Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Siebzehntes Kapitel

Qualvolle Viertelstunden . . .!

Unbeweglich stand die Brinkschulte jetzt mitten in ihrer Kammer.

Blendende Helle umgab sie. Sie hörte: Juffer Eli und Dörte gingen von Zimmer zu Zimmer, um die Lichter anzuzünden. Selbst auf der schmalen Stiege, die zur Mägdekammer führte, brannte die Hängelampe.

Aber warum war das alles geschehen? Sie wußte es selbst nicht, obgleich sie darüber nachdachte, was ihr Gebot eigentlich bezwecken sollte.

Plötzlich wandte sie sich.

Die Brautkrone stand an ihrem gewöhnlichen Platz. Ihre Strahlen glitzerten herüber. Eine magische Gewalt ging von ihnen aus.

Aber die Vereinsamte wies sie von sich.

Die Worte traten ihr in den Sinn, die da lauten: »Du bist wie eine Kamelin in der Brunst und wie ein Wild in der Wüste, das niemand aufhalten kann.«

Sie schämte sich dieses Bildes und fuhr sich über die Stirn, als müsse sie es aus ihrem Gedächtnis wischen.

Sie setzte sich und stand wieder auf. Sie löste ihr Haar und nestelte es wieder hastig zusammen. Dann glaubte sie sich mitten im Winter und eine der zwölf Nächte stiege herauf. In solchen Nächten heben leblose Dinge zu sprechen an, und Vergangenes schlägt die Augen auf. Und diese Augen . . .!– Sie waren ihr Verhängnis geworden und machten ihr die Tage zu Nächten und die Nächte zu Stunden, die um Verlorenes weinten. Ja, sie erinnerte sich. Nichts entging ihr. Damals! – es war spät unter dem Monde. Ihr Blut hämmerte. Der Himmel war durchsichtig wie Gazeschleier, und die Sterne hatten ihr Leuchten verdoppelt. Da hatten jene Gespensteraugen über ihr gestanden, fordernd und doch wie zärtliche Flammen. Gebieterische Arme stießen sie in ein Stück Leben hinein, das sie halb willig, halb erzwungen ergriff, um eines kurzen Taumels teilhaftig zu werden. Schuldig und doch nicht schuldig! Selig, um gleich darauf an den Abgrund der Verzweiflung zu stürzen. Und doch war ihre Seele rein; denn ihr junges Blut begehrte auf und der Herr war so weit. Er konnte seine Stimme nicht erheben. Nicht rufen, nicht warnen. Er hatte anderweitig zu schaffen. In jener Nacht spielte er fern über den Erlen mit verschwiegenen Blitzen, und da war der Brinkschultenhof um eine Sünde reicher geworden. Ein junges Herz wollte auseinander. Verzweifelte Hände griffen ins Leere. Die Bäume schauerten dem kalten Frühlicht entgegen. Ein Tappen und Tasten aus der verschwiegenen Kammer heraus, ein scheues Sichducken und Drehen bis in die Nähe der Bodenluke . . . und dann war jener furchtbare Sonntagmorgen gekommen . . .

»Ah!« machte sie schmerzlich.

Der Gedanke an den Tod ergriff sie.

Was suchte sie noch?

Was konnte ihr das Leben noch lebenswert machen?

Was wollte sie überhaupt noch auf dieser Erde?

Es war doch alles eitel und nichtig . . . eitel und nichtig!

Und dann wieder . . .

Ein langsam anschwellender Ton drängte sich an sie heran. Es war wie ferne Musik, die immer eindringlicher wurde, wie das erneute Ebben und Fluten verhaltener Sinne und zurückgedämmter Lebensfreudigkeit. Ein wildes Verlangen, alles von neuem zu beginnen, sich dem Tode entgegenzustemmen und das sonnige, jauchzende Leben an die Brust zu reißen, stieg plötzlich in ihr auf.

Das war es ja!

