Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Schluß

Der Winter kam und nahm wieder Abschied. Der Schwingpflug tat seine Arbeit auf den Äckern des Brinkschultenhofes. In langen, stattlichen Reihen legte er die Furchen nebeneinander. Er schaffte für zwei, und seine emsige Tätigkeit war ein Ereignis für die dortige Gegend.

Feine, grüne Speere drängten sich aus dem braunen Schoß der Mutter Erde.

Die erste Lerche stieg in den sonnigen Himmel.

Die Ranunkeln schlugen ihre gelben Augen auf und folgten dem kleinen Flieger, der wie ein Pünktchen über der Soester Börde schwebte.

Nicht lange – und das junge Korn nahm einen silbrigen Glanz an. Und wenn der Wind darauf stand, dann wellte es sich auf weichen Sammetpfötchen gegen den Horizont, der mit einem zartblauen Streifen die weite Ebene abgrenzte. Es war so, als hätte der liebe Gott ein schmales Kränzlein von blühendem Flachs zwischen Himmel und Erde geschoben.

Wer Augen zu sehen hatte, der sah, und er mußte sehen, daß alles gut und schön war wie am ersten Tage – und es wurde immer schöner und schöner.

Flammender Mohn bestickte die Ränder der Getreidefelder, und blitzende Nadeln standen zitternd über den schwarzen Tümpeln des Düstermoors, um mit einem jähen Ruck und reißenden Fluges weiter zu schießen. Die Libellen trieben ihre artigen Liebesspiele. Das sumpfige Wasser streckte seine breiten Schwerter auf, schmückte sich mit weißem Hahnenfuß und gelben Mummelblumen, die wie Sterne aussahen. Es lächelte. Aber sein Lächeln war wie das eines tückischen Menschen. Es hatte sein furchtbares Geheimnis.

Der alte Jaspers kam nicht wieder, und Karl Mersmann kam nicht wieder.

Niemand wußte, wo ihre Spuren zu finden waren.

Nur das Düstermoor wußte es, denn ihre Spuren waren keine irdischen mehr. –

Alles nahm seinen geregelten Gang und geschah nach Ordnung und Gesetz.

Bald nach dem Heimgang des schönen, stolzen Weibes hatte Eli den jungen Stier mit ihrem Schlüsselbund angeklingelt und dazu die Worte gesprochen:

»Heraus, herein und ein und aus! –
Der Tod ist jetzt aus diesem Haus;
Für Vieh und Mensch, für groß und klein
Wird Heinrich Tillbeck Herr hier sein.«

Da hatten die Grundpfosten des Hauses wie Halme gezittert, denn sein Gebrüll war wie Donner gewesen und war auf Sturmgefieder weitergezogen. Dann fügte er sich, wie der Wille eines verschüchterten Kindes.

Hierauf war sie zu den Bienenstöcken gegangen. Die Bienen hielten bereits Winterschlaf. Als aber das Klingeln ertönte und der Anruf an sie erging, wachten sie auf, rumorten im Stock und verließen die Fluglöcher, um kurz darauf wieder einzukehren und in ihre alte, beschauliche Ruhe zu fallen.

Juffer Eli hatte ihres Amtes gewaltet, und auf dem Brinkschultenhof saß Heinrich Tillbeck als Schulte.

Ja – als Schulte saß er da, als gebietender Schulte, aber auch als ein Mann der Verzweiflung und des grimmigen Leides, der allabends sein Herz mit beiden Händen umschnürte, um es nicht von dem fürchterlichen Weh zerbrechen zu lassen.

Die Nachbarn ehrten ihn, sein Gesinde sah ihm jedes Wort von den Lippen ab, seine Freunde bemühten sich, ihn zu erheitern, und brachten es fertig, dann und wann ein Lächeln bei ihm zu wecken; aber ihm den Schnee vom Scheitel zu nehmen, der an jenem entsetzlichen Tage darauf gefallen war, das vermochten auch sie nicht.

Der Pastor in Sönnern, ein frommer, beschaulicher Mann und ein Mann, von dem man sagen konnte: »Er sieht weder rechts noch links; sein Weg ist Gott und den Menschen wohlgefällig, und seine Taten werden dereinst mal gewertet im Himmel«, sprach des öftern große, stille, versöhnliche Worte zu ihm. Sie trösteten ihn, sie gaben ihm Halt und Stütze, sie waren freundliche Kostgänger bei ihm und liebe Berater, aber auch sie waren nur lindernde Mittel, kein unfehlbares Heil, keine Erlösung.

