Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Viertes Kapitel

Ja, es war eine stille, feierliche Juninacht! In dem weitläufigen Hause regte sich nichts mehr. Alle hatten ihre Ruhe gefunden – nur sie nicht. Ihre Blicke umfaßten den Spiegel, dessen Reflex auf der gegenüberliegenden Wand zitterte – eine schlichte, einfache Wand, ohne jeglichen Schmuck, nur mit einer verwaschenen Tapete überzogen. Auf dem Brinkschultenhof gab es nur wenige Luxusgegenstände. Ein altmodisches Mobiliar stand unter der niedrigen Decke. Rechts das große Bett mit den schablonierten Rosen, am Fußende zwei gemalte, sich umschließende Hände, eine Frauenhand und eine Manneshand, darüber zwei sich schnäbelnde Tauben. Das Bett hatte ihre Mutter mit in die Ehe gebracht. Jetzt schlief die Tochter darin, sie, die stolze Nachfahre mütterlicherseits aus dem Geschlecht der Sattelmeier. Links davon erhob sich die langgestreckte Birnbaumkommode, auf der zwei künstliche Lilienschäfte in Porzellanvasen standen, dazwischen ein beinerner Kruzifixus, von dessen gespreizten Armen die Perlen eines Rosenkranzes niederhingen. Trat man von der anliegenden Küche ins Zimmer, so hatte man direkt die schwere Kommode vor Augen und wunderte sich, daß sie, das schöne, hochfahrige Weib, es in diesem einfachen Raume aushalten konnte. Nichts Sinngefälliges durchwehte ihn oder war dazu angetan, der weiblichen Eitelkeit zu dienen. Nüchtern war alles und jedes. Nur von der Kopfseite des Bettes her flimmerte es von Gold und Steinen. Es kam von einer Konsole herunter und hatte Ähnlichkeit mit einer künstlerisch aufgebauten Krone, die unter einer mächtigen Glasglocke ruhte – und es war eine Krone, wie sie hierzulande von der Braut getragen wurde, wenn die Hochzeitsglocke anschlug. Sie stammte aus der schwedischen Zeit und war eine gute Goldschmiedearbeit aus Soest, reich mit Glasflüssen umkrustet und mit klingendem Flitter behangen. Die Mutter hatte sie zugebracht, als sie ihren Einzug auf den Hof ihres Zukünftigen hielt, behauptete aber: die Entstehung des Schmuckstückes in die Schwedenzeit zu verlegen, sei ein Unding. Schon das stahlblaue Auge Wittekinds sei darauf gefallen und habe sich gewundert und sei fast neidisch geworden. Aber nicht lange! – und zugestanden habe der große Herzog: eine Braut aus dem Geschlecht der Wittekind trägt eine Fürstenspange im Haar, eine Sattelmeierin jedoch trägt eine stolzere Krone . . . und diese Überzeugung pflegte sie ihr ganzes Leben hindurch und nahm sie mit sich, als ihre Nase spitz und lang wurde und ihre Füße sich streckten. Das war lange dahin, und jetzt ruhte die Brautkrone unter der Glasglocke Jahre um Jahre und wartete schon Jahre um Jahre. Aber auf wen wartete sie nur?

Bis jetzt war Josepha achtlos an ihr vorübergegangen. Sie hatte keine Blicke für sie. Sie war ihr gleichgültig wie irgend ein unwesentliches Ding, mit dem sie nichts anfangen konnte. Ihr Ehrgeiz erstrebte sie nicht; in ihrem Herzen ging nichts vor, was darauf zielte, dieser Brautkrone teilhaftig zu werden. Sie schien ihr nur ein totes Metall, dazu angetan, ein Frauenleben unter das brutale Joch des Mannes zu zwingen. Den Kult ihrer verstorbenen Mutter hatte sie niemals verstanden, und nur aus Pietät gegen sie verblieb das Andenken aus großer Zeit, wo es war, über dem Kopfende des Bettes; sonst wäre es schon längst in die Rumpelkammer gewandert. Das Schmuckstück sagte ihr nichts, hatte ihr nie etwas gesagt. Ebenso gut hätte da ein ausgestopfter Vogel oder ein nichtiges Spielzeug hängen können.

