Joseph von Lauff
O du mein Niederrhein
Joseph von Lauff

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Siebentes Kapitel

Die Gestirne wechseln.

Sterne zogen herauf und Sterne sanken dem tiefen Horizont zu. Ein ewiges Kommen und Gehen, ein geheimnisvolles Werden und Geschehen ohne Anfang und Ende.

Am Himmel war rege Bewegung. Die Herbstnacht spielte mit ihrem Feuerzeug, gab sich als Zeidelmeister und ließ ihre goldenen Bienen in unermeßlichen Schwärmen dahinfahren.

Einige Topps sangen im Wind.

Geruhsam schwaderten die Wellen des heiligen Stromes an den Kaimauern vorüber, gurgelten zeitweilig auf, verfingen sich mit feinem Gezisch an den Ankertrossen.

Es war spät unter dem Monde geworden.

Als Vater und Tochter an Bord gingen, trat ihnen der Obermatrose entgegen.

»Na, Lambert ...?«

» All right, Kaptein

» Merci! und marsch in die Koje. Ich wache.«

Der Brandfuchs sockte ab.

Hemskerk sah Jakobine an, legte seinen Arm um sie her und redete ihr zu: »Herzensmamsell, laß gut sein. Ich für meine Person nehme noch 'ne Portion Luft in den Windfang. Du aber geh schlafen. Du kannst es gebrauchen. Alles will wiedererlebt sein, oder Gottes Wort ist gelogen. Wir sprechen morgen darüber. Aber bloß keine Bange. Riswyk ist gut, und Reiner ist auch gut. Wie's der Herr bestimmt, so mag es geschehen. Ich stelle keinen Widerpart auf. Man soll dem Geschick nicht in die Parade hineinhauen. Mit Gott denn,« und er führte sein Kind in die Achterkajüte, gab ihm einen langen Kuß auf die Stirne und kehrte den Jovialen heraus: »Also bis morgen und 'n angenehmes Träumen unter Harmonikaspielen.«

Er begab sich wieder auf Deck.

Rechts von ihm lag Emmerich mit nur noch wenigen Lichtern, links der dunkle Schattenriß des gegenüberliegenden Ufers.

Trotz seiner Ruhe – ihm war das Herz zum Zerspringen. Wie ein eingekäfigtes Tier maß er die Planken. Hart ging sein Schritt über die schmalen Riemen. Er gehörte zur Rasse der Kaltblüter. In der jetzigen Stunde nicht mehr. Es war eine Spannung in ihm, die er nicht zu erklären vermochte. Sie saß ihm an der Kehle, zwischen den Schläfen. Sie belästigte ihn mit der immer schwerer werdenden Last eines kalten Steines. Er sah Augen vor sich. Phosphorisch leuchteten sie aus der Ferne herüber. Was – die Lichter eines herumschweifenden Wolfes?

»Unsinn! Auch die Lichter gutmütiger und freundwilliger Geschöpfe glänzen im Dunkeln.«

Er lachte über seine dummen Gedanken, wies sie von sich und hielt seinen lauten Schuh an. Er wußte kaum, wo er anwurzelte. Jetzt sah er: er stand in Höhe des Vorderstevens.

Auch hier die große Stille, die ihn schon lange bedrängte.

Nur das Stromwasser gluckerte stärker.

Über ihm ging plötzlich ein Klingen hoch durch die Luft, mit einzelnen hellen Rufen dazwischen. Das Klingen ebbte zurück, das Trompeten verstärkte sich.

»Schneegänse!« mahlte er zwischen den Kinnbacken. »Hoiho! sie prophezeien 'nen frühzeitigen Winter mit weißen Nächten und ausgiebigem Sternenfeuer, und so 'ne dämliche Schneegans ...«

Er dachte nach.

»Blexem und Donnder! Wo die Besinnung nur hernehmen?! Da soll sich einer auskennen und sachgemäß anlaufen! Ich nicht, Verdammich, ich nicht. Im Rheinwasser – ja, aber das sacktiefe Innere von 'nem Frauenzimmer auszuklamüsieren ...«

Er verschluckte den Rest seiner Epistel und wurde weich wider Willen.

»Ach Gott, so 'ne Herzensmamsell!«

Er drückte die Nase steif in den Wind, um seiner Rührung Herr zu werden.

»Nerven, bloß Nerven!«

Gott sei gedankt, mit diesen Dingen konnte er aufwarten. Wenn Jan und Allemann sie verloren – ihm waren sie noch niemals koppheister gegangen, ihm nicht – ihm, dem Kapitän von dem braven Rheinschiff ›Gott mit uns‹, dem Vater Jakobinens, deren Schönheit noch die einer Katharina Rickers übertrumpfte und in den kühlen Schatten stellte, konnte so was niemals passieren.