Tagtäglich ging Heinrich Tillbeck mit seinem Weib, mit dem lieben Geist seines Weibes, durch die abendlichen Felder. Sie gingen Hand in Hand und Schulter an Schulter gelehnt. Und das Korn rauschte herauf und sprach zu ihnen wie in den kurzen Tagen des Glückes. Und sie gingen bis zu dem nahen Vorwerk, das Dörte mit der guten Marieke Maraunke bewohnte. Hier konnten Feierstunden über ihn kommen. Der Duft der geliebten Frau war bei ihm, ihre Worte sprachen zu ihm mit heiligen Zungen, ihre linde, weiche Hand glitt ihm sanft über die Stirne und ihre Lippen fanden sich in verzehrender Inbrunst. Er war eben gezwungen, eine Tote zu lieben.

Dann verloren die Tage an Langlebigkeit, und die Sterne standen heller am Himmel.

Bis spät in den Abend hinein hörte man das Dengeln der Sensen und das Schwirren ihrer tödlichen Stimmen.

Es war die Zeit, wo der Tag sich erneute, an dem Heinrich Tillbeck die Scholle auf der Asbecker Scheid umgelegt hatte. –

Am Nachmittage dieses Tages saß er in der Schlafkammer, wo die Krone der Sattelmeier von der Konsole herab grüßte. Er stützte den Kopf und hielt ein beschriebenes Stück Papier zwischen den Fingern.

Er hatte es nur einmal gelesen, dann nicht mehr.

Heute las er es wieder. Er war es der Verstorbenen schuldig.

Seine Schläfen hämmerten, und seine Seele hielt den Atem an, um jedes Wort in seiner ergreifenden Schlichtheit und Tiefe umschließen zu können.

Ihre gütige Hand war bei ihm, ruhte auf seiner Stirn, ihr Herz schlug an dem seinen, ihre Gedanken flossen mit seinen zusammen.

Und eine große, unendliche Andacht erfüllte den Raum, eine Andacht, wie sie die Kirche erfüllt bei einem Totenamt.

»Hier ist der Brinkschultenhof, mein angestammtes Erbe und Eigen,« also las er aus der beglaubigten Abschrift des Testamentes, das sie vor Jahr und Tag niedergelegt hatte. »Dieses Erbe und Eigen ist mir heilig. Kein Höriger saß darauf. Nur erbfreie Männer, geradnackig, blondhaarig und mit stahlgrauen Augen, bebauten die braune Scholle; nur solche schritten hinter der Sense; nur solche befruchteten die Erde. Sie waren eins mit ihr. Sie liebten sie, wie Mann und Weib sich lieben, wenn sie in der Vollkraft des Lebens stehen. Wenn sie durstig war, dursteten auch sie, wenn sie einfror, froren auch sie ein, wenn sie unter ihrem eigenen Segen erschauerte, erschauerten auch sie. Es war eine stete Sorge in ihnen um dieses Stück Erde. Nur widerwillig und störrisch rissen sie sich von ihr los, und wenn sie sterben mußten, war es ein hartes Sterben. Aber nie vergaßen sie, ihre geliebten Äcker zu sichern. Etwas von diesem Geist ist auch auf mich übergegangen. Ich bin nur ein Weib; aber die Schwachheit des Weibes liegt mir fern – und daher: auch ich will mein überkommenes Erbe gesichert wissen. Der Tod ist mir näher, als viele wohl denken. Nur ein Starker sei Folger in meinem Amt. Ich ehre, was stark ist, denn was hilft mir und meinem Eigen ein Mann, dessen Kopf nicht wach ist und dessen Hand sich nicht zur Faust zu ballen vermag? Ich will keinen Schwächling. Ich will keine Drohne. Aber ich weiß einen Starken im Lande, und dieser Starke im Lande ist meine Hoffnung und Freude. Ich sagte schon: Der Tod ist mir näher, als viele wohl denken. Ich höre seinen Schritt. Ich vernehme seine krachneuen Schuhe. Das gibt zu denken. Und dieser Starke im Lande . . .! – Ich weiß, ich kann meine heiße Liebe und Leidenschaft zu ihm nicht auskosten. Aber dem sei, wie ihm wolle . . . Das Sterben kommt eher als ein glückliches Leben. Und dennoch ist seine Liebe bei mir. Sie ist mächtig wie der Tod. Ich weiß: er wird mein Andenken segnen und mein Erbe zu sichern wissen. Sattelmeierblut und Brinkschultenblut wird in ihn übergehen. Er wird ein Sachwalter sein, wie das Land ihn braucht. Der Herr wird ihn führen und seine Arbeit benedeien. Und darum setze ich Heinrich Tillbeck von der Paderborner Senne, wo die blauen Husaren reiten und Fanfare blasen . . .« Er las nicht weiter. Er hielt das Blatt zwischen den Händen, als würde jeder einzelne Buchstabe lebendig. Da überkam ihn die Zeit seiner Jugend und die Zeit, wo das schöne, stolze Weib an seiner Brust geruht – und eine Empörung war in ihm wie im Angesicht des letzten Kampfes . . .