Sie mußte Licht um sich haben, schönes, erlösendes, allbefreiendes Licht. Durch alle Kammern hindurch hatte diese erlösende Helle zu fließen. Und in diese Helle hinein wollte sie ihre quälenden Gedanken peitschen, um sie gefügig zu machen und sie zu zwingen, sich farbenfreudig zu kleiden. Sie wollte Ruhe haben, tiefe, barmherzige Ruhe, und ihre Seele sollte sein wie ein großer Vogel in der Abendstille, der gemessenen Fluges über eine blühende, unermeßliche Heide dahinglitt.

Also sollte es sein, und sie horchte hinaus. Ab und zu ließ sich noch ein dumpfes Gerumpel vernehmen.

Sie trat ans Fenster und schlug einen Flügel zurück. Alles lag grau in grau in der nächsten Umgebung. Mit leisen Fingern klopfte der Regen gegen die Scheiben. Das Wetter flaute ab. Nur über dem Vorwerk stand es noch in klumpigen Massen. Weißglühende, knitterige Bänder leuchteten dort auf, um jäh von dem dunklen Hintergrunde verschlungen zu werden.

Vereinzelte Schläge kamen aus weiter Ferne – aus der Gegend von Sönnern.

Sie zählte die einzelnen Schläge und glaubte sich zu irren. Aber sie irrte sich nicht. Gleich darauf holte die Kastenuhr auf der Diele aus und meldete die nämliche Stunde.

»Erst sechs Uhr,« sagte die Brinkschulte.

Dann hörte sie Stimmen und kräftige Schritte, die dem Hellweg zustrebten. Auch klingelten verschiedene Kummetgeschirre vorüber. Sie kannte das Geklirr; nach ihm beurteilte sie, wohin die einzelnen Gespanne gehörten. Das mit dem hellen Singsang war vom Bagedeshof, und das mit der klanglosen Mittellage kam von den Gäulen des Kolonen Brüning.

Jetzt erst dachte sie wieder an Ignaz Greving. Der Mensch saß ja in tiefer Not, und Holthövel hatte die ganze verfügbare Nachbarschaft aufgeboten, ihm Hilfe zu bringen.

Ihr Geist nahm wieder Fühlung mit den Dingen des Alltags. Am liebsten wäre sie selbst hinausgegangen. Vielleicht bedurften sie dort ihres Rates. Aber was sollte sie da? Heinrich Tillbeck hatte diese Pflicht bereits an sich gerissen und schaffte da drüben – in eigener Sache, durch Not und Gefahr, und den verzehrenden Kuß eines herrliches Weibes auf den brennenden Lippen. Also stand er und traf seine Maßnahmen, in seiner ganzen Kraft, in seiner kantigen Geradheit, die weder rechts noch links sah und mit eisernen Klammern zupackte – der ersehnte Herr, der da kommen mußte, um alle Not von ihr zu nehmen.

Sie witterte diese Kraft in ihm, wie eine Hündin ein fernes Wild anspricht, und freute sich ihrer und gesundete an ihr, um dann einzusehn, daß sie ein Bettelweib am Straßenrain war, das nichts erübrigt hatte – nur Erinnerungen, die auf Krücken gingen . . . als Juffer Eli, ihr dunkles Umschlagtuch über dem Arm, ins Zimmer trat, leise hüstelte und sich an ihren Ohrringen zu schaffen machte.

»So, das wäre besorgt,« meinte sie ruhig. »Alle Lichters sind fertig. Piekfein, sage ich man. Das leuchtet noch schöner als Gottes Feuerwerk da draußen. Gehört sich auch so, denn wenn eine so richtig verlobt ist . . .«

Sie trat dicht an die Brinkschulte heran und sagte mit getragener Stimme:

»Meine Seele will sich heben.
Auf zum Himmel tut sie schweben,
Und sie jubelt und sie preist
Gott den Vater, Sohn und Geist.
        Amen.«

 

Ihre Hände legte sie zusammen wie zum Gebet.

