Joseph von Lauff
O du mein Niederrhein
Joseph von Lauff

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Fünfzehntes Kapitel

Jawohl, der zugeknöpfte und undurchdringliche Herr in Livree blieb die Verschwiegenheit selber. Keine schleimige Ackerschnecke hätte sich heimlicher bewegen, keine graue Maskenlarve sich verborgener hinstrecken können. Seine Zunge war tot, so tot wie die dumpfe, lauliche Luft im Beerdigungsinstitut ›Caritas‹ in Firma Aloisius Joseph Anderheiden & Söhne, noch toter wie die blanken Zinnbeschläge auf dem Deckel eines frischgefirnißten Sarges. Er ging eben durch Schatten, war selber ein Schatten, wollte nichts anderes vorstellen, und Schatten können nicht reden.

So standen die Dinge hüben und drüben, und dennoch begann es in Huisberden hier und da und an einzelnen Stellen zu sickern. Wie in dem Rinnsal eines Wiesenbächleins wahrend der ersten Frühlingsschmelze ließ sich zeitweilig ein verhaltenes, dann ein immer emsiger werdendes Gluckern vernehmen.

Es mochte ungefähr um die nämliche Stunde sein, als Hemskerk und Jakobine die große Auseinandersetzung hatten, sich ritterlich bekämpften, sich wieder näherten und der alte, schnurgerade Kapitän in die Worte ausbrach: »Mein Schiff wird sich freuen, mal unter deinem Kommando zu stehen, denn wahrhaftig in Gott: du bist eine Hemskerk,« etwa um diese Stunde geschah es, daß sich das Gluckern des Wiesenbächleins in Huisberden fast in einen kleinen, aber heftigen Tobel verwandelte und Anstalten machte, über seine Ufer zu treten.

Herr Severin Stappers war rein aus dem Häuschen, sein ganzes Benehmen wie das eines Übersinnigen, ja, eines Verstörten. Arme und Hände unter die langen Schöße seines Rockes geschoben, den birnförmigen Oberkörper mit dem schmalgesichtigen Kopf vornübergebeugt, durchmaß er die Küsterstube mit seinen steifledernen Ständern, als gälte es, einen Dauerlauf von hier bis weit ins Gelbrische hinein zu markieren.

Bald darauf klebte er unvermittelt am Boden, als wäre er mit Reißzwecken festgelegt worden. Dann drehte er sich um seine eigene Achse, begann leise zu seufzen und seine tiefliegenden Grubenlichter auf seine bessere Hälfte zu richten.

Die saß seelenruhig, wenn auch etwas geröteten Angesichtes am Fenster, ein Körbchen neben sich, ein munteres Sonnenschirmchen zwischen den Beinen, denn sie war erst vor einer kleinen Viertelstunde von Emmerich zurückgekehrt, woselbst sie Einkäufe gemacht und schwerwiegende Neuigkeiten eingeholt hatte.

Mit blanken Augen begegnete sie den düster schwelenden Grubenlichtern ihres Herrn und Gebieters. Ein vielsagendes, wenn auch trauriges Lächeln umkräuselte ihre niedlichen Mundecken.

»Na – und...?« fragte sie, ohne mit einer Wimper zu zucken.

Severin überstrudelte sich.

»Angelika, ich verstehe dich nicht und werde dich niemals verstehen, denn deine Mitteilungen überspringen den Pferch meines Horizontes.«

»Das sieht dir ähnlich,« versetzte sie mit der abgeklärten Resignation eines Nönnchens von der ewigen Anbetung.

»Angelika, ich ersuche dich im Namen des Herrn, halte den Mund, sei verschwiegen wie der Maulwurf, den sie auf lateinisch Talpa europaea benennen, denn jedes unvorsichtige Wörtchen könnte es bewerkstelligen, uns in die Tinte zu reiten, ja, den Strafrichter veranlassen, uns vor sein Forum zu beordern.«

»Severin, hab' dich nicht so.«

»Angelika, was bezweckst du damit, mich mit diesem ›Hab' dich nicht so‹ kränken zu wollen? Ich strebe dein Bestes an, will nur das Ansehen und die Ehre unseres Hauses behütet wissen.«

Er hob beschwörend die Arme, um sie wieder fassungslos aus der Höhe herunterzuholen. Dabei duftete er stärker nach tropfendem Wachs, nach sacht dahinschwelenden Dochten von Sterbekerzen.

»Ich beschwöre dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes... propter reverentiam: deine Lippen seien wie eine versiegelte Quelle.«

»Halt!« sagte sie geradeheraus und stieß dabei etliche Male mit ihrem Sonnenschirmchen auf den Velourteppich. »Nicht weiter. Willst du ein Mann sein, oder hast du deine Mannbarkeit bereits auf den Kirchhof gefahren, um ihr dortselbst ein › De profundis‹ in die Pierekull nachzusingen?«

»Angelika, was meinst du damit?«

Sein rostfarbiger Schopf sträubte sich aufwärts.

