Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Zweites Kapitel

Ticktack, ticktack!« machte der große Perpendikel auf der Diele im Brinkschultenhof, »ticktack, ticktack!«

So war er schon an zweihundert Jahre hindurch gegangen – derselbe Perpendikel, in demselben verräucherten Uhrgehäuse, auf der nämlichen Diele und unter demselben Strohdach, das wie ein schweres Augenlid über die weißgekälkten Mauern vorragte. Der Perpendikel hatte sich ehrlich geplagt. Feierabende kannte er nicht. Immer dasselbe: »Ticktack, ticktack!« – und hier, wo er auf- und niederging, hatten seit Menschengedenken immer freie und selbstherrliche Leute gesessen. Früher war es anders auf der Soester Börde. Da profitierten nicht viele von dieser Selbstherrlichkeit. Ungezählte Jahrzehnte hindurch waren die Bauern durchweg in einen Zustand der Halbfreien und der Überbürdung mit Steuern und Hofeslasten versunken gewesen. Bei der Schwäche der Territorialherren ihren eingesessenen Ritterschaften und Prälaten gegenüber lagen die rechtlichen Verhältnisse sehr im argen. Die Bauern verkümmerten an Leib und Seele. Mehr oder weniger zählten sie zu den eigenbehörigen, den meierstättischen oder den zinspflichtigen Leuten. Niedergedrückt und mit Schulden belastet, schienen sie nur dazu verdammt, andermanns Scholle zu brechen und mit gekrümmtem Rücken andermanns Scheuern zu bestellen, um schließlich als unfreie Männer in die schwarzen Bretter zu kommen. Nirgends ein erlösender Auftakt! Zwischen Michaelis- und Martinitag war das Zinskorn in marktgängiger Ware, frei von Kaff, Drespe und Rade, auf den Gutshof zu bringen. Die Schweine wurden gezeichnet und wanderten in den Stall des adeligen Bedrückers. Um Martini waren zwei Gänse und auf Fastnacht fünf Rauchhühner in die Küche des Herrn zu liefern. Dazu lastete auf dem Hof ein wöchentlicher Spanndienst. Weib und Kinder hatten nach der Pfeife des Patrons zu tanzen und fanden erst Ruhe, wenn die Leichenfrau vorsprach, um ihnen das letzte Hemd über die Ohren zu ziehen. Das war noch das beste an dem ganzen Luderleben gewesen, denn auf diese Weise hatten sie sich wenigstens den Himmel oder das Fegefeuer erhungert. Mit dem Jahre 1825 ging's besser. Aber auch da und bis in die neuere Zeit hinein gab es an manchen Feuerstellen noch viel zu bemängeln und viel zu beklagen. Alte brutale Herrenhand greift bis ins dritte und vierte Glied hinein, selbst dann noch, wenn sie lange schon tot ist. Die auf dem Brinkschultenhof hatten jedoch von solchen Herrenfäusten nie etwas zu erdulden gehabt, und als es einmal geschah, als im Jahre 1748 der Edle von Plettenberg den damaligen Schulten um Martinsgänse und Zinshafer anging, fand er sich eine halbe Stunde später in der Mergelgrube wieder, und das von Rechts wegen; denn schon bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein zählten die Brinkschultenleute zu den Vollfreien im Lande, waren in ihren Dispositionen über ihr volles Eigentum weder unter Lebenden noch von Todes wegen beschränkt, hatten sich nicht an Zins und Gedinge zu kehren und fühlten sich, als wenn sie es mit den Vornehmen und Edelleuten in der Nachbarschaft aufnehmen konnten. Das war altes Recht und verbriefte Sitte und galt bis zum heutigen Tage. Auf dem Hofe ruhte das Anerbenrecht. Vor zielloser Zersplitterung waren seine Wiesen und Weiden geschützt. Seine Äcker und Liegenschaften verfielen nicht der Meßrute des Geometers. ›Frei Gut kommt nicht an die dritte Brut,‹ dieser Wahlspruch wurde nirgends strenger gehandhabt, und der verbriefte Grundsatz, immer nur einen, und zwar den ältesten, zum Stättenerwerb zuzulassen, die übrigen Miterben aber durch Aussteuern oder Brautschätze abzufinden, wurzelte in dem jeweiligen Besitzer so grundtief und unverrückbar, wie die ehrwürdigen Eichen, die man kaum noch auf ihr Alter ansprechen konnte. Nach Gesetz und Pflicht wurde auch demnach verfahren, und so war es gehalten worden von Anbeginn an, wo ein Vollfreier diesen Grund und Boden betreten und seine Sparren errichtet hatte. Auch hatte keiner von ihnen im Glauben gewankt. Die Mehrzahl der Hellwegleute waren zum Bekenntnis Luthers übergetreten. Fast alle benachbarten Ortschaften bekannten sich dazu. Nur vereinzelte Katholiken waren eingesprengt. Zu ihnen gehörten die vom Brinkschultenhofe. Mit zäher Eigenart hielten sie auch hieran fest.