»Daß ich das noch erleben durfte,« beteuerte sie aus ihrer sanften Merinobluse heraus, »ist mir 'ne größere Bekömmnis, als wäre ich noch mit meinem lieben Jans Sandhage versprochen. Das ist über alles Erwarten. Nein, diese freudigen Verhältnisse! So aus dem vollen Leben heraus! Da müssen ja alle Kirchspiele mittun und die Bekränzung und die sonstigen Feierlichkeiten in die Hände nehmen. Und was da soeben passiert ist, das da unter der Bodenluke, wo zuletzt der Vater selig . . . Ich meine, Brinkschulte: alles hat seine Zeit. Was mal geschehn ist, da gibt keiner was für. Man soll 'nem Unglücksraben nicht nachfliegen. Und daher . . . soeben konnte ich den richtigen Dreh nicht finden, von wegen der sogenannten Umstände; aber jetzt hab' ich ihn wieder . . . ich meine die Findigkeit von meiner persönlichen Gratulierung . . . Whipp!«

Sie suchte nach Worten.

»Brinkschulte!« und in freudiger Hast ergriff sie die Hände der Insichgekehrten, »meinen innigsten Ausdruck. Und wenn er auch nicht durch eigenes Versehen 'raus gefallen ist – meinen herzlichsten Glückwunsch.«

Die Brinkschulte nickte.

»Ich danke Euch, Eli,« sagte sie ohne jede Erregung.

»Nichts zu danken. Aber wie das so ist im menschlichen Leben: gut Ding will an die Luft und will seine Betätigung haben. In Sönnern und so. Die Leute haben Interesse dafür. Ich darf doch Gebrauch davon machen. Ich meine daher, ob ich nicht in der Nachbarschaft . . .«

»Ich bitte Euch, Eli, laßt es noch anstehn.«

»Um Gott nicht, warum denn?!« fragte die Nähterin und legte sich das Umschlagtuch um die hageren Schultern.

»Eli, ich bitte Euch . . .«

»Schön denn, Brinkschulte, obgleich ich nicht kapabel bin, die Sache so richtig begreifen zu können. Aber von wegen des Brautkleides bitte ich um liebwerte Erinnerung. Alles wird plissiert auf Seide gebracht . . . Die in Dortmund haben auch kein besser Fasson. Außerdem bin ich die nächste dazu, denn hier auf dem Brinkschultenhof . . . Für Mutter selig habe ich noch geschneidert: Buntzeug und Leinenzeug und dann das letzte Hemd. Für Vater selig dasselbe. Immer in Arbeit bis auf den heutigen Tag, und da habe ich mir denn auch gedacht . . .«

»Geduldet Euch, Eli; es wird alles schon werden.«

»Schönen Dank, Brinkschulte, und nochmals meinen innigsten Ausdruck. And damit will ich mich für heute verabschiedet haben.«

Fester zog sie ihr Umschlagtuch um die Schultern.

»Und wie schon gesagt, Brinkschulte – man soll 'nem Unglücksraben nicht nachfliegen.«

Damit wandte sie sich zum Gehen.

»Wie, Eli, Ihr wollt schon fort?«

»Sechs Uhr, Brinkschulte; ich muß noch über den Hellweg.«

»Da steht ja noch immer das Wetter.«

»Wenn auch; mit 'nem guten Regenschirm und 'nem reinen Gewissen kommt man überall durch. Und denn: der gewächste Faden ist bei mir.«

»Trotzdem solltet Ihr bleiben.«

»Wenn ich man könnte! Aber das geht nicht; ich hab' noch 'ne eilige Besorgung zu machen.«

»Bei wem denn?«

»Ihr hört's ja nicht gerne. Weil Ihr aber mal fragt: beim Schulte Düsberg. Der Mann kriegt heute noch 'nen Sack Hobelspäne ins Haus.«

»Wer ist denn gestorben beim Schulten?«

»Die junge Frau.«

»Na denn,« sagte die Brinkschulte etwas bedrückt und sah still vor sich hin. »Eli, dann geht man.«

Als sie wieder aufblickte, hörte sie nur noch ein mattes Hüsteln.