»Josepha . . .! – Josepha . . .!« stöhnte er auf und warf die Arme über den Tisch und bettete die Stirn darauf und weinte bitterlich.

So saß er lange.

Da trat einer zu ihm.

Lautlos war er gekommen.

Der legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Sei doch nicht so ganz auseinander,« sagte er in selbstquälerischer Fassung. Es lag Schmerz und Ruhe darin. »Das bringt ja Haus und Hof zuschanden. So geht das nicht weiter, denn es ist nicht im Sinne der Verstorbenen.«

Da erhob sich Heinrich Tillbeck und sah mit wehen Blicken den Sprechenden an.

Jans Stedink war bei ihm.

»Ihr . . .?!«

»Ja, ich,« sagte Jans Stedink und schob seinen Arm in den seines jungen Freundes. »Nu komm man. Heute jährt sich der Tag, wo der schottische Schwingpflug seine erste Arbeit auf der Asbecker Scheid tat. Da kannst du nicht zwischen den vier Pfählen bleiben. Da mußt du hinaus. Das würde ihr weh tun, wenn du nicht hingingst.«

Willenlos folgte er. Und da schritten die beiden Männer ihres Weges und sahen, daß bereits das Abendrot in den Birken und Erlen des Düstermoors wohnte. Sie gingen stumm nebeneinander.

Der alte Brügelmann stand einsam auf einer sanftgedachten Terrainwelle. Gerade wie damals. Im Leinenkittel und Strohhut und mit verwaschenen Augen sah er über die Gegend.

Die beiden grüßten ihn und gingen vorüber.

Brügelmann sah ihnen nach, und sein Nacken straffte sich zusehends.

»Da geht die Zukunft hin,« sagte er zuversichtlich, und wie ein alter Recke der Vorzeit wuchs er in den Abendhimmel hinein.

Einen Büchsenschuß weiter suchte Heinrich Tillbeck mit bangem Herzen die Stelle, wo er den Schwingpflug geführt hatte.

»Hier!« sagte er mit gekniffenen Lippen. »Ich will versuchen, mich aufrecht zu halten.«

»Versuchen . . .?!« kam es zäh aus dem Munde des Alten. »Du – und du willst nur versuchen?«

Er packte die Hand des Insichgekehrten und preßte sie krampfhaft.

»Du mußt,« sagte er rauh und gab wieder die Hand frei.

Dann fuhr er langsam durch seinen Bart und teilte ihn in zwei mächtige Hälften. Das Abendlicht stand darauf, als wären die lohen Funken eines Schmiedefeuers lebendig geworden.

»Tillbeck, du hast eine Mission zu erfüllen. Das sage ich dir jetzt, in dieser Stunde. Um dessentwegen bin ich gekommen und um dessentwegen stehn wir hier. Es muß endlich Klarheit sein – um deinetwegen muß es so sein, damit du dich wieder herausmusterst wie in früheren Tagen.«

»Was versteht Ihr darunter?«

»Ich wollte nur sagen: ich bin ein einfacher Mann, und meine Gedanken sind einfach; sie sind aber auf dem richtigen Weg und haben 'ne richtige Beaugenscheinigung vor sich. Eine große Zeit liegt hinter uns. Wir haben sie mit Blut und Eisen und mit Tränen erkauft, aber wir haben sie doch. Um dessentwegen können wir sagen: Deutschland ist unser. Und dennoch ist Sorge in mir. Wir Alten welken ab. Die Reihe kommt an Leute, wie du bist. Ihr habt Farbe zu bekennen. Das seid ihr der Menschheit schuldig. Da gibt es kein Kopfhängenlassen und Nachsimulieren. Da habt ihr die Hand an den Pflug zu legen und das Sämannstuch um die Schulter zu knüpfen. Ihr habt für Deutschland zu pflügen und für Deutschland zu säen. Nicht für eure Tasche allein. Freiwillige, opferfreudige Tat kann nur helfen. Der Geist des alten Jaspers ist noch immer im Land. – Vor Jahr und Tag bliesen sie in Dortmund die schwarzen Federbüsche von den Schornsteinen herunter. Dann wurde wieder ›Glück auf‹ geschrien, und die Federbüsche wurden aufs neue an Ort und Stelle gebracht. Das sollte für immer so sein. So dachten die Menschen. Jawoll! – Prosit die Mahlzeit und daneben geschrien. Wo sind die Federbüsche des Fleißes geblieben? Ausgepustet. Wo ist das ›Glück auf‹ hingebracht worden? Weggesäbelt, mit Fäusten zurückgestoßen, und die Schornsteine stehen ohne Luft und Leben.«

»Aber, Stedink . . .