Des zum Zeichen stand auf der breitangelegten Eingangspforte geschrieben:

»Wenn Geld und Gut und Haus vergehn,
Was christkatholisch, bleibt bestehn,
In Christi Namen! – Amen.«

Durch sie trat man in die mächtige Diele ein, flankiert von Kuh- und Pferdeställen, und sah von hier aus durch die schummerige Dämmerhelle das Herdfeuer aufleuchten, woselbst sich das Haus nach beiden Seiten hin zu einem Querschiff erweiterte. Von hier leitete die Brinkschulte ihre weitverzweigte Wirtschaft, kontrollierte die Aus- und Eingehenden und beobachtete die Mägde, wenn sie müde und abgearbeitet ihre Kammern im Obergeschoß aufsuchten. Um diesen weißgekälkten Raum, von dem die Balkendecke düster und schwerfällig herabhing, gruppierten sich die anderen Gemächer des Hauses: die Schlafkammer der Herrin, die Spinn- und Wohnstube und das geräumige Zimmer, das nur geöffnet wurde, wenn vornehmer Besuch kam oder sich die höchsten Feiertage des Jahres einstellten. Neben dem Feuer streckte sich der blanke, weißgescheuerte Tisch, an welchem Knechte und Mägde ihre gemeinsamen Mahlzeiten einnahmen und Wort an Wort reihten, langsam und bedächtig, wie der Eimer, der aus dem tiefen Brunnen stieg und das Wasser herausholte. Diese Halle hatte etwas Kirchliches an sich. In ihr ruhte der Herd wie ein niedriger Altar, auf dem die Opferflamme nicht zum Verlöschen kam. In der vorgelagerten Diele gähnte die Bodenluke herab. Unter ihr war geheiligte Erde. Hier wurden nach altem Brauch die Toten aufgebahrt, die Verlobungsringe gewechselt, Knechte und Mägde verpflichtet und die Eide abgenommen. Genau unter dieser gähnenden Luke war auch der alte Brinkschulte zusammengebrochen, als er hörte: Dein Bruder hat den roten Hahn auf die volle Weizenscheuer gesetzt! – sein Bruder, der bucklige Mensch, der Advokatenschreiber, sein eigen Fleisch und Blut, der hundsmiserable Kerl, der ihm schon so oft seine besten Trümpfe konterkariert und ihm durch seine verfluchte Mitwissenschaft die Seele zusammengeknebelt hatte. – Noch sah er seine Scheune sich totenstill gegen den Abendhimmel abheben, als auch schon ein gieriger Feuerstrom über sie fortglitt und die Ausbeute von zweihundertfünfzig Morgen Ackerland zu verschlingen drohte. Da drehte sich der erbfreie und bodenständige Mann um sich selbst. Mit einem dumpfen Schrei, der schwer wie ein Stein von seinen Lippen fiel, knickte er in sich zusammen, röchelnd, ein gefällter Stier, als hätte ihm eine Sense die harten Fesseln durchschnitten. Drei Tage später streckte er sich mit spitzer Nase und glattrasiertem Gesicht auf geweihter Erde unter der Bodenluke, genau auf der Stelle, wo das Malör ihn niederwarf und ein Abschein des unheiligen Feuers in die schon halbgebrochenen Augen hineinspielte. Auf zwei Flachsbrechen ruhte der pompöse Sarg. Juffer Eli, die Ankleidefrau, hatte alles aufs beste hergerichtet. Auf dem Deckel brannten drei Kerzen. Die über dem Herde niederhängende Lampe leuchtete herüber. Das Leichenhemd war mit Fäden ohne Knoten zusammengeschneidert. Buchsbaumpartikel und Rosenblätter lagen auf dem Boden. Den Bienen war der Tod angesagt worden. Dreimal hatte Juffer Eli mit hartem Knöchel gegen die Strohkörbe geklopft: »Wacht auf, euer Herr ist gestorben!