Mit dem heutigen Tage war das anders geworden.

Die Krone lebte, leuchtete auf, sprach mit ihr und umhüllte ihr Fühlen und Denken mit einem geheimnisvollen Glänzen und Gleißen.

Mit innigen Blicken umgriff sie Gold und Steine. Plötzlich wandte sie sich, trat ans Fenster und schlug den Flügel zurück.

Der warme Atem einer duftigen Sommernacht flutete ins Zimmer. Ab und zu klang das kurze, metallische Rufen der Unken aus dem Düstermoor herüber. Von den Kronen der in Dunst getauchten Bäume rieselte flüssiges Silber. Der Mond war im Aufstieg begriffen. Weiter zur Rechten tat sich freies, offenes Land auf, begrenzt von einer langen Pappelreihe, die mit ihren verwaschenen Spitzen die Sterne zu berühren schien. Und alles so seltsam, so verträumt und von den Schwingungen überirdischer Saiten durchklungen! Im vorgelagerten Garten blühten Levkojen und Feuerbohnen. Dazwischen gaukelten vereinzelte Fünkchen. Auf dem Boden, zwischen Gesträuch und Stauden, blitzte es gleichfalls, lockend, werbend, ohne von der Stelle zu rücken. Aber keine Gedankenspanne verging, und die schwebenden Lichtchen senkten sich tiefer, suchten die ruhenden auf und fanden sich schließlich in heißer, begehrlicher Liebe. Eine köstliche Aussaat von Blütenstaub und Sporen wehte über die Glücklichen. Der Garten duftete davon – und diese Aussaat kam von den Kornfeldern, die unter Sternen- und Mondlicht schliefen, eine köstliche Welle, bestimmt, den kurzen Rausch einer seligen Stunde zu feiern.

Und diese Welle legte sich auch über die Einsame und berührte sie mit zartem Hauch und leisen Fingern. Es war eine Nacht, wie sie noch keine erlebt, so voller Widersprüche war sie und doch so voller Einheit und Harmonie. Geborenwerden und Sterben lag in ihr. Verwelken und Blühen; sie lockte an, um von sich zu stoßen, sie gab wie ein Bettler und verschwendete doch mit Händen, die wahllos schenken, als würden die Äste einer blühenden Fichte gerüttelt. Solche Nächte sind selten unter dem Himmel.

Das fühlte auch sie. Ihre Gedanken wurden schwer von den unbestimmten Erregungen und wechselnden Bildern, die auf sie eindrangen. Und dennoch überflutete ein Rausch von Glück ihr ganzes Sein. Sie erinnerte sich der heute verlebten Stunden in Sönnern. Sie sah den Spiegel und dachte dabei an ihre Freundin in Dortmund. Sie erinnerte sich des Briefes. Sie trug ihn bei sich. Ohne es zu wissen, hatte sie ihn schon lange zerknittert. Jetzt knisterte er wieder in ihrer Hand. Er war welk und unansehnlich geworden. In fieberhafter Eile glättete sie ihn und begann eifrig zu lesen – in kurzen Absätzen, ohne Verbindung, mit fliegendem Atem. Sie griff einzelne Stellen heraus.

»Die Bestimmung des Weibes fordert ihr Recht, und ich bin glücklich darüber. Ach, könntest auch du dieses Glückes teilhaftig werden!«

Sie trat näher ans Licht, um besser lesen zu können.

