich ich Ihnen offen gestehen muß: es wäre Ihnen dienlicher und mir lieber gewesen, diese unabweisliche Unterredung unter vier Augen zu führen.«

Klemens machte Anstalten, sich still zu entfernen.

»Gut denn, so will ich nicht stören.«

Reiner trat ihm entgegen.

»Du bleibst,« sagte er heftig. »Du kennst meine Gründe. Ich wünsche die Unterredung mit diesem Herrn in deiner Gegenwart zu erledigen.«

Da blieb auch Klemens, und beide setzten sich Herrn Genske schräg gegenüber.

Eine Pause entstand, die der Delegierte dazu benutzte, die Schließen seiner Aktentasche zu öffnen, in die Tiefe zu langen und etliche Schriftsätze vor sich auszubreiten.

»Schön,« sagte er endlich, indem er die schadhaften Zähne mehr oder weniger zu verbergen suchte, »möge uns also der Herr Zeuge mit seiner Anwesenheit beehren, obgleich ich nicht einsehe, was damit großes geschaffen wird, zumal ich lediglich vorsprach, kleine Mißverständnisse aus der Welt zu schaffen, Unebenheiten zu glätten und, wenn angängig, unliebsame Geschehnisse soviel wie möglich unter den Tisch fallen zu lassen, zumal milde Auslegungen und Bewährungsfristen der heutigen Tagesordnung entsprechen.«

»So?« fragte Reiner.

»Jawohl,« gab der Herr Delegierte mit einem schiefen Blick auf die Seite zurück. Er begann wieder umständlich, dabei mit ungeschickten Händen, in seinem Aktenmaterial herumzukramen.

»Wollen Sie Ihre Handschuhe nicht ausziehen?« fragte ihn Reiner. »Sie stören nur bei Ihrer dringlichen Arbeit.«

»Nein, sie stören mich gar nicht. Im Gegenteil, sie sind mir gute Betreuer, dienen sie mir doch dazu, kleine Verletzungen abzudecken, entstanden durch so 'n bißchen Benzin und so weiter, aber was soll das? Kommen wir lieber auf unsere Angelegenheiten zu sprechen. Je schneller sich diese regeln lassen, um so angenehmer für beide Parteien. Na also ...« und Herr Kasimir Genske schlug sein rechtes Bein über das linke, flocht die straffbehandschuhten Finger fest ineinander, um dann in versteifter Haltung und mit einem Anflug von angeborenem Lispeln zu sagen: »Wir leben in einer Zeit der Geschehnisse und Tatsachen, die sich wechselseitig bekämpfen. Hier ist eine Einheitsfront unbedingt anzustreben, wenn wir den neuzeitlichen Ideen Rechnung tragen wollen. Vornehmlich: Wald und Bevölkerung sind in engere Fühlung zu bringen. Besonders in Ihren Revieren. Die Beschwerden, die in dieser Beziehung über Sie einlaufen, sind einzudämmen, Herr Förster.«

»Ist das wirklich so nötig, Herr Genske?«

»Zweifeln Sie etwa daran? Ich möchte bemerken: Sie als Beamter haben sich besserer Einsicht zu fügen, geschähe es auch nur in Ihrem Interesse, denn ich möchte unter allen Umständen jedes Verfängliche ausschalten.«

»So unbedingt kann ich darunter mein Petschaft nicht setzen,« gab Reiner zurück. »Ich als Beamter und Fachmann beanspruche meine eigene Ansicht und meine eigene Verantwortung. So ist es früher Sitte und Mode gewesen, so gedenke ich es auch heute zu halten. Jedenfalls ist es mir noch nie in den Sinn gekommen, mich irgendeinem Geßlerhute zu beugen.«

»Herr Förster, ich ersuche Sie dringlichst, auf Ihre Worte zu achten.«

»Reiner,« sprach Klemens versöhnend dazwischen, »warum diese Debatte?«

»Ganz richtig, Hochwürden. Warum eine solche Debatte? Zumal ich meinerseits alles aufbieten möchte, einen gemäßigten Ton anzuschlagen und unliebsame Steine aus dem Wege zu räumen. Ihr Herr Bruder scheint darüber anders zu denken. Jedenfalls empört es mich geradezu, bei ihm eine solche Sprache zu finden ... und daher nochmals gesagt ...«

»Zuvor eine Frage, Herr Genske.«

Der Delegierte verstummte.