« – und da waren sie aufgestöbert, als sollte die Schwarmzeit schon losgehn, so ein Toben und Lärmen war zwischen den Stöcken und Gemüserabatten. Nein, Juffer Eli hatte gar nichts vergessen. Sie wußte genau, was dem vollfreien Manne gebührte, der nun von seinem Erbe mußte, um seinem Erlöser und Herrgott näher zu kommen. Steif wie ein Uhrkasten, im schwarzen Wollkleid und mit straffgescheiteltem Haar, das sich wie strähniges Werg ausnahm, stand sie unentwegt neben dem Toten und wartete auf das Sterbeläuten von dem benachbarten Sönnern. Jeden Augenblick mußte es herübertönen. Mit gefalteten Händen und runden Augen, deren Blicke an das sanfte Gleiten von Fledermäusen erinnerten, sah sie über die schwarzen Bretter fort, als die Brinkschulte erschien, die einzige Tochter, wie überhaupt das einzige Kind des Verstorbenen, und dicht an ihre Seite trat. Kein schmerzentstelltes Gesicht! – alles abgeklärte Ruhe und selbstverständliche Hinnahme. Sie begegnete dem Tod, wie sie ihrem großen Erbe begegnete. Josepha Brinkschulte kannte keine schwächlichen Anwandlungen. Tod und Leben waren ihr gleichwertige Dinge. Blond wie Weizenähren, in der Vollkraft ihres Daseins, das bereits die Mitte der Zwanziger hinter sich hatte, pflanzte sie sich neben den Flachsbrechen auf, um dem Begräbnis beizuwohnen. Eigentlich schön war diese Josepha Brinkschulte nicht, dazu waren ihre Züge zu bedeutsam, zu scharf in der Linienführung und wie aus Bronze herausgearbeitet. Obgleich unverheiratet, haftete ihr etwas Frauenhaftes an. Als hätte stets eine heiße Sommersonne auf ihrem Scheitel gelegen, so bräunlich lief es ihr über Nacken und Arme. Eine verhaltene Glut lebte in diesem heißen, verlangenden Körper, der etwas an sich hatte, was die Künstler nötig haben, um ein heroisches Weib aus dem Stein hervorzuholen. Die Anerbin des Brinkschultenhofes war zum Herrschen geboren. Das hatte sie von ihrer verstorbenen Mutter aus Engern, einer hagenfreien Sattelmeierin, die ihr Geschlecht bis in die Zeiten des großen Wittekind zurückführte und mit Rücksicht darauf auch unter ganz besonderen Feierlichkeiten bestattet wurde. Schon Monate vorher hatte sich diese eigenartige Frau auf ihr Sterben gefreut, als ginge es zum Taufschmaus oder zu einer Hochzeiterei, denn als Sattelmeierin begraben zu werden, galt ihr mehr, als sich noch im Besitz aller irdischen Güter zu wissen. Der Tod kam ihr als Befreier und Erlöser. Sie folgte ihm, als ginge es über blumige Wiesen. Ein Abglanz von ihr war auch auf die einzige Tochter übergegangen.

Josepha Brinkschulte atmete tief auf. Mit kräftigen Armen rückte sie ihr schweres Haar zurecht. Seltsam leuchtete es durch die weite Dämmerhelle.

Die Luft war dick und warm und von den Ausdünstungen des Viehs durchsetzt.

Von Sönnern her tönte das erste Sterbeläuten. Dann verstummte es wieder.

Die Brinkschulte stand unbeweglich.