»Was früher geschehn ist, darüber bist du keinem Rechenschaft schuldig . . .«

Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Wollte da jemand den Schleier heben und ein banges Menschenherz auf seine geheimsten Tiefen durchforschen? Nein, sie war keinem Rechenschaft schuldig. Sie war keinem verpflichtet, die verborgenen Falten ihres Lebens auseinander zu legen. Nur sich gegenüber. Und diese Verpflichtung nahm sie auf sich, denn sie war Herrin über sich selbst, Königin und Herzogin über Seele und Körper, und wo da Spuren zu verwischen waren, das war längst geschehn, und ein toter Wind säuselte darüber hin, wie er säuselt über Gräber und langes Kirchhofgras. Erhobenen Hauptes konnte sie noch immer unter die Menschen treten und sagen: »Wer wagt es, den Stein gegen mich zu heben? Ich warte darauf. Hebet den Stein auf!« Aber keiner wagte es. Alle schlichen davon wie verschüchterte Hunde. Nein, sie hatte nichts zu befürchten. Da waren keine Spuren vorhanden.

Und wieder las sie: »Deine Zeit ist gekommen. Nütze sie aus, wenn dein Blut nicht langsam einfrieren soll. Denke daran: öffne die Arme, und du wirst wie ein blühendes Weizenfeld sein. Der Herr wird schon kommen.«

Der Brief entsank ihrer Hand. Ihr Körper straffte sich unter dem dünnen Gespinst ihres Kleides, ihre Arme hoben sich, und so mit gebreiteten Armen trat sie vom Fenster zurück und sagte mit verlorenen Worten: »Ja, ich bin wie ein blühendes Kornfeld. Nur – der Herr müßte kommen! – Und wenn er käme, würde er sagen: Ich will mich an deinem Duft berauschen.«

Sie lachte bitter auf: »Das ist ja ein Unding, ein Unsinn! – Das brachten die Jahre fertig. Ich bin nicht mehr die, die ich einmal war.«

Sie fühlte ihr Herz in der Einsamkeit klopfen und dachte wieder an das Schreiben von eben, das jetzt zerknittert am Boden lag.

Da stand noch etwas darin, was sie vergessen hatte zu lesen.

Ja, da stand noch: »Hast du einen Spiegel befragt? So ein Spiegel spricht die lautere Wahrheit und lügt nicht.«

»Gut, ich will ihn befragen,« sagte sie heftig.

Aus diesem Grunde hatte sie ihn ja auch herbringen lassen.

Noch zögerte sie. Sie wagte es nicht, in die blanke Fläche zu schauen, die unter dem Kerzenlicht hundert und aber hundert grelle Reflexe hervorzauberte. Endlich entschloß sie sich, streifte ihr Oberkleid von den Schultern herunter und trat vor den Spiegel.

Sie hätte aufschreien mögen.

Das hatte sie niemals gesehen; so nicht, in solchen verlockenden Farben noch nicht. Ihre Haare leuchteten anders denn sonst; ihre Augen brannten verklärter; ihr Körper war nicht mehr der Körper von früher.

»Das bin ich nicht!« keuchte sie, wie erschrocken vor dieser Erscheinung, denn eine Frauenherrlichkeit blickte ihr aus dem Glase entgegen, geschaffen, um Mannessinne trunken zu machen und ihnen heiße Liebe zu geben.

Ob sie es war?

Ja, sie war es – das erkannte sie jetzt. Sie gab sich keiner Täuschung mehr hin. Spurlos waren die Jahre an ihr vorübergegangen. Nichts Steinernes mehr. Das Abgestorbene in ihr war wieder lebendig geworden. Sie fand sich mit dieser Erkenntnis ab. Sie war glücklich darüber. Jetzt wußte sie doch, warum sie überhaupt lebte und ein Herz in der Brust hatte, das aus seiner Starre herauswollte, um zart und innig an dem eines Mannes zu schlagen.