Er fühlte die hellen Lichter Reiners auf sich gerichtet wie die eines revierenden Sperbers.

»Herr Genske, sind Sie überhaupt zuständig in forstlichen Angelegenheiten?«

»Eigentlich – nein. In diesem Falle: ich bin privater Spezialdelegierter, lediglich Vertreter einer großen und heiligen Sache. Das Technische scheidet hier vollständig aus. Damit habe ich gar nichts zu schaffen. Diese Stunde steht unter einem anderen Zeichen, unter dem Zeichen des Reinmenschlichen, der Ertüchtigung des Volkes, worunter ich vornehmlich die heranwachsende Jugend verstehe.«

»Da bin ich begierig. Aber Herr Genske, wenn ich nicht irre ... wir müssen uns kennen ...« und mit der Gelassenheit eines weidgerechten Jägers, der es versucht, Kimme und Korn bei schwachem Büchsenlicht in Einklang zu bringen, sagte Reiner frei und frank von der Leber: »So vor zehn Jahren herum: irgendwo sind wir uns schon mal im Leben begegnet.«

»Daß ich nicht wüßte.«

»So richtig. Jetzt hab' ich's. Handwerk hat einen goldenen Boden. Dann Parteisekretär ...«

»Ich kann es nicht leugnen.«

»Im Anschluß daran – wahrscheinlich höher hinauf, viel höher ...«

»Auch dieses. Ich stelle mich vor als Präsident der Gemeinschaft für allgemeine Menschenrechte.«

»Gratuliere. Dann, Herr Genske, sind Sie der ehemalige Kasimir Genske aus Kleve, beschäftigt allda bei der Firma Kallweit & Söhne. Nur damals hießen Sie anders. Kasimir – ja. Aber der Zuname hatte eine polnische Färbung. Jedenfalls, Genske klingt besser, und Ihr Aufstieg ... Nochmals gesagt: man darf gratulieren.«

»Darf man, denn mein ganzes Streben und das meiner weitverzweigten und alles umfassenden Gesellschaft geht darauf hinaus, dem Volk Brot, Licht, Luft und gute Gewohnheit zu geben. Vornehmlich Licht und gute Gewohnheit. Gewiß, wir sind in einem gewissen Fortschritt begriffen. Überall pulsendes Leben, der Riese der Arbeit streckt sich von Norden gen Süden, von Osten gen Westen, die an und für sich kränkelnde Landwirtschaft befindet sich besser, die Industrie regt wieder ihre Eisengelenke, scheffelt in Säcken, so daß wir getrosten Herzens die zu Gunsten der Siegermächte noch anstehenden Lasten und Gerechtsamen uns selbst und unseren Nachfahren überantworten können.«

»Herr Genske, ich möchte bemerken ...«

»Gleich, mein lieber Herr Förster, so Gott will, bald Hegemeister im hiesigen Reichswald und in den angrenzenden Liegenschaften. Bevor Sie Ihre Einwendungen machen, müssen Sie mir schon Gelegenheit geben, mich expektorieren zu dürfen. Selbst aus dem Volke hervorgegangen, ein Kind der Not und das der Entbehrung, gelang es mir, mich allmählich durch Fleiß und saure Arbeit weit über den Durchschnitt in die Höhe zu wuchten. So weiß ich genau, wo's fehlt und was wir nötig haben, uns und dem kommenden Geschlecht mit Erfolg unter die Arme zu greifen.«

Herrn Kasimir Genskes breites und mit Sommersprossen reichlich austapeziertes Gesicht wurde bei diesen selbstgefälligen Auslassungen noch breiter und selbstgefälliger. Das rechte Augenlid, das scheinbar an Schwäche litt, sackte dabei etwas tiefer herunter. Er fuhr getragener fort: »Ich denke, wir wollen die dringliche Materie im großen und ganzen hinnehmen, nicht tifteln und deuteln, jede Schärfe vermeiden, vielmehr darauf hinarbeiten, die obwaltenden Gegensätze im Sinne einer weisen Fürsorge bestens zu erledigen.«