Als die Nachbarsleute kamen, wurde der Deckel noch einmal vom Gesicht des Toten gezogen. Alle traten näher und besahen sich die energischen Züge des Entschlafenen. Trotz der starren Glieder und der wächsernen Hände, trotz der Unbeweglichkeit des Kopfes und der bleiernen Augen, die toten Lippen schienen zu sprechen: »Brand und die jämmerliche Not wegen meines Bruders warfen mich in die Stoppeln; aber macht euch keine Sorge, ihr Bauern. Ich weiß mein Erbe gesichert, und zwar besser gesichert, als wenn zehn Mannskerle den Pflug regierten und die Scholle brächen.«

Des freuten sich die harten Bauerngesichter und ließen von dem Toten ab, um den Schreiner zu seinem Recht kommen zu lassen. Mit Hilfe des Leichenbitters brachte er den Deckel wieder an Ort. Dann fielen dumpfe Hammerschläge. Keine Schrauben wurden verwendet. Die Brinkschultenleute wollten von Neuerungen nichts wissen. Fünfzöllige Nägel taten es auch – dreißig fünfzöllige Nägel auf Reihe. Beim letzten bekreuzte sich der Dorfschreiner und sagte: »Amen.«

Niemand weinte, niemand klagte dabei. Stumm wie die Fische standen die von der Soester Börde nebeneinander. Das war auch der früheren Lebensweise und dem Sinne des Verstorbenen gemäß.

Zum andern setzte die Glocke ein. Mit ihrem Geläute kam der junge Kaplan von Sönnern, ein Schwärmerkopf mit versonnenen Augen, eine Lilie in einen Bauerngarten verpflanzt. Küster und Meßjungen folgten.

Der junge Kaplan sprach das ›De profundis‹. Es verklang, ohne gehört zu werden. Nichts regte und rührte sich auf der schummerigen Diele. Nur die alte Kastenuhr tickte und tackte. Als aber der Sarg von den Knechten hinausgetragen und auf den vierspännigen Leiterwagen geschoben wurde, drängten die Kühe näher zusammen, und die Pferde zerrten ängstlich an ihren Halfterketten. Der Deckstier aber trat mit angeschwollenem Halse zurück, witterte mit vorgestreckten Nüstern und stieß ein Gebrüll aus, vor dem der Erdboden erzitterte und die Stallpfosten ins Wanken gerieten. Unter dem Geklirr der Halfterketten und dem Gebrüll des Stieres mußte Heinrich Christian Brinkschulte von dem Erbe seiner Väter herunter.

Mit ihm wurde ein Mann zu Grabe getragen, von dem man sagen konnte: Er lebte, um zu schaffen, er schaffte, um zu sterben, aber sein Leben und Schaffen war wie eine dreizinkige Forke, zugreifend, arbeitsam und unerbittlich wie eine dreizinkige Forke. Er sah weder rechts noch links. Sein Weg ging geradeaus und wenn es nötig war, über seine eigene Sippe. Er hatte keine Liebe gesät, aber auch keine Liebe geerntet. Kein unrechtes Gut klebte an seinen Fingern, aber auch kein freudiges Gut. Nicht die Wohltat des Genießens war bei ihm. Die rauhe Feldluft hatte ihm Herz und Nieren getrocknet. Sein Sinnen und Denken war eisgrau geblieben, eisgrau wie die strähnigen Haare, die seinen vierkantigen Schädel bedeckten. Aber in diesem Schädel hatte ein energischer Geist gelebt, energisch bis zur Brutalität, bis zur Anmaßung, und diese Anmaßung war ihm zugute gekommen und hatte sein Ansehn gestärkt, nicht nur bei den erbfreien Bauern, sondern auch bei den Erbsälzern, die sich glücklich schätzten, einen solch stiernackigen Mann in ihrer Gesellschaft zu wissen. Sein Tod ging keinem ans Herz. Eher hätte man über einen Ziegel getrauert, der in einen Brunnen gefallen; aber sie hatten Achtung vor ihm, sie bewunderten ihn, und mit dieser Bewunderung unter den steifen Sonntagsröcken folgten sie dem verhangenen Sarg, der langsam und von monotonen Sterbegebeten begleitet durch die abgeernteten Felder gespensterte.