Ihre Freundin hatte schon recht. Es brauchte nicht das eines Studierten zu sein, nicht das eines Grüblers und Sinnierers. Aber dem dieses Herz gehörte, dessen Schritt mußte etwas Klirrendes an sich haben, in ihm mußte eine Herrennatur sein und die Freude an einem Weib, das nicht war wie die anderen Weiber.

Und war sie nicht ein solches Weib? Und er! – hatte sie einen solchen gefunden, der einen klirrenden Schritt unter sich hatte und die Liebe eines aparten Weibes begehrte?

Sie wußte es nicht. Sie gab sich keine Rechenschaft darüber, aber der Gedanke, daß es so war, ließ sich nicht mehr abweisen.

Noch einmal musterte sie ihre stolzen Formen und den sanften Bronzeton, der ihr selig über Nacken und Schultern und die entblößten Arme rieselte. Nur zwei Sekunden währte diese trunkene Selbstschau, diese verzückte Selbstanbetung, dann trat sie zurück, nahm ihr Morgengewand und ließ es über sich niederfallen. Wie ein lauer Strom glitten die weißen Falten an ihrem schönen Körper herunter, hüllten ihn ein, um in sanften Wellen am Boden weiter zu fließen. Mit dieser Umhüllung kam das Verhaltene zurück. Nichts regte sich mehr an ihrem Leibe, kein Glied, keine Fiber und keine Linie ihres weißen Kleides. Nur ihre Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzuge. Dann streckte sie mechanisch die Arme und verschränkte die Hände hinter dem goldigen Haarknoten.

Mit einem verlorenen Lächeln suchte sie etwas. Aber sie fand nicht, was sie suchte. Ihre Blicke irrten wieder durch das geöffnete Fenster über die Feuerbohnen fort in das Staunen der verschwiegenen Nacht hinein, die Augen hatte wie verschleierte Frauenaugen. Und noch immer suchte sie. Da war es ihr, als wenn sie Schritte vernähme, langsame, verhaltene Schritte.

Sie kamen von oben.

Monoton gingen sie auf und nieder.

Sie störten die Einsamkeit der Nacht nicht. Dafür waren sie zu stumpf und gemessen. Sie hörten sich an wie der weiche Pendelschlag in dem Getriebe einer großen Turmuhr.

Und dennoch lag ihr der unbestimmte Schall in den Ohren. Er beunruhigte sie und ließ sie ängstlich aufhorchen.

Und dann ein Geräusch, als drehte sich über ihr eine Stubentür leise in den Angeln, als glitte es heimlich über die Treppe, die zur Diele führte.

Ihr Herz klopfte hörbar. Sollte etwa der Spökenkieker . . . Die Nacht war mondhell, und in solchen Nächten pflegte er auf den Hellweg zu gehen.

Gut, mochte er gehen.

Sie hatte jetzt andere Gedanken. Außerdem verloren sich die Schritte, als wären sie niemals Schritte gewesen.

Schon möglich, sie war der Spielball irgendeiner Täuschung gewesen, und ihre Gedanken begannen wieder zu suchen.

Ihr fehlte noch etwas.

Plötzlich umgriffen ihre Blicke die Krone, die noch nichts an ihrem Leuchten verloren hatte. Wenn sie diese erst hatte, wenn sie diese mit Ehren auf ihren Scheitel setzen und zur Kirche tragen durfte, dann erst war sie wie ein wiegendes, blühendes Kornfeld. Dann erst war ihr Herr und Gebieter gekommen, und der Schrei des Weibes, des erwachten Weibes in ihr, hatte Erhörung gefunden.

Die vermeintlichen Schritte hatte sie längst vergessen.

Sie streckte die Hände. Da war ja, was sie suchte.

Unter der Glasglocke lockte es wie ein Zauber. Aus alten Zeiten winkte es ihr zu. Das kostbare Erbe vom Hofe der Sattelmeier erschien ihr wie ein Heiligtum in der Kirche, umspielt von dem frommen Licht lautlos brennender Kerzen. Es war ihr ureigenes Recht, sich dieses Heiligtum auf die hämmernden Schläfen zu drücken, ein Symbol ehelicher Treue und köstlicher Jahre.