Juffer Eli war ihres Weges gegangen. Sie selber aber suchte Dörte auf und fragte nach Ignaz.

Noch immer war keine Nachricht gekommen. Der Hof blieb ausgestorben. Selbst der alte Brügelmann, der noch rechtzeitig eingetrieben hatte, hatte sich dem Aufgebot der Nachbarsleute angeschlossen und war mit ihnen zur Unglücksstelle gezogen.

Immer größer wurde die Unruhe in ihr.

Sie hielt's nicht mehr aus.

Die überall ausströmende Helle bedrückte sie jetzt.

Sie lächelte über den gegebenen Befehl, ging von Zimmer zu Zimmer, von Kammer zu Kammer und löschte die Lichter aus.

Dörte schüttelte den Kopf und sah ihr mit großen Augen nach.

Die arme Madam . . .!

Mechanisch schritt diese von Stube zu Stube.

So war sie in die Kammer des Spökenkiekers gekommen.

Auch hier brannte ein Licht.

Durch das niedrige Fenster sah der Abend ins Zimmer.

Sie trat dicht an die Scheiben.

Von hier aus konnte sie die dunklen Erlenbestände und die blenkigen Tümpel des Moors erkennen.

Dort also rangen sie mit dem tückischen Sumpfwasser.

Ein verlogener Schein lag über der unheimlichen Gegend. Er täuschte Helligkeit vor, ohne Strahlen zu geben. Er war bleiern, stumpf, wie die Zinnbeschläge eines Sargdeckels. Leben und doch kein Leben! Nur ein langgezogener Streifen, schmal und olivenfarbig wie ein Wasserblatt, grenzte den Horizont ab. Darüber die graue Dämmerung des Himmels – und in dieser Dämmerung noch immer das Aufleuchten verlorener Blitze, die jetzt lautlos dahinglitten.

Die Vereinsamte sah sich im Zimmer um. Seit Jahren war sie nicht mehr in dieser Kammer gewesen. Sie mochte sich unbefangen umsehen. Karl Mersmann hatte keine Geheimnisse, Alles lag offen: einige geweihte Medaillen, der Stumpf einer Wachskerze, ein Gebetbuch und zwei Rosenkränze aus dunklen Pockholzkügelchen. Überall Religion! – Ferner: die Handpostille und die Rezepte gegen Pferdemauke und den Rotlauf der Schweine. Die Kerssenbroichsche Chronik ruhte auf einem Nebentisch. Sie war aufgeschlagen. Deutliche Lesespuren bezeichneten die Stelle, die da lautete: Hierauf tanzete er mit seinen Kebsen einen Ringelreihenrosenkranz um das gerichtete Weib, und alle sungen dabei den Lobgesang ab: ›Ehre sei Gott in der Höhe‹ und tanzeten weiter. Daneben waren mit Rötel und von ungelenker Hand zwei gekreuzte Schwerter gezeichnet.

Sie wandte sich ab. Wider Willen hatte sie diese Stube betreten. Der Geist, der ihr hier von den gekalkten Wänden entgegenwehte, erfüllte sie mit Todestraurigkeit.

Der kahle Spiegel blinkte sie an. Nichts zeichnete ihn aus; nur eine schmale Goldleiste rahmte ihn ein. Ein vergilbtes Büschelchen von Buchsbaumzweigen stak hinter der Leiste.

»Mein Gott!« hauchte sie tonlos, »also noch immer . . .

Ihr Antlitz war um einen Schein fahler geworden.

Sie kannte das Sträußlein. Sie hatte es ihm vor vielen Jahren gegeben, damals, am Tage Palmsonntag, als die Welt der Auferstehungsfreude entgegenharrte und acht Tage nachher die Osterfeuer aufleuchteten. Dann, um vieles später, mußte sie als junges Ding zu ihren Verwandten und hierauf zu den Ursulinerinnen nach Dorsten.