Alle begleiteten ihn. Der Brinkschultenhof lag wie ausgestorben. Nur Juffer Eli und eine Stallmagd blieben zurück. Juffer Eli hatte noch manches zu ordnen. Dem Mädchen gab sie Befehl, die Flachsbrechen an Ort und Stelle zu bringen, die Raufen zu füllen und die Diele von den verstreuten Buchsbaumpartikelchen und den welken Rosenblättern zu säubern. Sie selber löschte die Kerzen und machte sich im Schlafzimmer der Herrin zu schaffen.

Viertelstunde um Viertelstunde verging. Die Sonne war merklich tiefer gesunken. Als das Leichengefolge den Hof verließ, hatte die Kastenuhr die vierte Nachmittagsstunde verkündet. Jetzt schlug sie fünf Uhr. Und wieder brüllte der junge Stier auf und blähte die Nüstern. Seine Haut fältelte sich. Das Auge rollte, und mit hartem Stöhnen stampfte er die warme Streu hinter sich auf.

Da erschien Juffer Eli.

»Um Gott nicht!« sagte sie hastig, »das hätte ich bald vergessen,« und klingelte mit einem Schlüsselbund das aufgeregte Tier an. Dann summelte sie vor sich hin:

»Heraus, herein und ein und aus! –
Der Tod ist jetzt aus diesem Haus;
Für Vieh und Mensch, für groß und klein
Josepha wird die Herrin sein.«

Da duckte sich der Stier, drehte sich der Raufe zu und begann ruhig zu fressen. Ebenso machte sie es mit dem Lieblingspferd des Verstorbenen. Hierauf begab sich Juffer Eli ins Freie. Man hörte nicht ihr Gehen. Seit der Stunde, wo sie eine verwitwete Braut war und ihr Geliebter Blasius Küttelwesch, der als Küster im nahen Werl amtiert hatte, mit Tod abgegangen war, liebte sie es, die Angewohnheiten ihres seligen Blasius weiter leben zu lassen. Blasius war während seiner Amtstätigkeit ein geräuschloser Mann gewesen, und so ging denn auch Juffer Eli wie auf Gummischuhen. Im Schatten der hundertjährigen Eichen gewann sie alsbald den Haus- und Gemüsegarten, der mit seinen letzten Rabatten an die vorgelagerten Kleeäcker anstieß. Hier standen dreißig Bienenstöcke auf Reihe, sauber und blank gehalten und von fetten Sonnenblumen umgeben, die ihre strotzenden Blütenköpfe dem werdenden Abend zukehrten. Die Völker befanden sich noch immer in wilder Erregung. Sie flogen ab und zu, kreisten um Körbe und Fluglöcher oder häkelten sich in starren Klumpen um die Stämme der Obstbäume.

Juffer Eli trat auf lautlosen Schuhen näher, klingelte die Bienenkörbe an und sprach dann wie eben:

»Heraus, herein und ein und aus! –
Der Tod ist jetzt aus diesem Haus;
Für Vieh und Mensch, für groß und klein
Josepha wird die Herrin sein.«

Und wie vorauszusehen, ließ die Ruhe nicht mehr lange auf sich warten. Das wütige Schwirren und Surren verlor sich. Die angehefteten Klumpen lösten sich auf. Die Trachtbienen gingen ihrer alten Beschäftigung nach, während die andern aufs neue ihre gewohnten Stöcke bezogen. Die Völker hatten ihren Frieden wieder gefunden.

Juffer Eli trat ihren weiteren Rundgang an, um auch den übrigen Tieren des Hofes die neue Herrin anzusagen. Als sie bald darauf an der niedergebrannten Weizenscheuer vorbeikam und in die Höhe der Schweineställe gelangte, die sich an einen seichten Tümpel lehnten, hielt sie unwillkürlich den Fuß an.

Die Schatten machten schon lange Beine und lange Gesichter und fielen über einen hageren Menschen her, der auf einem Sägeklotz hockte und mit aufgerissenen Augen von einer seltsamen Durchsichtigkeit und Tiefe etwas zu überwachen schien. Stier waren sie auf eine handbreite Öffnung in der Stallmauer gerichtet. Neben ihm lag eine Portion glatter Kieselsteine, in zierlichen Häufchen gestapelt. Einen davon hielt er mit der Rechten umklammert.

Juffer Eli drückte plötzlich ihren Atem zurück.