Noch einen Blick warf sie durch das geöffnete Fenster. Scheitelrecht hing der Mond über dem stillen Garten. In breiten Garben warf er sein Licht über die verschwiegenen Beete. Der Blumenduft schwebte herein, schwer und betäubend. Dazwischen das weltferne Choralen der Unken. Sie gestand sich noch einmal: nie war ihr eine solche paradiesische Nacht begegnet, eine solche westfälische Nacht, eine solche Nacht auf der Soester Börde. Der Himmel senkte seinen ganzen Segen zur Erde. Gott umgab die irdische Liebe mit seiner Herrlichkeit und ließ sie erschauern unter dem Odem seiner gütigen Allmacht.

Mit ihrer ganzen Weichheit und Größe fiel diese Nacht über die Brinkschulte her. Flüssiges Silber rieselte an ihrem Körper herunter. Sie wandte wieder das Antlitz. Schritt für Schritt ging sie vor. Mit zagen Fingern stellte sie die Glocke beiseite, dann aber: mit beiden Händen umgriff sie die Brautkrone und drückte sie auf das goldblonde Haar, das unter dem alten Schmuck leise zu knistern begann.

Hierauf trat sie vor den Spiegel und dann ans Fenster.

Jetzt stand sie da, die große, beinah mächtige Gestalt, das Erbstück der Sattelmeier auf dem erhobenen Haupt, strahlend zwischen Kerzenlicht und Mondlicht, und sah über den kleinen Garten fort in das verträumte Land, das ihr gehörte bis dort, wo die schlanken Pappelreihen im weichen Nebel verschwammen.

Jetzt hatte sie, was sie suchte. Wie eine Botschaft wehte es sie an. Alles war vorbereitet, was sie nötig hatte, um ihre Seele in die Arme eines andern gleiten zu lassen. Der Herr brauchte nur zu kommen.

Ihr Blick konnte ein kleines Stück des hellen Kornes umfassen, das hinter den nahen Kleeäckern aufragte. Daneben, durch eine niedrige Terrainwelle gedeckt, lag das Düstermoor, von dem nur einige Erlenbüsche sichtbar waren, zusammengeballt, fast am Boden liegend und mit Silberpünktchen durchstichelt. Ein weißlicher Nebel webte und wirkte dort auf und nieder.

Unwillkürlich lenkte sie ihre Blicke dorthin. Sie glaubte das Geräusch von langsam ziehenden Schritten zu hören. Dieselben kamen näher, um dann beiseite zu rücken. Hörbar tönte es durch die stille Nacht, lautlos zerging es wieder. Sie wußte mit dem seltsamen Treiben nichts anzufangen. Minute reihte sich an Minute. So mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als die Schritte von neuem durch die verwunschene Nacht gingen, begleitet von dem leisen Gesäusel und Wuchteln einer großen Eule, die vom Düstermoor bis zu den Scheunen revierte. Unter diesem Säuseln und Wuchteln kam einer näher, drehte sich dem Garten zu und schritt bedächtig über den Kiesweg, immer umkreist von dem fliegenden Schatten, der nicht Ruhe geben und abschwenken wollte.

Die Brinkschulte horchte hinaus. Nur noch wenige Herzschläge, und der einsame Waller mußte auf dem mondlichten Weg, der dicht am Fenster vorüberführte, erscheinen. Eine plötzliche Angst überlief sie. Was hatte überhaupt dieser Eindringling in ihrem Garten zu schaffen? Sie wollte zurücktreten, sich hinter die Gardine verbergen, als er auch schon vor ihr auftauchte und sich ein bleiches Gesicht zwischen die Blumenscherben drängte.

Es war das des Spökenkiekers.

»Ihr?« fragte sie mit heimlichem Grauen.