»Soll also heißen,« versetzte Reiner scharf durch die Zähne, »es muffelt brandig hier in der Gegend, und Sie, Herr Präsident, haben die Absicht, mir etwas auf die Finger zu sehen. Das könnte ich rundweg ablehnen. Des lieben Friedens wegen aber will ich Sie hören. Nur möchte ich höflichst ersuchen, die scheinbar dringliche Angelegenheit nicht zu strecken, sondern mir rund heraus zu erklären, was für eine Verfehlung hinsichtlich der allgemeinen Menschenrechte gegen mich vorliegt.«

Der Herr Präsident verlieh seinem rechten Augenlid wieder einige Schwungkraft.

»Eigentlich gar keine. Ihre Konduite wetteifert mit der des leider allzufrüh dahingerafften Hegemeisters, Ihres seligen Herrn Vaters.«

»Ich schaffe in seinem Sinne, soll heißen: ich diene.«

»Ist mir bekannt. Nur möchte ich wünschen: zeigen Sie dem alten Regime mehr die kalte Schulter, befassen Sie sich rühriger mit der Psyche des Volkes. Wir sind völlig im Bilde. Gewissen Vereinen und Landsmannschaften verweigern Sie das Betreten Ihrer Reviere, während Sie anderen volle Freiheit belassen.«

Reiner zuckte die Achseln.

»Haben Sie noch sonstige Wünsche, Herr Genske?«

»Was verstehen Sie unter sonstigen Wünschen?«

»Ich meine, ob noch mehrere ausstehen?«

»Nein, die vorgebrachten genügen. Ich verlange nichts mehr und nichts weniger als gleiche Rechte für die genannten Vereine und Landsmannschaften.«

»Das kommt eben auf die Vereine und Landsmannschaften an. Es gibt solche und solche.«

»Allerdings – ja. Aber die ich im Auge habe, dienen dem Ganzen und sind somit zu dulden.«

»Ich bin anderer Ansicht. Wenn eine solche Gesellschaft die Reviere verläßt, hat Heide und Hag das Aussehen einer verregneten Kirmes, ist der Forst völlig verschandelt, hangen Zoten und herausfordernde Frechheiten zwischen den Bäumen, die einem die grüne Farbe, das Wild und den Wald und seine Heiligkeit für immer verleiden.«

»Sie gehen zu weit. Wir leben heute in anderen Zeiten. Das Lehenswesen ist abgetan. Es gibt keine Fröner mehr. Der Wald gehört dem Volk, ist Allgemeingut geworden. Die Jugend will und muß ihre Stellung behaupten, und wie ich schon sagte: Ertüchtigung ist für sie anzustreben, selbst auf die Gefahr hin, daß das Wild vergrämt, die Heiligkeit des Ortes bedroht wird und die Flinten der Herren Jäger zu kurz kommen, denn ich als Vertreter für Menschenrechte ...«

Reiner fiel ihm ins Wort.

»Bitte, lassen Sie die Flinten beiseite.«

»Und Sie die Heiligkeit Ihres Waldes. Den ganzen Heiligenschein schenke ich Ihnen.«

»Merci! Wenn ich ihn für meinen Wald nicht schon lange besäße, ich würde mir alle Mühe geben, ihn zu erringen, da ich ihn aber schon lange besitze: ich halte ihn mit diesen zwei Fäusten, ich schütze ihn mit eben diesen zwei Fäusten ... und nur solche sollen meine Schneisen und Gestelle betreten, die würdig sind, dieses Heiligenscheines teilhaftig zu werden. Nein, Herr Genske, mit Ihren Argumenten wird mir nicht gedient und wird dem Wald nicht gedient. Ich bin sein Anwalt, sein Arzt und Seelsorger und habe für sein Wohlergehen und seine Unantastbarkeit Sorge zu tragen.«