»Kopf hoch!«

Und Pitt Hemskerk warf den Kopf in den Nacken.

Rechts von ihm: die Lichter von Emmerich wurden spärlicher, schrumpfelten zusammen, erloschen – eins nach dem anderen.

Auch am Krantor dunkelten die Fenster ein.

Die historische Kneipe machte die Läden zu, nahm eine Portion Schlaf in die Augen.

Also – mit den Burgunderbouteillen hatten sie Schluß gemacht. Riswyk war fort und Michel Virgilis in die Heija gegangen. Und Düweke Brinkmann ...?

»Gute Nacht, Michel! Eigentlich bist du 'n dreimal durchdestillierter Supsack. Wie konntest du bloß so 'nem harmlosen Weibsbild die Ohren vollhängen, ihm mit allerhand ausgefallenen Delikatessen begegnen, ihm sagen: Du wirst nicht in 'nen Bauerngarten verpflanzt ... nicht ums Verrecken ... gehörst aufs Parkett ... Lakaien und so ... in den Lichtschein von perlenden Lampen ... und wenn dann die Kammerjungfer meldet: Madam ... Hoiho! Michel, ich höre dir pfeifen. Soll wohl heißen: der Kavaliergemahl gibt sich die Ehre. Blexem! Hab's auch mal so ausspekuliert, von wegen ihrer barbarischen Weiblichkeit, denn sie kann Ansprüche machen; ich dito desgleichen. Aber dann wieder: hab's übergeschluckt ... 'runtergefressen ... dazu Ja und Amen gesagt. Gottverdorie! Und nu will die Karte sich auf die andere Seite legen, setzt Kegel und murkst wie 'n verliebtes Karnickel. Was soll das?«

Seine klaren, blitzblauen Lichter hafteten auf der öden und grauen Schenke am Rheinufer.

Alles tot und eingesargt. Nirgends mehr eine erleuchtete Fensterluke.

»Michel, geh schlafen. Du bist zwar ein guter Kerl, aber kein Kirchenlicht. Hast wohl gefaselt. Gott geb's,« und wieder nahm er seinen knarzenden Schritt auf, vom Klüverbaum bis zum Steuerkasten, dann wieder retour, mit dem ruckweisen Stoßen einer Dreschmaschine.

Die Schritte verstärkten sich, als wenn sie den Unwillen ihres Herrn in sich trügen, den Ärger über die krausen Gedanken, denen er nicht zu entrinnen vermochte.

Ihr Widerhall drang gedämpft bis in die Achterkajüte.

Jakobine ruhte mit offenen Augen zwischen den Kissen, und diese offenen Augen waren trocken und starr auf den fahlen Schein gerichtet, der durch die schmale Musselingardine gespensterte, ohne weiter zu rücken. Durch ihre Sinne rieselte es mit dem monotonen Rieseln des feinen Sandes in einem Stundenglase. Ihr Blut rauschte. In diesem Rauschen des eigenen Blutes wechselten Gestalten und Gesichte wie die bunten Scherben in einem Kaleidoskop. Immer neue Gesichte, immer neue Gestalten! Sie hört mit Ohren und sieht mit Augen, die sich feinfühliger geben als die von gewöhnlichen Menschen. Die einzelnen Glassplitterchen des Kaleidoskopes setzen sich haarscharf nebeneinander, bilden und formen mit der Hand eines Künstlers. Sie steht mitten in einer blendenden Helle.

Ein Stutzührchen klingelt.

Silberdrähtig tinkt es von einer Porzellankonsole herunter.

Zwölf einzelne Schläge.

Dann ein Flüstern und Wispern: bittersüße Liebesgeschichten ... verhaltene Seufzer ... hingehauchte Beteuerungen, einschmeichelnd wie die zarten Herbstzeitlosen, wenn auch mit einem feinen Gift zwischen den Kelchblättern. Irgendwoher die preziöse Weise eines Orlando di Lasso. Dahinein ein neckisches Aufbegehren ... ein Trippeln von Stöckelschuhen ... ein Geknister von seidenen Krinolinen und lichtweißen Puderfrisuren. Gleich darauf, mit zwei Vierteln Auftakt beginnend, die pritzelnden Noten des gefeierten Lully. › Mesdames et Messieurs: die Gavotte des Königs!‹... und sie mitten dazwischen ... an der Hand eines Kavaliers in reichem Kleid und Spitzenjabot ... mit Kreuzen und Sternen. Der flüstert ihr zu: bittersüße Liebesgeschichten ... verhaltene Seufzer ... hingehauchte Beteuerungen, einschmeichelnd wie die zarten Herbstzeitlosen, wenn auch mit einem feinen Gift zwischen den Kelchblättern. Sie kann von seinen zwingenden Augen nicht los, sich nicht seinen schmeichelnden Händen entziehen. ›Lassen Sie mich. Ich will es nicht hören.‹ Und dennoch hört sie darauf: ›Katharina Rickers, sie wurde erhöht und erhoben... mit Steinen und Perlen umkrustet... von der Hofgunst umworben ... und dennoch: Du bist tausendmal schöner als sie... tausendmal schöner...‹

Wiederum tinkt es von der Porzellankonsole herunter.