Fünfundzwanzig Osterfeuer brannten in jener Nacht in den verschiedenen Kirchspielen und Bauernschaften. Dessen erinnerte sie sich. Und das Sträußlein war geweiht worden in der Kirche von Sönnern.

Morsch und vergilbt sahen die einst saftgrünen Partikelchen hinter dem Spiegel hervor – jene Partikelchen, von denen sich die Knechte und Mägde erzählten, daß sie Karl Mersmann allwöchentlich in ein Glas mit Wasser stellte, damit sie neues Leben empfingen. Gleich den toten Blüten der Jerichorose sollten sie aufgehn.

Sie wußte nichts davon.

Heute sah sie zum erstenmal den geweihten Palm wieder, in der Stube des armseligen Menschen, der einstens Sonnenlicht um sich hatte und alle Weiber gierig machte – heute, nach langen, traurigen Jahren.

Modrige, staubige Blättchen! – tot und vergilbt . . . und dennoch redeten sie. Sie redeten eine eindringliche Sprache. Sie redeten wie aus einem Sarge heraus; aber um so entsetzlicher redeten sie.

Sie hörte Wort für Wort. Nichts entging ihr.

Da packte sie zu.

Sie hatte das Büschel ergriffen und war mit ihm ans Fenster getreten.

Hierauf stieß sie den Riegel zurück und zermürbte die starren Blättchen zwischen den Fingern.

Ein feines Knistern entstand, ein Schrumpfeln und Rieseln.

Dann streckte sie die Hand und tat einen tiefen Atemzug. Vieles war ihr vom Herzen genommen.

Ein staubiges Wölkchen zerflatterte draußen im Wind, um still zu vergehen.

Hierauf verließ sie die Kammer und nahm ihren Rundgang wieder auf. Überall, wo sie eintrat, löschte sie die Lichter. So war sie bis zur Küchenhalle gekommen, wo die Lampe noch brannte. Sie ließ sie brennen.

Über ihr gingen Schritte. Es konnten nur die von Dörte sein. Sie schien aufzuräumen und Wasser in die Schlafstellen der Knechte und Mägde zu tragen.

»Die hat auch ihr Leid,« sagte die Brinkschulte und machte sich daran, die noch umherliegenden Nähgerätschaften und Leinenstücke zu ordnen . . .

»Guten Abend, Brinkschulte.«

Sie prallte zurück.

Den hatte sie allerdings nicht erwartet.

»Ohm Jaspers . . .

»Zu dienen,« sagte der Alte, erhob sich schwerfällig aus der Nähe des Feuerherdes und pirschte sich an den Tisch heran.

Hier ließ er sich nieder, und zwar mit einer so ruhigen Selbstverständlichkeit, daß die Herrin des Hauses daran erstarrte. Es wäre ihr lieber gewesen: er hätte aufbegehrt und seinen Worten durch Aufschlagen des geschälten Stockes den gehörigen Nachdruck gegeben. Aber nichts von dem geschah. Er sprach nicht und rührte sich nicht, muffelte nur still vor sich hin und sah aus wie eine aus dem Wasser gezogene Ratte. Unter seinen Schuhen bildete sich eine ovale Lache, die langsam weiterkroch.

Abwartend blinzelte er in den zirpenden Lichtschein. Es schien fast, als wäre er in irgendeiner dringlichen Sache herbestellt worden und stände jetzt zur Verfügung.