»Schön und poetisch gedacht. Aber ich sage Ihnen, Herr Förster: die Neuzeit ist auf andere Dinge eingestellt. Sie lebt nicht mehr von Idealen, sondern will Brot zwischen den Zähnen. Wir müssen hinauf, die steile Leiter erklimmen. Dem Wald, was des Waldes, der Jugend das, was der Jugend. Ein neuer Mensch ist im Werden begriffen. Er achtet die Nutzung des Forstes, und zwar im Interesse des Staates, beansprucht aber für sich und seine Lungen das Ozon seiner Bäume und Blößen, selbst auf die Gefahr hin, daß die von Ihnen herangezogenen Mißstände eintreten sollten. Freie Bahn und völlige Freiheit für jeden. Nur so dienen wir dem Großen und Ganzen, dem Wohle des Vaterlandes.«

»Nicht so,« hielt ihm Reiner entgegen. »Der heilige Wald darf nicht vogelfrei werden. Durch seine Entweihung wird keinem geholfen ...« und seine geknöchelte Faust trumpfte auf: »Lediglich durch Arbeit und Sparen, durch Zusammenbeißen der Zähne, durch eiserne Ordnung, und letzten Endes, wenn alle Stricke nicht halten und helfen wollen ...«

»Bitte, Herr Förster, wir wollen uns nicht auf politische Exkursionen begeben,« und Herr Kasimir Genske ließ die rechte Schulter tiefer herunter. »Bleiben wir sachlich. Ich stelle daher nochmals die Frage: Sind Sie geneigt, sich meinen Erörterungen anzuschließen, oder ziehen Sie es vor, bei Ihrer eigenen Ansicht zu bleiben?«

»Herr Präsident, Sie sollten immer bedenken ...«

»Hier ist nichts zu bedenken. Wir haben zu handeln. Das veranlaßte auch meine Gesellschaft für allgemeine Menschenrechte, mich in diesen gottverlassenen Winkel zu beordern, um hier in aller Güte und Milde Dinge, die wir nicht zu goutieren vermögen, abzustellen, dazu einen wohlbeleumdeten Beamten dem Staat zu erhalten. Ich rede nicht ins Blaue hinein. Glauben Sie mir, wir wissen mehr, als Sie vielleicht annehmen. Mißliches ist zu unseren Ohren gekommen. Was jenseits des Rheines vor einigen Wochen passierte, ist zwar zu den Akten gelegt, aber nicht völlig abgestorben. Der kleinste Hauch ist imstande, es wieder ins Leben zu rufen.«

»Herr Präsident, ich ersuche darum ...«

Reiner erhob sich, durchmaß etliche Male das Zimmer, um sich dann wieder ruhig und gefaßt niederzulassen.

»Ja – Sie, ich weiche nicht aus und fühle mich Mannes genug, alle Folgen auf mich zu nehmen.«

»Das ehrt Sie, aber meine Vergangenheit, meine ganze Weltanschauung ist nicht in der Lage, sich mit der Ihren zu decken. Indessen zur Sache. Was da drüben passierte ... wir wollen nichts wissen, nicht eingreifen, denn wenn wir es täten ... Griffen wir zu, wir hätten mit Ehrenstrafen zu rechnen, umsomehr, da jetzt schon die einsichtigen Parteien emsig dabei sind, selbst die harmlosesten Mensuren mit Gefängnis zu ahnden, schlimmsten Falles den Delinquenten rücksichtslos seiner Stellung zu entheben und dauernd brotlos zu machen.«

Reiner pfiff scharf durch die Zähne.

Klemens erhob sich.

»Mäßige dich. Ich bitte dich ernstlich.«

»Lasse mich – du. Ja, Herr Präsident, ich hörte davon, vertrete aber die Ansicht: es gibt Fälle in dem krausen Gewirr des irdischen Daseins, wo die Gesetze machtlos sind, nicht helfen können und wollen, jedenfalls außerstande sind, einem die ermordete Ehre wieder ins Leben zu rufen. Da bleibt einem honorigen Mann kein anderes Mittel übrig, als sich selber sein Recht zu verschaffen.«

»Utopisch, utopisch!«

Herr Kasimir Genske geruhte zu lachen.