Zwölf einzelne Schläge.

Ihr Blut rauschte noch immer.

»Wo bin ich?«

Es war dunkel um sie. Nur der fahle Schein zwischen der gerafften Musselingardine haftete an der nämlichen Stelle.

Sie vernahm nichts mehr: kein Trippeln mehr, kein Knistern von seidenen Reifröcken und weißen Puderfrisuren. Auch die Gavotte des Königs verstummte.

Sie hielt's nicht mehr aus... erhob sich ... zündete eine Kerze an und trat vor den Spiegel.

Ihre Augen waren maßlos geweitet.

»Bin ich noch Jakobine Hemskerk, oder bin ich es nicht mehr?!«

Sie umgriff ihre Schläfen. Der Haarknoten, der ihr schwer im Nacken lastete, zerteilte sich, löste sich auf, fiel ihr um den schlanken Leib wie ein todschwarzes Segel.

Sie sah sich in der blanken Scheibe. Sie sprach ihr eigenes Bild an: »Es steckt ein tiefes Leid im Begehren. Wer es in sich trägt, ist gezeichnet vom Herrn. Er findet kaum noch eine ruhige Stunde. Und ich? Sieht so eine aus, die begehrt?«

Sie glitt mit ihren weißen Händen über den Nacken, als hätte sie etwas Seidiges, Kostbares, nicht zu ihr Gehöriges von sich abzustreifen.

»Nein – ich will nicht begehren.«

Das matte Kerzenlicht wurde zu einer heiligen Flamme. Strahlend stand sie im Spiegel – diese heilige Flamme, strahlend legte sie sich um die geschmeidigen Glieder, um die jungfräulichen Blößen. Diese heilige Flamme umschmeichelte die bläulichen Flugschatten der weichen Schultergelenke, den schroffen und doch berückenden Ansatz der jungen Brüste.

Die fast durchsichtigen Nasenflügel öffneten sich über der geschwungenen Linie des Mundes. Im Namen des Herrn – sie war der Wirklichkeit und ihrem Geschehen wiedergegeben.

Ein angstvolles Atmen erschütterte sie. Die Stunden, die sie bei Michel Virgilis am Krantor durchlebt und durchlitten hatte, sollten des Todes sterben, ausgetilgt werden wie die Aasgeier, die noch immer über Deutschland dahinruderten.

»Reiner, mein Reiner!«

Sie fühlte sich bei ihm, ganz nahe bei ihm. Sie spürte die Allgegenwart des geliebten Mannes, die Kraft, die von ihm ausbüschelte. Sie hatte ihm vieles zu geben, ihr ganzes Hab und Gut, alles, was sie besaß: die Schönheit des Körpers und die Reinheit der Seele.

Heller und frohwilliger brannte die heilige Flamme.

Jakobine blühte auf in diesem seligen Leuchten.

Mit ihrem ganzen bodenständigen und breitspurigen Stolz musterte sie sich. Alles war sein, alles und jedes: dieser Leib, der wie Marmor aus der Spiegelscheibe herauswuchs, diese Arme, berufen, sich fraulich um seinen Nacken zu legen, ihm die arbeitsreichen Tage zur Freude und die Nächte zu köstlichen zu machen. Das niederrheinische Weib und der niederrheinische Mann, desselben Stammes, ein und demselben Boden entsprungen. Kinder des Volkes, nichts mehr und nichts weniger: Brust an Brust und Mund auf Mund, so wollten sie ihre Tage verbringen – bereit zu leben, um wechselseitig zu leben, bereit zu sterben, um wechselseitig zu sterben – ein Wohlgefallen vor Gott und seinen himmlischen Heerscharen, vor seinen Machten und Thronen, vor Cherubim und Seraphim, vor seinen Engeln und Erzengeln.

»Reiner, mein Reiner!«

Sie streckte ihm ihre vollen und weißen Arme entgegen ... sie liebte ihn ... sie begehrte ihn ... aber plötzlich wieder: mit zwei Vierteln Auftakt beginnend, die pritzelnden Noten des gefeierten Lully. » Mesdames et Messieurs: die Gavotte des Königs!«

»Ach – du ...!«

Die heilige Flamme brannte tiefer und düsterer, züngelte matt auf die Seite, war dem Verlöschen nahe.