»Denke doch an unsere noch unmündigen Kinder, an den eigenen Frieden, wenn du es auch nicht unterlassen kannst, mich in die Grube zu quälen, und solches geschieht, wenn du deine vorgebrachten Verdächte und Unterstellungen weiter anbringen solltest.«

»Was Verdächte und Unterstellungen...?! Herr Severin Stappers, ich bitte mir aus, meine Respektierlichkeit nicht bezweifeln zu wollen, wo ich seinerzeit nahe daran war, in 'nem baronlichen Mercedeswagen ins Hochamt von Sankt Aldegondis fahren zu können – und da kommst du mir in die Parade gefahren, als wäre ich von heute und gestern und direkt aus dem Spülstein gezogen.«

»Aber Angelika, da muß ich doch ernstlich ersuchen...«

»Was ich weiß, kann ich auch anpräsentieren.«

»Nicht immer.«

»Aber wenn die Wahrheit ihren regelrechten Trumpf aufspielt – was dann?«

»Auch dann ist Vorsicht geboten. Außerdem bezweifle ich die ganze Hiobsbotschaft.«

»Mann Gottes!« und Engelke Stappers stellte ihr Sonnenschirmchen beiseite und schlug entsetzt ihre Hände zusammen. »Ich sehe, das Geschlecht der ungläubigen Thomasse haust noch immer auf Erden und sagt, wenn es sich bei hellichtem Tage vor 'ner Erbsenrabatte befindet: Das sind keine Erbsen, sind es auch niemals gewesen, sondern vielmehr Lauch oder schöne Industriekartoffeln. Das behaupten die ungläubigen Thomasse.«

»Angelika,« versetzte er nach einiger Weile, und zwar um vieles ruhiger geworden, »ich gedenke des Spruches: Vermutung und Nachrede gehen oftmals in häßlicher Brautschaft zusammen, und glaube mir, eine solche Brautschaft führt niemals zu einer ersprießlichen und förderlichen Ehe.«

»Herr,« fuhr sie auf, »was du nicht sagst! Ich werfe deine Vermutung und Nachrede, deine Brautschaft und Ehe über meine linke Schulter, so wie die Juden es in der Gewohnheit besitzen. Fort damit, denn so was ist bei mir noch niemals jung geworden. Dafür jedoch...«

Ein Ruck ging durch die appetitliche, dralle und rassige Frau. Eine kurzstielige Sonnenblume, mit rundem und frischem Gesichtchen, den heroischen Busen wie die Buckeln einer Schildjungfrau tragend, erhob sie sich, die Blicke eindringlich auf den erstaunten Gatten gerichtet.

»Mann Gottes, ich habe dir eine Frage zu stellen.«

»Angelika, ich bitte darum. Propter reverentiam, ich bleibe dir die Antwort nicht schuldig.«

Er warf sich forsch in die Weste, als er das sagte.

»Ich warte darauf, wie ich mich so oft genötigt sah, um deinetwillen zu warten.«

Es kam ordentlich patzig heraus, mit welcher Verve er dieses erklärte.

»Dann bitte, gib Antwort: Hast du Augen im Gesicht und Lauscher am Koppe, oder bist du dieser himmlischen Güter nicht teilhaftig geworden?«

Diese Unterstellung verdutzte ihn sichtlich.

Seine erzwungene Herzhaftigkeit kam ins Wanken.

»Was verstehst du unter Augen im Gesicht, unter Lauschern am Kopfe?« fragte er mit einer Stimme, die nicht mehr zu den kernigen Stimmen gehörte. »Was soll es mit ihnen?«

»Ich meine: ist dir vielleicht das Gleichnis von dem seligen Tobias passiert, dem 'ne Schwalbe das Sehen verschweinigelte, und hast du mehr oder weniger auf deinen Ohren gesessen, um dir die Geräusche des Tages vom Leibe zu halten?«

»Nein, Angelika, nein. Ich höre und sehe noch immer wie die Kinder Israels hören und sehen, denn diese sind nicht von heute und gestern.«

»Mynheer, dann muß ich mich wundern; denn wärst du bei leibhaftigen Sinnen, dann könnte dir nicht entgangen sein, was mir schon seit einigen Wochen in den Gliedmaßen drinsteckte. Nein, Mynheer, bei offenen Sinnen hattest du wahrnehmen müssen, wie hier in Huisberden und drüben in Grieth manches sich nicht auf den richtigen Spulen befindet, sich komische Leergänge herausgestellt haben... wie der junge Förster herumgeht, als wären ihm die besten Ringeltauben fliegen gegangen... wie Jakobine nicht mehr im hiesigen Kirchspiel erscheint, wenigstens tut, als läge Huisberden ad minimum hundert Stunden hinter den Vereinigten Staaten von Amerika... wie Mutter Auwater meine Anwesenheit hintergeht, dabei allzeit im Kirchenstuhl herumsitzt, als wäre das gebrannteste Herzeleid über ihren Hausstand und ihre Verwandtschaft gekommen... und so was kann einem schon so 'n bißchen den Glauben an die Vorsehung beheben, denn unsereins hat mit dieser lieben Familie doch allzeit in 'nem angenehmen Verhältnis gestanden.«

Sie setzte sich wieder und sah auf die Straße hinaus, wo eine einzelne Krähe mit ihrem grindigen Schnabel auf- und niederstolzierte.

»Die paßt gerade dazu,« sagte sie grantig. »Diese Unglücksvögel sind immer zu haben, wo's etwas zu beschreien gibt, denn ich kann mir nicht helfen: zwischen Grieth und Huisberden wollen die goldenen Ringe so recht nicht mehr zusammenhalten.«

»Du, berufe die Sache doch nicht. So was darf man nicht machen. Ich denke dabei auch an die Bedrängnisse des Herrn Kaplans.«

»Meinst du ich nicht?«

»Angelika, ich glaube noch immer: deine Sorge treibt dich zu weit.«

»Sie kann nicht weit genug treiben,« und ihre üppige Bluse kam wieder ins Stürmen. »Meine Anhaltspünkter stehen auf breiten Absätzen, und leider Gottes sei es gesagt...«

Ihr Atem folgte nicht mehr.

Severin wagte es, ihr die Hand aufzulegen.