Da nahm die Brinkschulte das Wort: »Ihr kommt ja, ohne davon Aufhebens zu machen. Selbst das Vieh brüllte nicht auf.«

»Schon richtig,« versetzte der Alte, »es hatte Angst vor dem Gewitter. Könntet aber Eure Weiber und Mannskerle besser in der Zucht haben, wenn einer den Hof betritt. So bin ich unangemeldet erschienen.«

»Alles ist draußen im Torfstich. Selbst der Hund ist draußen. Dort hat sich Ignaz verfahren.«

»Drum auch das Geschrei und Gerufe vom Moor her. Kein Wunder bei diesem infamen Geknatter. Stundenlang hat's mich unter dem wilden Birnbaum in der Asbecker Scheid zurückgehalten. Himmel, verdammmich! – aber um so besser, daß ich Euch alleine treffe.«

Er drehte den Kopf auf die Seite, damit das Regenwasser besser abträufeln konnte. Dann griff er zur Schirmmütze, legte sie vor sich hin und stülpte seine leichenfarbigen Hände darüber: »Schmeißwetter ist Schmeißwetter! – aber mit Gottes Hilfe bin ich hier untergekrochen. Gott lohn's, Brinkschulte.«

»Merci! – und was verschafft mir heute die Ehre?«

»Man hat doch ein bißchen Interesse am Hof. Zum Exempel« – und Jaspers zählte an den Fingern herunter – »ist der Hafer schon umgelegt? – ist der Weizen trocken eingebracht worden? – wie steht's mit dem Rindvieh? – wieviel Fetthämmel sind nach Dortmund verladen? – und dann Eure Gesundheit und so . . . ich meine: nichts für ungut. Man darf sich doch diese Frage erlauben?«

»Warum nicht? Es soll mir angenehm sein. Aber es ist wohl der alleinige Grund nicht.«

»Wie meint Ihr das?«

»Ihr seid doch der alte Jaspers geblieben.«

»Das bin ich, weiß der Henker, das bin ich . . .! – Aber ich versteh' nicht so recht.«

»Ganz einfach,« konstatierte sie mit erzwungener Gleichgültigkeit, »wir beide, der alte Jaspers und ich, wir haben doch so 'ne Art von Übereinkommen getroffen, und da möchte ich wissen: Ist Euch die zugedachte Rente etwa nicht prompt ausgezahlt worden?«

»Das schon, aber das mit der Rente . . . Sie scheint wacklige Beine zu haben.«

»Wieso ›wacklige Beine‹? Ich für meine Person habe meinem Rechtsbeistand zeitig Order gegeben.«

»Und ich für meine Person habe das Geld rechtzeitig erhalten.«

»Was wollt Ihr denn noch?«

Unwillig trat die Brinkschulte in den Bereich der brennenden Lampe.

»Bitte, bitte!« sagte der Alte, »meine Sache ist nicht so ohne.«

»Ja, das sieht wirklich so aus. Also was soll's mit der Rente? Um diese handelt sich's doch.«

»Na denn – sie ist mir nicht sicher.«

»Warum nicht sicher?«

»Weil sie nicht unter Brief und Siegel liegt.«

»Wer gibt? – Ihr oder ich?«

»Brinkschulte, darf ich mir noch 'ne Frage erlauben? – und wenn ich es darf, dann möchte ich wissen, ob sich die Sattelmeierkrone noch auf der nämlichen Stelle befindet.«

»Was soll das?«

»Man kennt Fälle, wo solche Dinger neu aufgemuntert werden und in Gebrauch kommen.«

»Was geht Euch die Krone der Sattelmeier an? Im übrigen – und wenn es so wäre?«

»Soll mir gleich sein, das mit der Krone . . . nur, wenn es dazu kommen sollte, dann hätte ich auch ein Wörtchen zu reden.«

»Ihr?« fragte sie heiser.

»Aber natürlich! – und im vorliegenden Fall: da erzählen sie viel von dem zugelaufenen Schmiedegesellen in Sönnern.«

»Wenn Ihr darunter Heinrich Tillbeck versteht . . .«

»Ja, Madam, den versteh' ich darunter.«

»Dann dürftet Ihr nicht so unrecht haben.«

»Also doch . . .

Der Alte kicherte vor sich hin und ließ sich in den Stuhlsitz zurückfallen: »Da soll mir einer kommen und sagen, es passiert nichts Neues zwischen Lippe und Ruhr! – Da springen ja die muntersten Dinge aus dem Narrenkasten 'raus.«

Dabei schlug er lustig mit der nassen Schirmmütze auf den Tisch, daß die Spritzer umherflogen, und kicherte weiter. Aber in diesem Gekicher steckte es wie von blanken Messerchen.