In diesem ersterbenden Licht sah sie die Zukunft und ihre Umwelt mit anderen Augen an. Die Gavotte des Königs zerfiel in Staub und Moder. Das Stutzührchen tinkte nicht mehr. Dafür fielen dumpfe Schläge von Sankt Aldegondis herunter, hoben sich auf, um wie dunkle Krähenvögel über die weite Niederung hinzuschaukeln. Eine rauhe Faust packte zu, versetzte sie in ein ödes Heideland, auf dem nur Zikaden und Bläulinge ihr Wesen trieben. Keine stolzen Klänge, kein Schreiten durch eine hohe und lachende Freude. Nur das monotone Rauschen von elenden Kiefern ... das trostlose Hindämmern ihres eigenen Ichs ... das Sichgenügen mit den bescheidensten Dingen ... das einförmige Schaffen im Täglich-Alltäglichen, wenn auch mit traulicher Liebe gepaart. Aber der Glanz und die Sterne, die Anwartschaft auf den Höhen und durch eine Fülle des Lichtes zu wandeln ... und die Kerze erlosch.

Mit einem hellen Schrei warf sie sich auf die Kissen zurück: »Reiner, vergib mir! Halte mich fest! Lasse mich nicht! Sonst – ich geh über Bord. Reiner, mein Reiner!«

Bleiern fiel es über sie hin. Ihre wachen Augen umschatteten sich. Ihr Gesicht legte sich still auf die Seite. Sie war wunschlos geworden.

So ruhte sie lange. Dann glaubte sie eine Stimme zu hören, die Stimme von gestern:

»Es war einmal ein treuer Husar,
Der liebt' ein Mädchen ein ganzes Jahr,
Ein ganzes Jahr und noch viel mehr,
Die Liebe fand kein Ende mehr ...«

Über den Rhein hin flatterten die ersten Lichter des jungen Tages.

*

Der Alte stand straff und kurzbeinig auf Deck, den Riemen untergezogen, die breiten Pratzen in den Hosentaschen.

Nur eine kleine halbe Stunde hatte er's sich bequem gemacht, so 'n bißchen genuckert, sich dann wieder nach oben begeben.

Die Brise war über Nacht stärker geworden, hatte sich einen tieferen und ergiebigeren Atem zugelegt und blies steif über die Topps hin.

Der Kapitän feuchtete den Zeigefinger der rechten Hand an und hob ihn strack in die Höhe.

»Gut so. Kann ich gebrauchen, wenigstens bis nach Nymwegen zu. Holla, Lambert!«

»Kaptein!«

»Wie weit ist gelöscht?«

»Die achtzig Sack an Jakob Terheiden erledigt. Jetzt kommt Jettchen Pottlot in der Kalvarinerstraße dran. Dann die jüdische Firma. Giepere nicht drauf, denn Sally Herzlieb und Söhne geben man 'n poweres Trinkgeld.«

»Um so besser bedient Ihr Abrahams Samen von wegen der eigenen Honorigkeit. Im übrigen: präzise um elfe wird weitergefahren.«

» Well, Kaptein.«

»Ab denn nach Kassel.«

Der Morgen stieg höher. Der Auftakt im Emmericher Hafen setzte ein, nachdem die auf dem Rheinschiff ›Gott mit uns‹ längst in Tätigkeit waren. Die ersten Boote machten Dampf auf, die erste Sirene tutete langatmig über das grüne lehmige Wasser, andere folgten: Tierstimmen, die heulend ihren Weg durch den ziehenden Nebel suchten. Der holländische Steamer ›Jan Herkenrath‹ stampfte langsam von der Ankerstelle, drehte inmitten des Stromes bei, prustete mit braunroter Straußenfeder gemächlich bergaufwärts. Ketten ratterten, Trossen gischten durch das schaumige Wasser, scharfe Signale kamen von den benachbarten Schiffen herüber.

Zwischen Bordwand und Kaimauer lagen noch diesige Schwaden.

Hemskerk warf plötzlich den Schädel herum.

Auf den Planken, die Deck und Ufer verbanden, nahten sich Schritte, die nicht zu seiner Mannschaft gehörten, Schritte mit hellem Klirr und Klang und mit einer anständigen Portion Selbstbewußtsein unter den Sohlen.

»Blexem!«

Zwei scharfe Falkenlichter berührten die seinen.