»Angelika, es werden lediglich Vermutungen sein, die dir Veranlassung gaben, Dinge zu sehen, die sich bei näherer Betrachtung als illusorisch erweisen.«

»Vermutungen – ja, aber bloß bis vor einigen Stunden. Indessen – jetzt, wo ich von Emmerich komme, woselbst sich Leute befinden, die zu schweigen verstehen, aber mit diesem Schweigen alles zu sagen wissen, da sind diese Vermutungen und Verdächte als lautere Wahrhaftigkeiten siegreich hervorgegangen. Severin,« und sie stelzte sich wieder strack und stramm in die Höhe, »ich brauche dir nur den Namen Düweke Brinkmann zu nennen.«

»Was – Düweke Brinkmann?!«

»Ja, Düweke Brinkmann, obgleich ich die Ansicht vertrete, sie hat's nicht aus sich, sondern anderweitig in Rapportierung bezogen... und ich kann mich nur Stein und Bein drüber wundern, daß sich im hiesigen Kirchspiel noch keine offenkundigen Mäuler befinden...«

Dem braven Küster lief es kalt über den Rücken.

»Ich bitte dich endlich auf den Kern der Sache zu kommen. Im Angesicht des ewigen Gottes, was ist denn eigentlich geschehen?!«

»Das, was ich in Emmerich als wissenschaftlich einholen konnte. Kurz, es handelt sich um Jakobine Hemskerk und Reiner, und wenn nicht übernatürliche Hilfe...«

Severin fuhr sich erregt durch die Tolle.

»Aber Angelika, das wäre doch furchtbar!«

»Wäre es auch. Man könnte darüber Tränen vergießen.«

Herr Stappers verschraubte die langen Fingergelenke, um sie wieder auseinander zu haspeln.

»Mein Gott und mein Heiland – diese stolzen und aufrechten Menschen! Wie ist das nur möglich gewesen? Da müssen doch Dinge passiert sein...!«

»Sind auch passiert. Ganz entsetzliche Dinge! Aber man weiß nichts genaues. Bloß dieses. Auf Borghees hat das Malör begonnen. Erst in allen Ehren und mit Rosenbuketts. Dann in verfänglicher Weise, 'n hochbeiniger Rehbock mit langen Hörnern, wie Düweke Brinkmann behauptet, diverse Bouteillen und 'ne wunderschöne Gräfin mit 'nem komischen Namen spielen 'ne gewisse Rolle dazwischen. Lustigkeiten über Lustigkeiten. Dann hat's eigenartige Knälle gegeben, die Gisbert von Riswyk veranlaßten, sich an 'nen berühmten Doktor in Utrecht zu wenden. Es soll so schlimm ja nicht sein, ist aber doch immer von 'ner gewissen Bedeutung. Allerdings muß ich sagen: Gisbert und Reiner haben sich dabei als Edelmänner herausgemustert. Aber die Knälle sind nicht abzustreiten, und das ist das Fatale in der ganzen Begebenheit, denn von diesem Momang an sind die Schiffe zwischen Grieth und Huisberden sozusagen abgebrannt worden; jedenfalls: von stunds an ist Jakobine nicht mehr im Forsthaus gewesen, geht Reiner nicht mehr so pläsierlich seines Weges daher, sucht Mutter Auwater den gestrigen Tag, ohne den gestrigen Tag finden zu können. Das kann ich beschwören, denn auch ohne Düweke Brinkmann habe ich diesen traurigen Ausgang schon lange vorher kommen sehen, und das ist vielleicht der betrübsame Schluß einer mit Lust und Wonneseligkeit angefangenen Liebe.«

»Und der Herr Klemens ...? Sollte dieser so gänzlich im Dunkeln herumtasten?«

»Ich kann es nicht sagen.«

»Da muß man doch aufklärend eingreifen, um etwaigen falschen Gerüchten und Falsifikaten mannhaft und propter reverentiam entgegenzutreten.«

»Tu's man. Es kann ja nicht schaden. Aber ich glaube, das mit den falschen Gerüchten und den Falsifikaten läßt sich nicht mehr so auskurieren, daß einem wieder warm und wohlig ums Herz ist.«

»Angelika,« sagte Severin aus tiefster Seele und echter Menschenliebe heraus, »ich will es versuchen. Vielleicht bringe ich eine angenehme Nachricht nach Hause, denn ich kann es nicht fassen, daß gerade diesen hervorragenden und edlen Menschen so etwas widerfahren sollte. Man muß ein übriges tun, seinen Mitbrüdern in ihren Nöten beistehen. Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. So der heilige Lukas im 5. Kapitel und im 31. Vers. Ich denke, Herr Klemens wird ein Arkanum besitzen.«

Engelke nickte.

»Dann geh' man mit Gott. Ich für meine Person kann deine brave Art nur herzlich bewundern. Möglich, der Herr Kaplan wird nicht ermangeln, opferfreudig zu geben. 'ne geistliche Kraft hat von jeher 'ne größere Einsicht als unsereins besessen.«

Sie drückte ihr Schnupftüchlein gegen die Augen: »Severin, also mit Gott denn ...« und als die Dämmerung kam, die blanken Sterne heraufzogen und die holde Frau Venus mit ihrem hellen Liebeslaternchen die weite Landschaft absuchte, trat Severin Stappers über die geistliche Schwelle. Während des Anmarsches hielt er den Hut zwischen den Händen, als wenn er zu einem hochheiligen Orgelspiel ginge.

Eine geschlagene halbe Stunde gab er Herrn Klemens die Ehre.