»Ja, Brinkschulte, ich bin es,« sagte er ruhig.

»Wo kommt Ihr her?«

»Brinkschulte, ich war auf dem Hellweg.«

Für eine Augenblicksspanne war Totenstille zwischen ihnen. Ohne einen Laut von sich zu geben, sah er sie an. Er schien ein Willenloser zu sein. Die Außenwelt hatte nichts mit ihm gemein, aber seine Augen ruhten auf ihr und waren wie leuchtend in seinem Angesicht. Es lag weder Glück noch Zufriedenheit darin, sondern nur ein vages Scheinen, wie das unbestimmte Licht eines fernen Wetters.

Wieder kroch das Grauen an sie heran. Sie machte Miene, das Fenster zu schließen.

»Hiergeblieben,« kam es von draußen.

Es lag ein befehlender Ton darin.

»Was wollt Ihr von mir?«

Karl Mersmann legte die Hände auf das Fenstergesims: »Brinkschulte, ich war auf dem Hellweg.«

»Das weiß ich. Das habt Ihr mir schon einmal gesagt.«

»Na – und wenn einer so auf dem Hellweg stand . . . Brinkschulte, es ist von Sönnern gekommen.«

»Was ist von Sönnern gekommen?«

»Brinkschulte, ich hatte ein Gesicht.«

»Das ist wieder die alte, verfluchte Geschichte von früher.«

»Keine verfluchte Geschichte! – nee, Brinkschulte, keine verfluchte Geschichte.«

»Macht, daß Ihr ins Bett kommt,« sagte sie heftig.

»Ich?!« begehrte er auf, und seine Augäpfel erschienen ungewöhnlich klein und zusammengezogen. »Baukwaiten Saot un Fraulüe Raot gedeiht bloß alle sieben Jaohr. Ich will freien Weg zu fahren haben, wenn es über mich kommt. Freien Weg will ich fahren. Das ist abgemacht zwischen uns, und wer mir das nehmen will, dem schlage ich den Bregen zusammen – hier mit meinen zwei Fäusten schlage ich ihm den Bregen zusammen. Brinkschulte, das ist so mein Gefühl. Hö, mein Geschäft!«

»Ihr sollt ruhig sein, Kardel. Ihr weckt ja Menschen und Vieh auf.«

»Hat sich was mit Menschen und Vieh! Wißt Ihr was, Brinkschulte: von Müse kumt Müse, von Ratzen – Ratzen, und von Sönnern kommt das Malör!«

»Das sind dumme Gedanken.«

»Dumme Gedanken . . .

Karl Mersmann flegelte sich hoch: »Brinkschulte, daß Ihr es noch einmal wißt: ich bin auf dem Hellweg gewesen.«

»Gute Nacht, Kardel . . .

Das Fenster sollte zufliegen.

Aber der Spökenkieker war schneller. Mit raschem Griff umspannte er ihre Handgelenke und hielt sie wie zwischen Schraubstöcken. Langsam, glasig, wie transparent, krochen seine Blicke an ihr herauf, während er immer fester und nachhaltiger schraubte. Und diese Blicke – sie gingen über die geschmeidigen Arme, die Schultern; sie schoben sich über das totenstille Gesicht, das ihnen mit Entsetzen entgegenstarrte. Auf der goldenen Brautkrone blieben sie haften.

»Wenn olle Schüren brennt,« kam es von den blutleeren Lippen, »dann brennt se lichterloh. – Brinkschulte, ich bin in Sönnern gewesen. Da soll doch kein Hochzeiter ins Haus?«

»Laßt mich zufrieden!«

Vergebens suchte sie aus seiner Umschnürung zu kommen.