»Morgen, Kapitän!«

»Nu wird's Tag!« rief der Alte. »Reiner Auwater in voller Montur und das zu 'ner Zeit, wo die Dachscheißer noch dabei sind, sich ihre Traumwelt aus den Federn zu plustern! Im übrigen« – und er hielt ihm die Rechte hin – »willkommen dahier.«

» Merci, Kapitän!«

»Ja, aber und um es mit einem Worte zu sagen: warum schon so früh aus dem Bau?«

In dem scharfen Gesicht des jungen Mannes zuckte es auf. Die Lippen kniffen sich ein, als wenn es ihnen schwer fiele, die passenden Worte an die richtige Stelle zu setzen.

»Nichts für ungut,« sagte er endlich. »Ich möchte nur in aller Ehrfurcht und Offenherzigkeit ... obgleich ich erst nach der holländischen Reise ... Aber wie die Dinge so liegen ... Vierzehn Tage sind 'ne Ewigkeit, haben Pech an den Schuhen, und da unsereins Kopf oben behalten muß, um mit Amt und Pflicht nicht in Widerpart zu geraten, andererseits aber so 'n gebundener Zustand einem mehr oder weniger die freie Besinnung abspricht, da hat man, offen gestanden, den heiligsten Wunsch und die verdammte Schuldigkeit, sich mit 'nem präzisen Ja oder Nein in Verbindung zu setzen.«

»Kann das verstehen, junger Mann. Bloß weiter im Texte.«

»Und da möchte ich wissen ...«

Reiner stoppte ab. Seine Blicke irrten zur Seite, als wenn sie etwas zu suchen hätten.

Der Alte griemelte vergnügt vor sich hin, tat einen nachdenklichen Zungenschlag und legte seinem Besuch die Hand auf die Schulter.

»Junger Mann, Sie sehen sich wohl nach 'ner Hilfsaktion um, ob die Ihnen nicht so 'n bißchen beispringen könnte? Gar nicht so ohne, denn 'ne Doppelflinte hat mehr Chancen aufzuweisen als 'ne einläufige Donnerbüchse. Selbstverständlich nur bildlich gesprochen. Indessen jedoch: besagte Hilfsaktion ist noch nicht klar für's Deck, befindet sich noch in der Achterkajüte, um ihre Reserven wieder in Ordnung zu kriegen. Sie müssen nämlich wissen: wir hatten gestern abend 'ne ziemlich schwere Campagne am Krantor bei Michel Virgilis, als da waren: Jakobine und meine Wenigkeit, Düweke Brinkmann, Michel natürlich, der schließlich das heulende Elend bekam und immerzu gröhlen mußte:

Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd;
In Emmerich ist das umgekehrt ...

und dann noch ... ja so ... da war noch Baron Riswyk von Haus Borghees vorhanden. Ich kenn' ihn weniger, hab' aber 'n gewisses Interesse daran, mich mit ihm ins Reine zu setzen, denn er war äußerst zutunlich, und da möchte man wissen: 'n gediegenes Bauwerk oder bloß 'ne schöne Fassade?«

»Riswyk ist als Kavalier zu taxieren.«

»Also doch!«

»Wie ›also doch‹?«

»Gott, ich meine nur so. Mit den Edelmännern weiß man so recht nicht Bescheid. Die haben meistenteils 'nen fixbeinigen Kurs, fünfundzwanzig Knoten und so, an der Logleine gemessen. Da kann unsereins so richtig nicht nachkommen. Nur dann und wann wollte mit ihm der Deubelskerl durch die Lappen brennen, und da dachte ich mir: mußt dich mal umhören. Vielleicht ist der ganze Mann, wie schon oben bemerkt, bloß 'ne schöne Fassade.«

»Gewiß, er hat schon seine absonderlichen Tourengänge. Schlägt auch dann und wann über Stränge und Latierbaum. Aber die Art, wie er mit Wald und Feld einig geht, im Wild nicht das Objekt, sondern den Freund sieht – in dieser Beziehung sitzt ihm schon der Herzmuskel an der richtigen Stelle. Außerdem: bei Ypern habe ich mit ihm in Tuch- und Ärmelfühlung gestanden – ich, der Oberjäger, er, der Deutzer Kürassieroffizier ... den abgebrühtesten Tommys gegenüber ... im Schützengraben ... Tage um Tage ... Nächte um Nächte ... im wildesten Trommelfeuer ... und als es dann hieß: der Abschnittskommandeur hängt zwischen den Stacheldrähten, kann nicht unter die Erde – da Riswyk, ohne sich umzusehen, in die Hölle hinein ... und kam zurück, den Toten zwischen den Armen ... und legte ihn ab ... und sagte bloß so nebenher: Es ist ja völlig egal, ob zwischen den Drähten oder unter der Erde. Irgendwo muß der Mensch seinen letzten Zerfall, seine Auflösung finden. Ich tat's um seiner braven Helene willen. Die Frau barmte mich, denn nun weiß sie doch, wo sie ihren Friedrich Wilhelm von Bischopink bei den Schleusen zu suchen hat. Adel verpflichtet. So der Baron, um aufs neue nach seinem Karabiner zu greifen und 'nen vorwitzigen englischen Stabsoffizier von seinem Beobachtungsposten herunterzuflitzen. Das ist der Baron Riswyk auf Borghees, und sowas hat schon seine besondere Note, vergißt man nicht wieder.«