»Die heutige Gesellschaft denkt anders darüber.«

»Als da sind,« fiel ihm Reiner ins Wort, »die Vertreter vom bajuvarischen Knüppel-Komment, die ehrenwerten und frömmelnden Herren vom baumwollenen S. C., und ferner ...«

Herr Genske streckte die Hand aus.

»Keine Anzüglichkeiten. Bleiben wir bei den Wünschen und berechtigten Anforderungen der Gesellschaft für Menschenrechte. Das soeben Dargelegte mag dem Vergessen anheimfallen.«

Er sah nach der Uhr.

»Meine Zeit ist bemessen, und die letzte Frage ergeht: Sind Sie von nun an gesinnt, den Gesetzen der Gleichheit und Billigkeit vollauf Rechnung zu tragen? Der Wald ist uns Mittel zum Zweck. Jünglinge und Jungfrauen sollen in seinen Hallen erstarken, um das zu werden, was wir erstreben: wir wollen Sonnenkinder, Kinder des Volkes. Also Herr Förster ...?«

»Wird meinerseits vollauf berücksichtigt.«

»Auch den Verbänden und Genossenschaften gegenüber, die sich darüber beklagen, hinsichtlich des Betretens Ihrer Reviere stiefmütterlich, ja – in schroffster Weise behandelt worden zu sein? Diese Anklagen wurden zu den Akten genommen.«

»Herr Genske, es gibt Deutsche beider Konfessionen von verschiedenen Farben. Ehrliche und herzhafte Deutsche, aber auch solche, die die Kelle und den Aaronsschurz tragen, willens, ihre Untugenden und dunklen Geschäfte gegen das allgemeine Volkswohl zu führen. Gegen solche ist äußerste Strenge geboten. Ich diene, Herr Genske. Ich diene dem Staat und meinen Revieren und bin ihnen pflichtig bis zum letzten Büchsenlicht. In jedem Eichbaum sehe ich etwas Hohes und Hehres, in jedem Tier des Waldes ein Wesen der Hege und Pflege bedürftig, in jedem Wacholderstrauch und Heidegestrüpp die Allmacht des Schöpfers, vor dem ich knie und dessen Namen ich heilige.«

»Brav so!« höhnte Herr Genske.

»Der Gesellschaft für allgemeine Menschenrechte das was ihr zukommt,« fuhr Reiner unbeirrt fort, »aber meinem Gewissen das, was meines Gewissens. Ich irre nicht ab. Ich lasse mir meine alte Überzeugung nicht nehmen. Ich stehe in meiner grünen Farbe genau auf der Stelle, die mein seliger Vater einnahm, als ihn die Spartakistenkugel auf den Waldboden legte.«

Genskes Nase wurde schmal, sein breites Gesicht von der Farbe einer kalkigen Maske.

»Das genügt mir nicht,« sagte er heiser, indem er sein Aktenmaterial zusammenraffte, in die vornehme, handfeste Ledertasche verstaute. »Ich ersuche um eine klare und bündige Erledigung meiner dringlichen Frage. Sind Sie gesonnen, dem Volke zu geben, was ihm frommt, was es beanspruchen muß, um wieder zu ertüchtigen und ein menschenwürdiges Dasein führen zu können?«

»Ja, Herr Genske,« entgegnete Reiner mit offener Stirn und leuchtenden Balduraugen, »ich will es aus ganzer Kraft und aus der tiefsten Tiefe meines zerrissenen Herzens. Was ihm frommt, will ich hiermit festgelegt haben. Dabei spielen verschandelte Holzungen und gemeinsames Lagern von Weiblein und Männlein in Wald und Flur nur eine zweite Rolle. Aber das spielt eine mächtige Rolle ...« und er schrotete sich auf in seiner ganzen ehernen Geradheit und streckte die Faust aus: »Fort mit dem kriechenden Gewürm, den Mollusken und Saugern mit klebrigen Leibern und all dem Getier, das sich mästet von dem Schweiße und der Arbeit der noch nicht abwegigen Deutschen. Jeder weiß, wo die eiternde Schwäre frißt und zersetzt, aber keiner wagt es, das erlösende Messer an die ekelhafte Wunde zu legen.«

Er holte die Faust wieder ein und stemmte sie auf die Tischplatte.