Wieder zu Hause angekommen, stülpte er seinen etwas angefressenen Zylinder mit einer schmerzlichen Geste über den Riegel, fuhr sich bedenklich über den rostigen Haarschopf, um mit einem schweren Seufzer das Gemach zu betreten, wo nebenan sein reichlicher Nachwuchs, die stolze Kraft seiner Lenden, einen Höllenspektakel vollführte.

»Wollt ihr wohl still sein,« rief Engelke in das Nebenzimmer hinein, »euer Pappa hat 'ne Rapportierung zu übermitteln,« um geräuschvoll die offene Tür zu schließen und sich an ihren Gatten zu wenden: »Na, Severin, was sagte Herr Klemens?«

»Angelika, das ist nicht mit einem Worte niederzulegen. Der geistliche Herr war wie immer freundlich und gütig. Er hörte mich an, nickte zu verschiedenen Malen, teils ernsthaft, teils mit einem erzwungenen Lächeln. Als ich zu Ende war, antwortete er mir in gediegenen Worten. Vielfach in Sentenzen, meist den Sprüchen Salomonis und denen des Jesus Sirach entnommen. Dann kreiste er mich mit Spiegelungen und Spiegelbildern ein und gab der Hoffnung Raum, mit Gottes Hilfe und dem ausgleichenden Wandel der Tage würde sich vieles einrenken lassen. In nomine Patris ... Als ich aber über Borghees berichtete, zuckte es um seine schmalen Lippen. Mit einer kurzen Handbewegung winkte er ab. Lassen wir das, sagte er heftig, wenn auch gelassen. Es berührt mich mit leblosen Fingern. Im übrigen: ich danke Ihnen, mein werter Herr Stappers, auch Ihrer Gattin. Er grüßte verbindlich, gab mir auch noch recht freundlich die Hand, und dann bin ich nach Hause gegangen.«

»Und nu bist du hier,« versetzte sie ernsthaft, »und weißt jetzt, wie sich die Dinge verhalten.«

»Ja, Angelika, so halber bin ich wissend geworden und weiß auch, wie wir uns der Welt gegenüber zu benehmen haben. Schweigen und abermals schweigen und zum dritten Mal schweigen. In nomine Patris...«

»Schon um der christlichen Nächstenliebe und der Barmherzigkeit wegen,« bestätigte Engelke aus edelster Gesinnung heraus und legte gottergeben ihre Hände zusammen.

So geschah es denn auch. Die beiden hielten ihr Wort mit der Strenge von Trappistenmönchen. Just so wie der zugeknöpfte und undurchdringliche Herr in Livree. Keine schleimige Ackerschnecke hätte sich in dieser Beziehung heimlicher bewegen, keine graue Maskenlarve sich verborgener hinstrecken können. Sie hüllten sich in geheimnisvolle Schatten ... sie wurden selber zu Schatten ... und Schatten können nicht reden.

*

Auch in dem kleinen Garten des Forsthauses blühten die Georginen, sahen mit ihren bunten und lebensfrohen Augen in die Fenster hinein, ohne hier eine sonnige Gegenliebe und ein freundliches Entgegenkommen zu finden. Schon seit Wochen war die stille Beschaulichkeit dahin, tastete sich etwas Vergrämtes, Verweintes und Müdes von einem Zimmer in das andere hinein, und wäre nicht das Rotkehlchen gewesen, das Unwirtliche in diesen einst so frohen Räumen wäre noch unwirtlicher und bedrückter geworden. Und dennoch, wer genauer zuhörte, hatte das Unterbewußtsein, selbst in diesem anheimelnden Stimmchen tinkte es mit dem schmerzlichen Tinken eines Totenührchens, war der freie und muntere Waldgesang in einem langsamen Sterben begriffen.

Mutter Auwater fühlte und hörte das alles. Sie hatte an Reiner und Jakobine geglaubt wie an die Auferstehung des Fleisches, an die Wonnen und Freuden eines paradiesischen Daseins nach einem gottwohlgefälligen Erdenleben. Deren Liebe war ihr vorbildlich erschienen, heilig wie der Tod, lauter wie das Lichtchen am Öldocht, das in der ewigen Lampe der Kirche von Huisberden flämmerte. Und nun war dieses gekommen, dieses Unabsehbare, dieses Ungewisse mit fragenden und häßlichen Blicken, das nicht von ihr ließ und sie selbst dann behelligte, wenn bei ihr die stille Hoffnung aufkeimen wollte: es kann alles noch werden.

So auch heute.

Sie saß in einer Fensternische des Wohnzimmers. Ihre Augen waren gerötet vom Weinen. Kaum schien es ihr möglich, den Faden durch das Nadelöhr zu zwingen, um ihre Weißstickerei weiter zu fördern.

»Es geht nicht,« sprach sie verloren in sich hinein, das wehe Gesicht auf den Garten gerichtet, wo die Georginenstöcke sich alle Mühe gaben, eine heitere Note in die bekümmerte Seele dieser einsamen Frau zu tragen.

»Nein, es geht nicht, und ist mir doch früher ein leichtes gewesen. Aber dieses ewige Denken zermürbt einen schon bis in die äußersten Fingerspitzen.«

Hände und Weißzeug fielen ihr in den Schoß.

Der Kopf senkte sich langsam, und langsam redete sie vor sich hin: »Wer ist der schuldige Teil? Sie oder Reiner? Ich mag nicht dran rühren. Ich darf nicht und will nicht. Etwas Rechtschaffenes kann dabei nicht herauskommen. Du sollst dich nicht überheblich zeigen, dich nicht zum Richter ausschellen, zudem keinen ans Marterholz heften, es sei denn, Gott hat es gewollt. Niemand soll sich des unterfangen. Auch du nicht, Reiner, obgleich du dabei bist, den ersten Stein von der Straße zu heben, gesonnen, ihn auf Jakobine zu werfen,« und ihr verhärmtes Gesicht senkte sich immer tiefer und tiefer.