Hemskerk legte seinen Kopf luv und lee, räusperte sich und sagte mit stiller Ergriffenheit: »Nee, tut man nicht wieder. Großartig das. Will's in meinem Tabular vermerken. So bezeichne ich nämlich meinen Gehirnkasten, wo alles bestens verbucht steht. Und nun, junger Mann, wie war's denn? Wir sind doch nicht wegen des Barons auf Visite erschienen, wenn ich auch zugeben will: es wäre besser um Deutschland bestellt, hätten im Binnen- und Feindesland nur solche Mordskerle wie Riswyk auf Posten gestanden. Ich denke, wir können uns nu vom Kriegerischen aufs Geschäftliche legen, denn auch hier muß sich alles so blank an Rippen und Planken ergeben wie in der Kombüse eines Ostindienfahrers.«

»Wie Sie befinden, Kapitän.«

» All right!« und die Stimme des Alten rollte über Deck: »Zwei Stühle am Steuerkasten!« um sich dann wieder an Reiner zu wenden: »Alles bloß von wegen 'ner herzlichen und bekömmlichen Ansprache. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

Alsbald saßen sich die beiden beim Steuerkasten dicht gegenüber.

Das Wetter klärte sich auf, das Morgenlicht schlug Funken, legte sich mit tausend und abertausend Gold- und Silbersplitterchen über das langsam und großartig dahinziehende Wasser. Stolze Bilder kamen in Sicht, flossen ineinander über wie zu einem einzigen Akkord, der Nähe und Weite überzitterte: das alte Emmerich mit seinen hochstöckigen Giebelfronten, die ernsten Schattenrisse von Sankt Aldegondis, das bunte Gewirr von Segeln und Masten, das werktätige Schaffen des gewaltigen Riesen, der auf den Namen ›Arbeit‹ hörte, die breite Masse des mächtigen Stromes mit seinen niedrigen Ufern, brennend in Gold und Purpur, überflogen von silberigen Möwen, die es eilig hatten, den hellen Tag auf ihren Schwingen weiter zu tragen.

»So, junger Mann,« sagte Hemskerk, »jetzt säßen wir hier. Ich hab' das kommen sehen, bloß nicht so plötzlich. Wie Sie selber sagten, sollte sich das alles erst nach der holländischen Reise begeben, in Grieth, zwischen meinen vier Pfählen, wo sich für solche Geschichten kommodere Stunden finden lassen. Da Sie sich aber frühzeitiger einstellten – na, gut denn. Schießen Sie los und verstauen Sie mal, was Sie bei mir abladen wollen. Hier ist Bordfreiheit, und Bordfreiheit habe ich allzeit in Estimierung gehalten.«

Er pfiff sein Priemchen über die Reling.

»Ich warte.«

Reiner sah ernst vor sich hin. Was wollte der Alte? War die Angelegenheit noch nicht spruchreif geworden? Heiß stieg es in ihm auf. Er sagte denn auch mit eingekniffenen Lippen: »Kapitän, warum diese Umstände? Ich dächte, Sie wären im Bilde, Jakobine hätte Ihnen alles gesagt und es läge nur bei Ihnen ...«

»Blexem! Läge bei mir, und sie hätte mir alles gesagt? Ganz richtig. Jawoll, hat sie getan, denn meine Herzensmamsell weiß, was sie tut und ist nicht auf ihr weibliches Mundwerk gefallen. Die nicht, beim wahrhaftigen Gott nicht. Kann das beschwören. Ist auch auf mich losgegangen wie der olle Blücher auf die verfluchtigen Reichsbedränger von Franzosen. Das will ich festgelegt wissen, hat mir auch ausnehmend an Jakobine gefallen. Kann ich wohl sagen.«

Reiner atmete auf.