»Männer der Tat, heraus aus dem Sumpf, sperrt euch nicht länger. Wir wollen wieder Treue und Glauben, Mut und Entschlossenheit, freiwillige Arbeit, dazu unseren Feiertag haben, und darf ich euch helfen, ich ziehe zu Holz und schlage die beste Tanne im Winterwald ... und mit deutschen Händen stelle ich den Weihnachtsbaum auf den Tisch ... und mit deutschen Händen zünde ich die deutschen Weihnachtslerzen an in der heiligen Nacht ... alles in alter Glorie und so wie Vater und Mutter es taten. Dazu Schwerter zur Rechten und Bayonette zur Linken, weil unsere inneren und äußeren Feinde gewillt sind, uns diese Feier zu neiden, zu stören, über den Haufen zu werfen ... und zwei Engel sollen an den Weihnachtsbaum treten und beten: Ora et labora. Vater unser, der du bist in den Himmeln ... Und wenn's dann wieder Ostern wird: deutsche Hände sollen sich an den Glockenstrang legen, die Glocke bewegen, und die deutsche Glocke soll rufen: Christ ist erstanden! und so, wie Christ ist erstanden, so soll auch Deutschland wieder erstehen. Ehre sei Gott in der Höhe! und Ehre den Deutschen, die den Ruf der Osterglocken aufnehmen zum Heile des eigenen Volkes.«

Reiner schwieg.

Eine atemlose Stille folgte.

Herr Genske erhob sich und ließ die Schließen an seiner handfesten Ledertasche fast lautlos einschnappen.

»Redensarten!« konstatierte er ernstlich. »Mit solchen werden keine Gegensätze überbrückt. Sie hören von mir als Präsident der Gesellschaft für allgemeine Menschenrechte.«

»Um welche Zeit?« fragte Reiner.

»Bis Ende September dürfte sich die Sache entscheiden.«

»Ich warte darauf, wie ein guter Sachwalter in Ruhe und Sorglosigkeit wartet, der sein Haus bestellte und seinen letzten Willen betätigte. Nur keine Unrast. Statt des erkalteten Eisens halte ich zehn andere im Feuer.«

Bald darauf hörten die Zurückgebliebenen den Elitewagen durch Huisberden und die niederrheinische Landschaft tuten.

»Äh!« sagte Reiner, »und so einem muß man Rechenschaft geben.«

Er lachte: »'ne abenteuerliche Welt mit närrischen Zielen und traurigen Absonderlichkeiten. Aus ...!«

Die Faust rumpelte auf.

»Klemens, merkst du was?! Hier wird für mich der Kehraus getrommelt. Tut nichts. Anderwärts wird der Kopf um so stolzer und freier getragen.«

Klemens war an seine Seite getreten.

Unauffällig tastete er nach der Hand seines Bruders.

Gleich darauf packte er zu.

»Reiner,« sagte er mit zuckenden Lippen, »ich kann manches verstehen, wenn auch nicht alles. Aber das mit Jakobine ...«

Seine Stimme ging auf Eiderdaunen, ohne an Eindringlichkeit, Schärfe und Glanz zu verlieren: »Ich glaube, um sie wirst du noch blutige Tränen vergießen.«

*

Zwei Tage spater lag Klemens in heftigem Fieber. Er sah Gestalten, Feuerfliegen, irre Sterne. Er sah glühende Hämmer, die ihn und seine Lieben zertrümmern wollten. Dann klangen ihm Harfen zu, und durch dieses Harfenklingen schritt Jakobine Hemskerk mit einem Reiflein von sieben goldenen Sternen um die Schläfen – so wie eine Heilige durch ein reifes Weizenfeld schreitet.

Als die Blätter niederschaukelten, Nebel über die Altwasser schleierten, genas er, um bald darauf wieder gefestet an Leib und Seele zu werden.

»Jetzt ist es so weit,« sagte er innig und machte sich fertig, seine Mission zu erfüllen.


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