»Mutter, du hast richtig gesprochen. Man weiß nicht, was der andere Tag uns bringet. Die Nacht ist keines Menschen Freund. Der junge Morgen zeigt vielfach jegliches in anderen Farben. Du sollst nicht richten, auf daß du nicht gerichtet werdest, du sollst keinem das Marterholz auflegen, auf daß der Herr nicht Ärgernis nimmt und er sich in seinem Zorne genötigt sieht, dich selber mit diesem Marterholz zu belasten – es sei denn, wie du sagst: Gott hat es gewollt. Mutter ...!« und ein warmer Mund legte sich auf den Scheitel der Vereinsamten.

»Klemens – du ...?«

Sie richtete sich auf und begrüßte den jungen Geistlichen mit der Ehrerbietung, die sie ihm schuldig wähnte.

»Klemens, schon lange möchte ich sprechen: Nennet mich nicht Noëmi, die Heitere, sondern Mara, die Bittere, denn täglich mehren sich die ernsten Gedanken, die mich angehen mit häßlichen Eingebungen.«

»Mutter, warum das? Ich sagte dir schon: Der junge Morgen zeigt jegliches vielfach in anderen Farben, und in diesen Farben empfängt die Seele das Licht, das sie benötigt, um wieder aufzuatmen. In diesem Licht verliert sich das Frösteln, dem wir alle anheimfielen. Warten wir ab. Ich bin der Zuversicht, es wird die Stunde kommen, wo wir die Tränen vergessen, die wir geweint haben.«

»Wenn du denn glaubst ...«

»Ja, Mutter, ich glaube. Die Mißverständnisse werden sich klären, können nicht weiter so hingehen. Reiner wird zur Einsicht gelangen, denn ich kann mich von der Überzeugung nicht losreißen...«

Er brach plötzlich ab, um unvermittelt zu fragen: »Ist Reiner zu Hause?«

»Ja, Klemens. Vor einer kleinen Viertelstunde ist er von seinem Reviergang zurück, früher als sonst. Das gibt mir zu denken und macht mich unruhig.«

»Wo ist er zu finden?«

»In seiner Schreibstube. Gestern empfing er ein versiegeltes Schriftstück. Das erregte ihn sichtlich. Er scheint auswärtigen Besuch zu erwarten.«

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Zu welchem Zweck – ich weiß es nicht und kann es nicht sagen.«

In dem Gesicht des jungen Klerikers zuckte es auf mit dem raschen Zucken eines fernen Wetterleuchtens. Er machte einige Schritte auf und nieder, blieb dann stehen und sagte entschlossen: »Mutter, ich habe mit Reiner zu sprechen.«

Er wandte sich der hinteren Tür zu.

»Klemens, wenn du so gut sein willst: noch auf ein Wort.«

»Ja, Mutter.«

»Du – würdest du mir wohl einen Gefallen erweisen, mir einen heißen Wunsch erfüllen?«

»Aber Mutter, du weißt doch ... weshalb diese Frage?«

»Ja, mein Junge, ich weiß. Drum laß mich mal sprechen,« und sie hob ihre Hand, die langsam in ihren Schoß zurückfiel. »Du, Klemens, wenn ich in früheren Zeiten in schwerer Herzensnot dahinlebte, mit meinen Gedanken nicht ein noch aus wußte, dann nahm ich Gebetbuch und Rosenkranz, schürzte meinen Rock auf und pilgerte auf Kevelaer oder Marienbaum zu. Auch wohl nach Dornick jenseits des Rheines. Ich habe dortselbst 'ne Wachskerze geopfert, den Herrn angerufen und siehe: es hat immer geholfen, denn die Gnadenorte sind Seelenapotheken, woselbst die gütige Vorsehung ihre heilsamen Kräuter und Arzeneien mit vollen Händen verausgabt. Das ist es. Die Sterne ziehen herauf, um wieder unterzugehen. Sie tun immer dasselbe. Weshalb soll ich mich anders einrichten, nicht das aufs neue aufnehmen, was ich früher in meinen Herzensängsten besorgte? Aber meine Füße wollen nicht mehr, die vielen Menschen verstören mich, und da möchte ich bitten: Klemens, wenn du statt meiner hingehen wolltest, statt meiner den Rosenkranz beten und 'ne Wachskerze opfern würdest – es wäre für mich ein Hohes und Schönes in meinen jetzigen Umständen, denn die Fürbitte eines geistlichen Sohnes ...«

»Mutter ...!«

Er hob sie sacht in die Höhe.

Ihr Haupt ruhte still an seinem Herzen.

Das Rotkehlchen begann ein glitzerklares Fädchen zu spinnen. In dieses Spinnen hinein redete Klemens mit Worten, die an das Versöhnende eines dahingehenden Tages erinnerten: »Mutter, wie gerne. Ich begreife dich vollkommen. Hier im Hause ist manches in ein unvorhergesehenes Wanken geraten; aber so weit ich es übersehen kann: es wurde noch nicht alles aus seinen Angeln gehoben. Bei einigem guten Willen läßt sich das Schlimmste abstellen und wieder gutmachen. Ja, Mutter, du befindest dich in tiefster Sorge um Reiner und Jakobine. Die Tage bedrängen dich, und die Nächte bringen dir des Leides genug. Eine Wolke Wüstenstaubes wandelt gegen dich an, als müßtest du in ihrem Wehen ersticken und den Geist aufgeben. Der Herr wird und muß diese Wolke staubigen Wüstensandes hinwegnehmen. Er wird uns allen Stab und Stecken sein. Sein Licht wird unsere Pfade erhellen, und sei gewiß: er tut es, und die Fürbitte der allerseligen Jungfrau führt aufs neue die getrennten Herzen zusammen. Sie werden erlöst von den Übeln der Mißverständnisse und denen der Zweifel ... was wir ersehnen.«

Er glitt behutsam über das Haar seiner Mutter.