»Und Ihre Ansicht, Kapitän?«

»Ist nicht so einfach niederzulegen. Nur bin ich der Ansicht: Takelage und Schiff müssen zusammenpassen wie 'n irdener Pott zum irdenen Deckel. Ich meine ... Was ich jetzt sage, das hab' ich bereits mit Jakobine besprochen. Aber doppelt hält besser, vornehmlich dann, wenn zwei Mannsleute sich Stirn gegen Stirn gegenübersitzen, um wechselseitig klaren Rotspon in die Buddel zu kriegen. Sehen Sie mal an, junger Mann,« und er deutete mit seinem Daumen breit über die Schulter, »da drüben, scharf Süd-Süd-Ost, ist Grieth auf der Navigationskarte zu finden. Da liegt auch mein properes Anwesen. Abgesehen von 'nem rentablen Wohnhaus nebst Garten und sonstigen Kommoditäten, kann ich da so präter und prätorius über vierhundert Morgen Wiesenland und kapitale Knollenfelder verfügen. Ich sage das bloß wegen der richtigen Feststellung. Aber da ist noch was anderes ... da ist noch ein Kirchhof, und auf diesem Kirchhof liegt meine brave und herzensgute Frau schon seit Jahren beerdigt. Daran zu denken wird schwer,« und seine Stimme knitterte allmählich zusammen, »wird äußerst schwer, junger Mann, denn unser lieber Herr Jesus Christus hat im Ölgärtlein von Gethsemane nicht heißer gebetet und Blut geschwitzt, als ich gebetet und Blut geschwitzt habe, als sie bei ihrem Hingehen noch sagte: Gräme dich nicht und sorge dich nicht. Der Herr hat gerufen, und ich folge dem Herrn. Sein Name sei gepriesen in alle Ewigkeiten. Ich gehe nicht fort. Ich lebe weiter ... in Jakobine lebe ich weiter. Hemskerk, du mußt den Kopf oben behalten, und dann sah sie mich noch einmal an, so recht lange und tief aus ihren gütigen Augen heraus ... und dann war's alle mit Mutter ... alle.«

Er schwieg und stierte ins Wasser.

»Aber Jakobine, die habt Ihr,« wagte Reiner das große Schweigen zu brechen, »die ist Euch geblieben.«

Der Alte fuhr auf.

»Jawoll, die hab' ich ... ist mir geblieben ... als meine einzige Hoffart, mein Stolz, meine totale Beseligung, und wenn ich den ganzen Rhein absuche, von Düsseldorf bis nach Emmerich herunter: so'n auserwähltes Stück von Weibsbild ist nicht mehr auf die Beine zu stellen. Kurz, sie hat Milieu von oben bis unten. Ob's weh tut oder nicht, das muß mal gesagt sein. Die ist wie 'ne Linie, geht wie auf Draht, und da darf ich mir wohl 'ne Frage erlauben, und die Frage ist diese: Unter Berücksichtigung meines aufgeschlagenen Kontobuches, was haben Sie in Gegenrechnung zu stellen? Halt, noch ein Wort. Ich habe Ihren seligen Vater gekannt. Hut ab vor so 'nem geraden Streiter und Schildträger in Christo. Aber es ist hier nicht von Ihrem seligen Vater, sondern von Ihnen die Rede. Da steht mir die Frage zu: Junger Mann, was haben Sie selber zu bieten?«

»Hier dieses...!« und Reiner erhob sich.

Die ganze Gestalt war eine stählerne Gerte, das Gesicht ein glanzvoller Psalm, aus der Bibel genommen.

»Hier dieses, Kapitän: hier diese Fäuste, die grüne Farbe, mein Amt und die Zeit, die ich als Oberjäger im Felde verlebte.«

»Verdammich! Viel und doch nicht viel, junger Mann. Damit kann einer knappemang 'ne Wasserratze aus 'nem Kielraum herauspfeifen. Bloß äußerlich. Aber ich lege Wert darauf, die innere Fakultät, die sogenannte Herz- und Nierenangelegenheit zu erfassen ... und da möchte ich wissen...«

»Kapitän, was soll ich da sagen?«

Reiner trat vor.

Die Unrast seines Blutes verstärkte sich wieder.

»Ich führe mein Inneres nicht mit der Zunge herum,« sagte er heiser. »Überhaupt, Kapitän – man soll sich selber nicht anpräsentieren. Aber ich fühle heraus, Jakobinens Vater will mein Glaubensbekenntnis. Also gut denn, wenn's einem auch schwer fällt und direkt gegen den Strich geht. Wie Peitschenhiebe hör' ich's noch knallen, und das sind die Peitschenhiebe, die mir mein braver Vater durch die Seele striemte: Treue um Treue, achte Ordnung und Gesetz, bleibe allzeit im Deutschtum, diene und lasse dich durch die Jetztzeit nicht unterkriegen. Kapitän, so hab' ich's gehalten: Stirn geradeaus, Ellbogen in die Seiten gestemmt, so durch die Welt gegangen und das Leben erfaßt. Der Engländer sagt: Right or wrong – my country, und der Engländer hat recht, denn er ist ein eiserner Rechner; der Deutsche vielfach hingegen: Fiat justitia, pereat patria. Pfui Deibel noch mal! Fort mit diesem Gelumpe...«

»Und Fixfeuer auf die verluderten Köppe!« rief Hemskerk dazwischen. Seine Augen flackerten. »Und das mit dem König... und das mit dem Dienen...?!«

»Ich heiße Reiner, Kapitän, und reiner kann ich die Sache nicht vorbringen.«

»Bravo, mein Jung! Gut deutsch allerwege!«

Und die Pratze des Alten griff zu, packte die Rechte des Jungen.