Sie hörte den einsamen Menschen leise vor sich hin sprechen. Er redete mit weicher, zärtlicher Stimme: »Komm mal her. Komm nur, mein Hühnchen, mein Täubchen! – Hierher. So ist's schön! Immer man näher, immer man näher!«

Dabei schlug er sich mit der Linken sacht auf den Schenkel, wie man es tut, um ein störrisches Hündchen heran zu locken: »Hierher. Immer man näher, immer man näher!«

Dann schnellte er auf: »Verfluchte Biester!«

Der Stein pfiff durch die Luft, begleitet von einem lauten Gelächter, dem ein helles Quieksen auf dem Fuße folgte. Der lange Mensch hinter ihm her, ergriff die zappelnde Ratte beim Schwanz, turtelte sie um sich selbst und ließ sie fahren. Mit mattem Klatschen fiel sie in den Tümpel hinein, versuchte noch etliche Ruderbewegungen, um dann lautlos unterzusinken. Etliche Blasen stiegen auf, die kaum wahrnehmbar an der schmutzigen Oberfläche zerplatzten.

»Mein ist die Rache, spricht der Herr, ich will vergelten! – 'rin mit die Ratzen!«

Mit einer pompösen Bewegung, die etwas Tragisches an sich hatte, streckte der Sprecher seine Hände über das noch immer Blasen ziehende Wasser.

Juffer Eli trat auf ihn zu: »Was treibt Ihr hier, unwiese Kardel?«

Der lange, versonnene Mensch stierte sie mit gläsernen Augen an.

»Du siehst doch,« sagte er ruhig, »Ratzen, hungrige Ratzen! Die fünfte liegt schon im Wasser. Mausekaputt!«

In dem feierlichen Gesicht leuchtete es eigentümlich auf, als er das sagte.

»Du könntest auch was Besseres schaffen,« meinte die Juffer.

Der Angeredete senkte den Kopf. Er dachte und grübelte nach. Es war ein Knäuel von grauen und wirren Gedanken. Sie waren wie Fäden, die weder Anfang noch Ende hatten. Sie tauchten auf, um wieder ins Wesenlose zu gehen. Sie waren wie Schneeflocken, die durch die Luft wirbelten, traumhaft auf und nieder gaukelten, um ebenso traumhaft wieder zu zerfließen. Sie waren schwankend in der Form und unsicher in der Bewegung. Er konnte sich mancher Dinge nicht entsinnen, obgleich sie einschneidend sein Leben durchfurcht hatten; andere standen scharfumrissen vor seinen klaren, hellen, durchsichtigen Augen, um jählings in das leere Nichts zu verschwinden. Andere wieder waren ihm wie zerstreute Bruchstücke aus der Vergangenheit, die er linkisch zusammenfügte, ohne das Ganze regelrecht rekonstruieren zu können. Nur zeitweilig lief ein klares Licht über seine verkrüppelte Seele. Und dieses Licht war ein solches, was andere Menschen nicht kannten und nicht kennen wollten. Sie bangten davor. Sie hatten mit ihm nicht gerne zu tun, denn es war wie das seherische Licht der Propheten, das den Tagen vorauseilte und das geheimnisvolle Dunkel des Zukünftigen aufhellte. Karl Mersmann, der jetzt schon an die dreizehn Jahre auf dem Brinkschultenhof lebte, hatte etwas davon abgekriegt. Als blutjunger Mensch schaffte er für vier, ging wie ein König mit seinem Sämannstuch über die Schollen und verstand es, die unbändigsten Pferde willig und gefügig zu machen. Kaum achtzehnjährig liefen ihm alle Weiber nach, und alle liebten es, sich von seinen Armen, die wie Kurbelstangen waren, umfassen zu lassen. Er glich einem braunen, tiefgepflügten Ackerland, das eben aufkeimen wollte. Und Frühlingsstürme liefen darüber hin, und sieghaftes Sonnenfeuer und heiße Liebe, die wie leuchtender Mohn aufflammte. Er war ein Starker, Gewaltiger unter den westfälischen Leuten, um dann plötzlich zusammenzubrechen, krank an Seele und Leib, und als Simpel auf dem Brinkschultenhof weiter zu leben. Von seinem früheren Ich waren nur die schönen, blaugrauen, abgrundtiefen Augen übriggeblieben. Und wie so alles gekommen? Still, still! Ich will nichts gesagt haben. Jetzt noch nicht, zurzeit noch nicht. Aber ihr sollt alles erfahren:

»Wie es sich hub, und wie es kam,
Und wie es ein stilles Ende nahm.«

Ich fasse mich in Geduld und reihe Begebenheit an Begebenheit. Unmerklich lasse ich das Schiffchen des Webstuhles hin und wieder spielen, schürze Faden an Faden und Masche an Masche. Ihr sollt alles erfahren, folgerichtig und wie es geschehn ist und ohne Übereilung der Dinge. Eine Blüte kann sich nur ruhig entfalten. Sie folgt einem ungeschriebenen Gesetz. Und dieses Gesetz legt ihr mit zarten, schöpferischen Fingern den Kelch auseinander. So auch hier. Ich will die Geschichte nach meiner stillen Weise erzählen.

Also Karl Mersmann senkte den Kopf und grübelte nach. Er konnte den Faden nicht erhaschen, die Antwort nicht bringen. Er jagte einem Gedanken nach und verfolgte ihn mit offenen Augen, ohne zu wissen, daß seine Augen offen waren. Es war ein schweres Stück Arbeit. So ein Gedanke schien ein flüchtiges Wild zu sein. Aber wenn er es zur Strecke gebracht hatte, dann erging er sich in biblischen Ausdrücken oder in Redensarten, die sich des Plattdeutschen bedienten, um dann wieder in seine gewöhnliche Sprechweise zu fallen. Plötzlich kehrte die Einsicht zurück. Es hellte bei ihm auf.

»Du,« sagte er mit leisem Wiehern, »du heft guet küren, sag de Henne taum Hahn, du brukst käine Eier te leggen.«

»Was heißt das?« fragte die Lichtjungfer.

»Wo die hier alles rungenieren! – Das heißt das. Ratzen, immer nur Ratzen! Tripptrapp, tripptrapp! – Im Stall, an die Ferkel . . .! Aber hier ist Gottes Finger« – und der Simpel streckte die Faust aus – »und Gottes Finger hat sie von der Tenne gekitzelt. Quieks! machten die Ratzen. Haben Gesichter wie der bucklige Brinkschultenbruder – die Biester.«

»Kardel, hör' auf!«

»Nee, ich höre nicht auf. Dat Krut kenn ick, sag de Düwel, do harr he sik in de Briennieteln sat. So'n Aasknochen! – hat den roten Hahn auf die Roggenmiete und dann auf die Weizenscheuer geschmissen. Feurio – Feuer . . .

Seine Stimme nahm einen widrigen Klang an. Mit schartigem Messer durchschnitt sie die Luft und lief über die Brandstätte, wo noch einige Balken schwelten und bläuliche Rauchwölkchen nach oben schickten.

»Feurio – Feuer . . .! – und was der richtige Brinkschulte ist, der muß nu Totenerde schlucken.«

»Hättest nach Sönnern mitmachen sollen, um ihm die letzte Ehre zu geben. Alles, was recht ist.«

»Ich? – nee,« sagte Karl Mersmann, und seine aufgerissenen Augen schillerten wie Mondsteine.

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht darf.«

»Warum darfst du nicht?«

»Weil ich nicht will.«

»Warum willst du denn nicht?«

»Hö!« brüllte der simple Mensch auf, und seine Gedanken verzwirnten sich wieder zu einem Knäuel, das sich nicht mehr entwirren ließ, »ich bin ja aus der Bodenluke gefallen, koppheister aus der Bodenluke gefallen – un da wull ick jau leiwer . . . Eli,« flüsterte er der Nähterin mit häßlichem Grinsen zu, »et is'n dull Volk, sag de Düwel, do harr he 'ne Schufkar vull Ratzen te fahren. Die sind ja noch leiger als Jan van Leyden und Knipperdölling. Adjüs, Eli.«

Damit steckte er die Hände in die Hosentaschen und stakelte langsamen Schrittes über den Hof fort.