»Also geschehe es. Dein Wille ist mir heilig. Die Opferkerze wird in Bestellung gegeben, und wenn die Stunde ruft, bin ich auf dem Wege nach Dornick. Die Zeit wirst du mir überlassen. Ich wache. Die Mittlerin und Fürsprecherin allda wird die Bitte einer Mutter nicht von der Hand weisen, denn eine solche Bitte ist scharf wie das Schwert des heiligen Michael, leuchtend wie seine Lanzenspitze. Sie fürchtet den Tod nicht, überschreitet die Meere und öffnet die goldenen Riegel zum ewigen Jerusalem.«

»Klemens, du bist die Ruh',« sagte sie glücklich.

Getröstet nahm sie ihr Weißzeug auf, während Klemens ...

Bruder und Bruder standen sich alsbald gegenüber.

Erst Schweigen. Dann aus diesem Schweigen heraus: »Reiner, ich habe diese Stunde schon lange herbeigesehnt, im Namen des Friedens, im Namen der Ruhe unseres Hauses, im Namen unserer armen Mutter, und ich frage dich: Willst du ihr das Leid nicht aus dem Herzen nehmen?«

»Ich habe dir schon einmal gesagt...«

»Das hilft mir nicht. Ich darf nicht mehr warten. Allmählich kann man darüber das Lachen verlernen.«

»Das habe ich schon lange verlernt, denn wisse, Brüderlein, um mich liegt schon seit Wochen ein Land ohne Lachen. Die fruchtbare Erde, die ich aufraffe, wird mir zu Staub in den Händen, die saftigsten Äpfel, die ich breche, werden mir zu Sodomsäpfeln, die mir zwischen den Fingern zerfallen.«

»Diesen Staub und diese Sodomsäpfel hast du dir selber zu danken.«

»Ich?! Wie kommst du darauf?«

Reiner wich einen Schritt zurück. Er sah seinem Bruder starr in die Augen.

»Ich habe dich nicht gebeten, meine Angelegenheiten zu ordnen. Ich bin Mannes genug, sie selber zu begleichen und der Erledigung entgegen zu führen. Du solltest immer bedenken: ich bin der Ältere und habe deine Jugend behütet. Selbstverständlich steht es mir fern, mich dieserhalb hinaufzuschrauben, oder mich bedeutsamer hinzustellen, als es mir zusteht, aber meine Betreuung und meine Verdienste dir gegenüber ...«

»Werden auch vollauf bewertet. Daran fehlt kein Tiftelchen. Gott ist mein Zeuge, daß ich mich dir gegenüber dankbar erweise, mich um dich und dein Wohlergehen verzehre. In meinem Gebete zu Gott, in meinem Flehen zu ihm gedenke ich deiner tagtäglich in unverbrüchlicher Liebe und Herzenseinfalt. Was ich dir schulde, ist mir zwischen die Schläfen gehämmert, unauslöschlich und ewiglich, und trotzdem ...«

»Was, trotzdem?!«

Der junge Kaplan streckte die weiße Hand aus, und diese Hand, so zart und weiß sie erschien, nur dazu da, zu segnen, die Hostie zu konsekrieren, die Blätter des Gebetbuches lautlos auf die andere Seite zu legen – sie lastete eisern auf dem Arm seines Bruders.

»Reiner, siehst du denn nicht, fühlst du denn nicht, hörst du denn nicht? Glaube mir, Reiner, es werden in diesem Hause graue und unansehnliche Garne gehaspelt. Sie lassen das frohe Licht des Tages nicht mehr aufkommen. Etwas schleicht in diesen Räumen umher, das sich in irgendeine Ecke verkriechen möchte wie ein aufgescheuchtes Tier, das sich krank fühlt und sich danach sehnt, einsam zu sterben.«

Reiner stieß einen abgehackten Fluch aus.

»Verdammich! Wie kommst du mir vor?«

»Diese Frage möchte ich an dich richten. Du brauchst nur zu wollen, das Gleichgewicht unter diesen Sparren wieder herzustellen – und die Tage können wieder zu heiteren, die Nächte wieder zu geruhsamen werden. Dazu bist du heilig verpflichtet, der Mutter gegenüber und dir gegenüber.«

Und seine Stimme steigerte sich.

»Das Trostlose des Karfreitags muß aus diesen Wänden heraus. Wir wollen nicht mehr das stumpfe Brüten dieses Tages, nicht mehr das unwillige Sprechen vom Berge des Ärgernisses. Es ist satt und genug mit den verflossenen Wochen. Wir wollen uns der Veilchen und Himmelschlüsselchen erinnern und den Glauben nicht aufgeben, daß auch für uns wieder die Osterglocken zu singen anheben: Christ ist erstanden!«

In Reiners Augen erschien eine Flamme.