Auge brannte in Auge.

»Blexem! Vorn, mittschiffs und achtern – alles in bester Verfassung, obgleich ich mir, und das offen gestanden, die kommenden Tage meiner Herzensmamsell etwas anders vorgestellt habe. Ich dachte mir so: mein Döchting ist nu mal von 'ner ganz exquisiten Sorte und Aufmachung. Viel zu gut für die Welt, überhaupt viel zu gut für die Mannskerle. Höchstens, daß einer käme, einer von der oberen Sorte, so ins Große und Opulente hinein, der meine Mamsell auffordern täte, sich mit ihrem schönen und auserwählten Hinterkastell auf sein plüschseidenes Sofa zu setzen... als Prinzessin und so... selbstverständlich mit 'nem vaterländischen Einschlag, denn ohne diesen konnte ich mir den Auserwählten und die Brautschaft nicht denken.«

Reiner prallte zurück.

»Wie ist das zu verstehen, Kapitän?« fragte er schartig.

»Wie's paßt,« lachte Hemskerk und sah dem Bewerber steif in die Augen.

»Na, so was!«

Dieser faßte den Unterton nicht, der wie ein fideles Schnäpschen durch die Stimme des Alten hindurchgluckerte.

»Also wie's paßt?! Auch 'ne Antwort. Da kann ich wohl gehen.«

»Was gehen...?!«

Ein helles, kraftfrohes, wieherndes Lachen schlug ihm entgegen.

Fester schnürte ihm Hemskerk die Rechte.

»Oller Nachtwächter, hörst du denn die pläsierlichen Spatzen nicht pfeifen? Hiergeblieben, mein Jung. Ein Kaptänswitz hat auch seine Freiheit an Bord. Hab's ja schon eben vermerkt: die innere Fakultät – vorn, mittschiffs und achtern, alles in bester Verfassung. Also – warum nicht? Und wenn die Herzensmamsell immer noch will, wie sie gestern gewollt hat – ich, der Kaptän vom Rheinschiff ›Gott mit uns,‹ ich habe gar nichts dagegen.«

»Kapitän...! Kapitän ...!« und Reiner tat einen Atemzug, so recht aus tiefster Seele heraus, als wollte er mit diesem Atemzug sein Glück, seine Liebe und die ganze schöne Welt, eine Welt in Gold, in sich hineintrinken.

»Nein, Reiner, gar nichts dagegen. Das mit der äußeren und inneren Fakultät ist in Ordnung. Das hat mir mein Döchting schon gestern abend bis auf den letzten Gamaschenknopf auseinandergepellt und mir zu kosten gegeben. Ich für meine Person wollte bloß noch von der anderen Seite die Bestätigung einholen, um so die Konnossemente für 'ne propere eheliche Schiffahrt perfekt zu machen. Also – mit Gott denn! Seid wie die Karnickel am Sandloch: immer fidel, Kopp oben und allweil besorgt für 'nen regulären Nachwuchs. Und somit: los denn dafür. Begeben wir uns zur Achterkajüte. Blexem! Wird die Augen machen, mein Döchting, meine Herzensmamsell!«

Und sie gingen Hand in Hand über Deck, im blinkenden Sonnenlicht, über sich knatternde Topps und das Musizieren im Takelwerk, um sich 'ne Welt in Gold und das Morgengeläut aller Kirchenglocken.

»Fein das, mein Junge!«

Welm, der Zweitmatrose, sah ihnen nach.

»Da wird was jung unter Deck,« griemelte er still vor sich hin. Dann stieß er seinen Oberkollegen, der just von der Löschung wieder an Bord kam, in die unteren Rippen und grielachte: »Lambert, nu wird gleich einer die Harmonika ziehen.«

»Dämlack!«

»Du aber nicht.«

»Na – wer denn?«

»Der andere, der in der grünen Montur. Der spielt sich per sofort und direktemang auf Indien zu, in die Dattelplantagen hinein, wo die Kakadus und die Popageien mitsamt den übrigen Biesters man so herumfliegen wie bei uns die Ringeltauben und es so heiß ist, daß einem selbst die kommodesten Kleider scharnieren. Lambert, vastehste?«

Da äugelte Lambert steif auf die Seite und begab sich nach achtern.


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