»Da soll doch kein Hochzeiter ins Haus?«

»Ich sage Euch nochmals . . .«

»Ach was!« schrie Karl Mersmann und zog die Handfesseln schärfer an, »et is biäter, en Dullkopp äs en Dudelkopp. Der junge Kerl, der Schulmagister von Werl ist Euretwegen schon ins Wasser gegangen . . . mausekaputt wie 'ne verquiemte Ratze! – Soll's einem zweiten passieren?!«

»Was kümmert's Euch!«

Die Brinkschulte wand und drehte sich wie eine Torquierte, um aus der wütigen Umschlingung zu kommen.

Da griff er nach oben, direkt nach der funkelnden Krone.

»'runter mit dem Ding von den Sattelmeiern!« schrie er durch die qualvolle Stille, »'runter mit dem verfluchtigen Popanz!«

Die Brinkschulte warf sich rücklings. Mit knapper Not hatte sie das Erbe aus alten Tagen gerettet.

»Mensch, daß du immer in meine Seele hineingreifst!«

Das Fenster legte sich zwischen sie und den Hellseher; dann schlug sie die Läden zu.

Karl Mersmann stöhnte auf wie ein über den Haufen geschossenes Tier: »Brinkschulte, Brinkschulte! – kommt da ein Hochzeiter ins Haus – verfluchtig noch mal! – dann bin ich nicht aus der Bodenluke gefallen. Nee! – dann bin ich nicht aus der Bodenluke gefallen.«

Mit hellem Gelächter drückte er sich hierauf durch die Feuerbohnen dem Eingang des Hauses zu; aber mit blödem Grinsen hielt er plötzlich inne.

»Lach nicht, du lachst dich in den Himmel hinein.«

Er sprach es, als wenn er sich in einem Sterbezimmer befände und der Priester jeden Augenblick mit der Wegzehrung eintreten müßte. Dann brach er in sich zusammen: »Die Krone, die verfluchtige Krone!«

Über den Brinkschultenhof senkte sich wieder die große Stille von eben. Weit draußen im Feld, beim Nachbarkotten, bellte ein Hund. Er vermehrte nur die lautlose Einsamkeit. Sonst war keines Lebenden Ruf auf Erden. Wohlige Düfte hüllten das weite Gehöft ein. Sie kamen von dorther, wo die Weizen- und Roggenfelder in wundersamer Blüte standen. Sie atmeten leise und weich, wie ein junges Weib atmet, das eine große Sehnsucht in sich trägt und zukunftsfreudig in die geheimnisvollen Worte ausbricht: »Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.« Und ganz hinten, weit über die einsamen Pappelreihen fort, die über und über in Silbergeriesel standen, nach Sönnern zu, löste sich plötzlich ein weißer Fleck vom Himmel, ein unbestimmtes Etwas, ein Stern, ein fließender Lichtschein, der auf lautloser Bahn dahinglitt, um spurlos in das Wesenlose zu schwinden.

Vor dem Spiegel, im Gemach der Brinkschulte, brannten die Kerzen noch immer. Hörbar tropften sie ab. Sie aber, die Brinkschulte, hatte sich angekleidet aufs Bett geworfen, auf das Bett mit den grellen, krapproten Rosen. Der Brautschmuck flimmerte zwischen den Kissen. Die Kräfte fehlten ihr, ihn von den Schläfen zu heben. Ihre Sinne umflorten sich, und in einem schweren, bleiernen, traumlosen Schlafe fanden ihre aufgepeitschten Gedanken die ersehnte Ruhe.

* * *

Anderen Tages stand der Alte, genannt Jaspers, zwischen den Korngassen. Dann kam Simmchen, redete mit ihm und zog wieder betrübten Sinnes nach Werl, wo sein Blümchen mit dem Kaffee auf ihn gewartet hatte.

»Püh!« machte Simmchen.

Gegen Abend fiel der Schuß zwischen den Eichen, und der Spökenkieker nagelte die herabgeholte Ohreule an das Tor der großen Scheune.

Josepha Brinkschulte jedoch war schon in früher Morgenstunde zu ihren Verwandten ins Lippische gefahren.

 


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