»So ist es – seit gestern ist es so. Denk daran, was ich damals gesagt hab'. So geht das nicht weiter. Jedem sein Recht, und jedem sein Brot. So will es der Herrgott im Himmel. Ordnung muß sein. Aber was die da in Dortmund betreiben, ist Unordnung. Das will der Herrgott im Himmel nicht. Dann geht alles seinen verkehrten Gang. Dann bleibt Deutschland nicht unser. Der Riese der Arbeit ist eingeschlafen. Böses steht auf. Das dringt vor mit Tausenden Gelenken, mit Millionen Gelenken. Das fällt wie Geifer über den Acker her; das vergiftet ihn und macht alte, gute Sitte zunichte. Und der Tag muß dann kommen, wo wir mit der Stirn gegen die Wand klopfen und sagen: Nun ist Deutschland auseinandergerissen. Tillbeck« – und Jans Stedink war mit Feuersglut übergossen, wie der Alte vom Berge – »Tillbeck, du bist einer von denen, die dagegen ein Bollwerk aufrichten können, aufrichten müssen. Tillbeck, lege die Hand an den Pflug und tu das Sämannstuch um, von jetzt an bis zu dem Tage, wo das Alter dich tiefer beugt. Aber tu es freudigen Herzens, sonst ist es kein richtiges Schaffen und Wirken. Ehre die Erde, halte sie rein von denen, die falsche Lehren verkünden und brechen und stürzen wollen. So wird ein Damm gesetzt und eine starke Festung gegen den Umsturz geschaffen. Hammer und Amboß, Handel und Wandel bringen Ehre und Gewinn. Pflug und Scholle erhalten. Und das steht höher als alles. Um dessentwegen siehe gradeaus und tue, was recht ist. Das hat auch sie von dir gewollt. Das will das Vaterland von dir. So lebst du im Sinne der Toten, so stirbst du in ihrem Andenken. Amen.«

Jans Stedink zog die Mütze herunter.

Auch Heinrich Tillbeck tat es.

Ein Schauer ging über das Feld, und der Geist der Brinkschulte war bei ihnen.

Das Abendrot hatte sich verblutet. Dämmerungen gingen über die Soester Börde, und trotzdem war die Luft wie Kristall.

Das Leben des Tages ebbte zurück. Der Abend wurde still und feierlich, und dennoch war der Abend voller Musik.

Eine mächtige Faust hatte in das Herz Tillbecks gegriffen, hatte zugepackt und gerüttelt; aber das gerüttelte Herz war voller Freude geworden.

Leer und einsam ruhte das weite Land.

Nur hinten auf dem Hügel, mehr dem Brinkschultenhof zu, stand der alte Brügelmann noch immer, eine dunkle Gestalt, die sich machtvoll gegen den Abendhimmel abhob.

Er hatte kein Auge von den beiden Menschen gelassen. Keins von Heinrich Tillbeck und keins von Jans Stedink.

»Die haben was Großes gesprochen,« sagte er vor sich hin, ernst und mit heiliger Inbrunst. »Mir ist nicht bange mehr um Hof und Acker, um Leben und Sterben. Es geht alles seinen Gang, der zur Erlösung und zur ewigen Anschauung führt.«

Und hätte er zuhören können . . .

Heinrich Tillbeck war ein anderer geworden.

»Es soll geschehn in Eurem Sinne, Stedink,« sagte er fest und bestimmt, »so wahr mir Gott helfe und so wahr ich hoffe, dereinst mit ihr vereinigt zu werden. So wird meine Trauer eine abgeklärte Entsagung und bleibt eine große, unvergängliche Liebe.«

»In ihrem Andenken,« versetzte Jans Stedink.

Da griff Tillbeck neben sich und faßte die Hand seines verstorbenen Weibes: »Ja, in ihrem Andenken.«

»Auf daß es dir wohl ergehe auf Erden.«

»Auf daß es mir wohl ergehe auf Erden.«

Das Land dunkelte ein.

Über dem Brinkschultenhof aber stand der Abendstern und brachte einen Gruß von ihr – von ihr aus dem Himmel.

 

Ende

 


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