»Und das soll ich euch alles besorgen?«

»Ja – du.«

»Und wie denkst du dir das?«

Klemens gab den Arm seines Bruders frei. Dann sagte er ernst: »Nicht so, daß du mit erkünstelter Voreingenommenheit durch die pralle Sonne des Starrseins hindurch wandelst. In der prallen Sonne lassen sich keine Erwägungen fassen, keine vernünftigen und aufklärenden Gedanken großziehen. In deiner Verfassung sind dir die laulichen Schatten des Insichgehens vonnöten.«

»Unsinn! Rede mir nicht von laulichen Schatten.«

Reiner machte eine schroffe Bewegung.

Ein trockener Husten schüttelte ihn.

»In laulichen Schatten wird die Sünde geboren.«

»Mensch –du!«

Der junge Kleriker fuhr auf.

»Wie kommst du dazu, mir so zu begegnen? Ich will nur dein Bestes. Ich will dich lediglich vor deinem jetzigen Ich und seinem widersinnigen Grübeln befreien. Gehe in dich, wende dich wieder deinem früheren besseren Ich zu. In dir ist ein Feuer, das deine Augen versengt, dein Hören abtötet, deine Seele verzehrt. Folge mir, ich führe dich einen sicheren Pfad. Es geschieht dir und der Mutter zuliebe. Du solltest mir Dank wissen.«

»Ich – dir?«

Über Reiners Stirn zogen sich grobe Runen.

»Brüderlein, du denkst hoch von dir und stellst deine Leuchte nicht unter die Futterschwinge. Du erhebst deine Soutane über einen Königsmantel, deinen Priesterstecken über ein Fürstenszepter. So werdet ihr alle, wenn das Schermesser die Tonsur aus euerm Scheitel herauszirkelt. Aber ich bin nicht gesonnen, dich dieserhalb mit dem Weihrauchfaß zu benedizieren.«

Klemens verfärbte sich.

»Du solltest dich schämen,« sagte er tonlos. »Den Hohn, den du mir zudachtest, weise ich von mir. Um der christlichen Nächstenliebe halber – ich will nichts gehört haben. Ich verlange nichts Unbilliges, nur das, was uns wieder Ruhe verschafft, was die Mutter bedarf, um des sanften Hindämmerns ihres Lebensabends teilhaftig zu werden. Reiner ...« und es war so, als läge eine Beschwörung, ein Zauber in seinen hinreißenden Worten: »Reiner, prüfe dich selber. Lasse ab von deiner Voreingenommenheit. Eine Jakobine Hemskerk vergibt sich nicht, läßt ihr Magdtum nicht antasten, wirft sich keinem in die Arme hinein, um dafür ein Leben lang Reue und Leid zu erwecken. Nur ein unseliger Zufall...«

»Riswyk...!«

Reiner packte die Hand seines Bruders.

»Du – ich habe doch Lichter zwischen den Schläfen.«

Dem jungen Kleriker lief es kalt über den Rücken.

»War es ihre Schuld?« fragte er eisig. »Hat sie gefehlt? Weißt du das so sicher? Erbringe Beweise dafür, sonst ist es ein Arges, über ein bis zur Stunde unbescholtenes Weib den Stab zu brechen, ihm auch nur um ein geringes an der Ehre zu schädigen. Ich jedoch: vor Jakobine – ich stelle mich hin, denn ich weiß, was ich tue. Du aber, Riswyk und du – ihr beide habt gegen Gottes Satzung gefrevelt.«

»Was – du...?!«

»Reiner, was ich schweigend erduldete, lange mit mir herumtrug, immer des Glaubens, es würde sich als trügerisch ausweisen – es hat sich nicht als trügerisch erwiesen. Im Gegenteil, mit Fleisch und Bein, in seiner ganzen scheußlichen Nacktheit hat es sich über mich und meine Seele geworfen.«

Er wandte sich ab und befreite sich aus der Umschnürung.

»Gestern bin ich wissend geworden. Selbstverständlich: ich schonte die Mutter um ihrer Ruhe willen. Dich kann ich nicht schonen. Wir sprechen später darüber. Zunächst liegt mir Jakobine am Herzen, und ich gebiete dir nochmals...«

»Brüderlein,« und die Falten in Reiners Stirn gruben sich tiefer, »du hast wohl vor, mich kraft deines Amtes in die Knie zu zwingen?«

»Mein Gott, mein Gott! Wolle mich doch richtig verstehen. Ich will ja nur eins. Ich komme mit der nämlichen Bitte: Bringe uns den Frühling herein, nur ein Stück des blauen Himmels, auf daß wir jubeln mögen: Christ ist erstanden!«

Seine Stimme flehte.

Reiner trat dicht vor ihn hin.

»Und ich stelle dir nochmals die Frage: wie soll das geschehen?«

»Gehe hin und mache deinen Frieden mit ihr.«

»Wo sie es für nötig hält, sich mir gegenüber schweigend und tot zu verhalten?«

»Das gebietet das Weib in ihr, die Ehre in ihr.«

»Dann hätte wenigstens der Kapitän...«

»Reiner, es ist ihr Vater, und sein Stolz kann verlangen, dich in seinem Hause zu sehen. Ja, Reiner, etwas Richterliches ist über mich gekommen. Ich will ein Gottesordal und bin gesonnen, für sie meine Hand ins Feuer zu legen. Mache endlich Schluß mit diesem Leid, das uns alle zermartert. Das Unheil lauert auf dich, denn was auf Borghees passierte, kann nicht vor dem Auge Gottes bestehen.«

»Halt – du! Ich sehe, du wünschst eine Beichte. Hier ist sie. Aber diese Beichte hat dir wenig zu sagen. Lediglich das: Ich armer sündiger Mensch... und doch nicht sündig, denn was auf Borghees geschehen, das habe ich allein mit mir und meinem Gewissen abzumachen – auch Gott gegenüber.«