Kopfschüttelnd ging Juffer Eli ihrer heimlichen, unheimlichen Pflicht nach, denn sie mußte noch vor Abend nach Hause, nach Sönnern, wo sie die junge Frau des Lehrers einzukleiden hatte, die im Kindbettfieber geblieben war. –

Weit über Werl fort standen feurige Bänder. Unter ihrem Licht lohten die alten Eichen des Brinkschultenhofes wie brennende Strohschober.

Auf der tellerflachen Ebene, über die Kleefelder hin, zogen dunkle Punkte, die sich scharf gegen den warmen Abendhimmel absetzten. Es war das Leichengefolge, das von der Beerdigung zurückkehrte: Knechte und Mägde und die Nachbarn des verstorbenen Mannes.

Ein einzelner Punkt löste sich ab und bewegte sich hundert Schritte und mehr hinter den andern. Und aus dem Punkt wurde ein Weib mit herbem Gesicht und ruhiger Sicherheit. Nur die Flügel der stolzen Nase zitterten unmerklich, wie unter der Gewalt mühsam verhaltener Leidenschaft. Sie kam allein ihres Weges; niemand war bei ihr. Sie wollte keinen um sich wissen. Jede Bequemlichkeit hatte sie von sich gewiesen, Wagen und Pferde, und so ging sie denn herrisch über ihren Grund und Boden, den die scheidende Sonne mit goldenen Teppichen belegte. Die Stoppelfelder schwanden unter diesen prächtigen Tüchern. Alles gleißte und leuchtete um sie, und sie, dieses königliche Weib, war würdig, über solchen Teppich zu schreiten. Die alte, glanzhelle Zeit verkörperte sich in ihr: Brinkschulten- und Sattelmeiergeschlecht. Gewöhnliche Menschen sahen das nicht, nicht das Hoheitsvolle in ihr, das unnahbare und das Sichabwenden von alltäglicher Gemeinschaft. Die heimatlichen Stillsitzer hatten keine Ahnung davon. Sie sahen in ihr nur die verschlossene, wortkarge Frau und die Anerbin des Brinkschultenhofes. Aber schon die Ursulinerinnen in Torsten, bei denen sie drei Jahre hindurch Körper und Geist gepflegt hatte, waren anderer Ansicht, erkannten ihre Eigenart, ihre Herbheit, die gleichsam aus betäubenden Nelken- und Rosendüften herauswuchs, und hatten sie nur die steinerne Madonna von der Soester Börde geheißen.

Die steinerne Madonna . . .

Unbeweglich blieb sie jetzt stehen. Auf den Feldern lag die Abendstille. Kein Geräusch lief über die Äcker, die teilweise schon unter dem Pflug ruhten. Die dampfenden Schollen, die mit offenem Schoß sich dehnten und streckten, um die Wintersaat zu empfangen, strömten einen würzigen Geruch aus. Mit geblähten Nüstern sog sie ihn ein. Ihre Brust hob und senkte sich. Der Tod lag hinter ihr. Sie hatte sich mit ihm abgefunden, so gut es ging. Pflichten traten an sie heran. Ein neues Leben, ein selbständiges Wirken und Schaffen dämmerte vor ihr auf. Mit zuckenden Lippen und fliegendem Atem sah sie es steigen und immer größer werden. Etwas Zurückgedämmtes beherrschte sie. Durch ihre verhaltenen Sinne zitterte ein heißes Verlangen. Sie überflog die Gegend von Soest bis nach Unna.

»Ich brauche noch etwas,« sagte sie vor sich hin, »um meine durstige Seele zu tränken.«

Dann hafteten ihre Blicke an der Erde und umgriffen die Ackerkrumen, den fruchtbaren Boden.

»Liegt es hier, und wenn es hier liegt, wird es meine schwülen Nächte kühlen und das, was das Weib in mir ersehnt, in Erfüllung bringen?«

Sie verschluckte die letzten Worte.

Der Brinkschultenhof, jetzt ihr Hof und ihr Besitz, das Erbe in seiner massigen Schwere und mit den Eichenkronen, die wie Riesenbälle erschienen, stand in brennender Abendlohe. Da gab es Arbeit für sie.

Dort hinein mußte sie, und Josepha Brinkschulte schritt erhobenen Hauptes in die feurige Lohe.

Seit diesem Tage waren zehn Jahre vergangen – zehn lange Jahre. –

 


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