»Nein – du! Des Herrn Gebote, die Moral und die menschlichen Gesetze geben dir Unrecht.«

»Ich bin Manns genug, meine eigene Ansicht, meinen eigenen Willen und meinen eigenen Herrgott zu haben.«

»Du – siehe dich vor! Dein wahrer Herrgott steht hinter dir, er spricht aus der Wolke, denn er und die Kirche verwerfen das, was du mit dir, deinem Gewissen und deinem Herrgott abzumachen gedenkst. Seine Hand hebt sich wider dich auf, sein Antlitz funkelt dich an, und in diesem Antlitz steht dein Urteil geschrieben.«

»Nichts mehr! Bedenke, du bist hier in meiner Schreibstube und nicht auf der Kanzel.«

»O du, wolle mich hören!«

Klemens war bleich wie ein Hostientüchlein geworden.

»Nicht der Priester – der Bruder spricht zu dir, dein jüngerer Bruder, aber ein Bruder, der dich liebt, der dir alles verdankt, der dich führen möchte in das Tal des Friedens, der willens ist, dein zerstörtes Glück wieder aufzubauen und die Tränen deiner Mutter wegzunehmen. O du, wolle mich hören! Meine Seele ist betrübt bis in den Tod, meine Gedanken gehen in Unrast dahin. Borghees steht wider dich auf. Was dort geschah, ist Versündigung gegen dich selbst, ein Frevel gegen die gesellschaftliche Ordnung, ein brutaler Eingriff in das höchste Majestätsrecht des ewigen Gottes.«

Reiner machte eine herrische Bewegung.

»Das zu beurteilen, nehme ich für mich in Anspruch, für mich und meine Ehre, denn es gibt Fälle im Leben, die beanspruchen ihre eigene Satzung und ihre eigene Lösung.«

»Du irrst dich,« fiel ihm Klemens ins Wort, »der Herr verwirft jeglichen Zweikampf. Alles, was mit ihm zusammenhängt, weist er von sich. Er verflucht ihn in seinem gerechten Zorn, in seiner gerechten Erkenntnis. In diesem Falle: Gottes Gebote und der Menschen Gesetze gehen einig zusammen.«

»Das hab' ich erfahren,« lächelte Reiner, und seine Hand streckte sich gewalttätig aus, deutete auf den Arbeitstisch und legte sie breit und schwer auf den eingegangenen Schriftsatz.

»Das hier ... gestern empfangen ... nicht amtlich, aber es deckt sich mit deinen Anschauungen und denen des Staates. Aber das nicht allein: es will mir auch sonst an den Kragen.«

Klemens sah ihn fassungslos an.

»Warum das?«

»Abwarten, Brüderlein. Wenn du mir noch länger die Ehre deiner Gegenwart schenkst, wirst du kundig werden wie der König in der Heiligen Schrift, der die Sprüche Salomonis verfaßte.«

»Reiner ...!« und Klemens sah sprachlos den Bruder an.

Der stand wie eine Eiche im kalten Winterwald. Sein Herz ging ruhig, sein Gesicht gefiel sich in einer eisernen Strenge.

Seine Hand hob den Schriftsatz und zerknitterte ihn.

»Der Schreiber dieses,« sagte er mit verächtlichem Beigeschmack, »wird mich noch in dieser Stunde beehren, heißt das, wenn ein gütiges Geschick ihm wohl will, ihm einen sicheren Weg anweist und ihn bis zum Frieden des Försterhauses keine Panne erleben läßt. Geschähe es – es sollte mir um seine Sendung leid tun, denn ich warte schon lange darauf, endlich aus meinen Zweifeln und Zwiespältigkeiten herauszukommen.«

»Und das sagst du so ruhig?«

»Brüderlein, ganz ruhig, ohne mir darüber Gedanken zu machen.«

»Und bist also gefaßt darauf, deine jetzige Stelle ...«

»Ja, wenn sich die Dinge nicht in meinem Sinne entwickeln. Ich kann es nicht leugnen.«

»Mein Gott ...!« und Klemens sah trostlos ins Leere. Seine Stimme zerbrach in einzelne Stücke: »Reiner, nach all dem Erlebten – auch das soll noch über uns kommen, auch das noch?! Und das heißt brotlos werden.«

»Für mich – allerdings, aber nur dann, wäre ich bei den falschen Propheten und Deutern in die Lehre gegangen. Indessen, ich bin mein eigener Prophet und mein eigener Deuter, denn wisse: einen lustigen Finken hörte ich im Walde schlagen. Der erzählte mir vieles. Brüderlein, fürchte dich nicht. Bloß keine Sorge. Ich brauche nur die Finger zu strecken, und die Herren von Moyland und Sonsfeld ... Die Welt steht mir offen.«

»Ah – du.«

»Und das in gehobener Stellung. Ein Reiner Auwater fällt nur, um höher zu steigen.«

»Mein Gott und mein Heiland!«

Draußen zerriß der Ton einer herausfordernden Hupe das Schweigen, den tiefen Atem der Niederung.

»Brüderlein, hörst du?«

»Reiner, lasse es nicht zum äußersten kommen.«

»Klemens, ich diene. Das dürfte wohl alles umfassen.«

Eine zage Hand klopfte an.

»Herein!«

Ein Holzknecht, der zeitweilig auf dem Hof beschäftigt war, steckte den grauen Kopf durch den Türspalt.

»Herr Förster, jemand ist draußen, der will was von Ihnen.«

»Ich warte.«

»Mynheer, bitte angtree, der Herr Förster ist benne.«


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