»So, so, so!« kaute er jetzt zwischen den Zähnen. »Also der Heinrich Tillbeck aus Sönnern, dem braven Jans Stedink sein neues Faktotum! Gratuliere. Jedenfalls ist die Sache äußerst fidel, und ich für meine Person habe gar nichts dagegen. Absolut gar nichts, Madam. Mag sich der Tillbeck hier eintun und sich als Herr auf dem alten Erbsälzerboden fühlen, nur« – und er drückte den Zeigefinger der rechten Hand auf den Tisch – »hinsichtlich meiner Person hat es beim alten zu bleiben. Man kann alles nicht wissen. Neue Herren, neue Ideen – und da kann es immer passieren, daß es dem Mannskerl von der Paderbörnschen Senne einfällt, mich auszuklinken und zum alten Eisen zu werfen. Gibt's nicht, Brinkschulte, unter keiner Bedingung, und daher will ich mein Darlehn festgelegt wissen, egal ob hypothekarisch oder sonstwie, aber festgelegt soll es werden und das auf Leben und Sterben.«

Die Brinkschulte sah ihm ins Gesicht

»Das wäre noch schöner!« lachte sie höhnisch auf. »Wo ich aus freien Stücken gebe, und hinreichend gebe, da will mir einer noch Vorschriften machen!«

»Man sachte, immer man sachte!« suchte Jaspers einzulenken, indem er die Seidenmütze über den grindigen Marabuschädel stülpte und sie dann wieder auf den Tisch knallte, »es kann ja in aller Güte geordnet werden.«

»Wieso in Güte geordnet werden?«

»Ich denke, so ganz still unter uns. Es braucht ja nicht unter die Menschen zu kommen.«

»Da kennt Ihr die Brinkschulte schlecht. Ich habe das Licht des Tages und die Menschen nicht zu scheuen – und will sie nicht scheuen.«

Der Alte stieß ein kurzes Pfeifen aus. Die Messerchen wurden blanker.

»Also unter keiner Bedingung?«

»Unter keiner Bedingung.«

»Und Ihr weigert Euch somit, meine Angelegenheit hypothekarisch sicherzustellen?«

»Ja.«

»Oder etwas auf Leben und Sterben zu machen?«

»Auch das.«

»Und denkt nicht daran, mich sonstwie schadlos zu halten?«

»Auch das nicht.«

»Brinkschulte . . .

»Ich gebe aus freien Stücken, solange es mir zusagt, aber verpflichte mich zu keinem Heller und Pfennig.«

»Ist das Euer letztes Wort?«

»Mein letztes.«

»Gut!« sagte Jaspers, und seine Stimme sprang in die Fistel hinein, »jetzt stelle ich die doppelte Forderung – in diesem Augenblick die doppelte Forderung. Greift zu! – die nächste Minute könnte Euch gereuen.«

Die Brinkschulte horchte auf. Das fehlte gerade. Und dennoch – mochte jetzt kommen, was wollte; sie hatte schon das Ärgste erduldet. Was sie immer vermutet hatte, wurde ihr in diesem Augenblick zur Gewißheit: der Mensch hielt zwei Eisen im Feuer. Damals die Geschichte mit ihrem Vater und jetzt . . .

Ekel stieg in ihr auf.

»Noch ein Wort,« sagte sie herrisch, »und dort ist die Tür.«

Der Alte knüllte die Mütze zusammen.

»Kein Zweifel, Ihr habt Kurasch in den Knochen.«

»Weil ich keinen zu fürchten habe.«

»Auch mich nicht?«

»Furcht! – Euch gegenüber? – Warum denn?«

»Auch dann nicht, wenn ich Euch sage . . .«

»Was Ihr zu sagen habt, sagt denen in Dortmund, Euren Kumpanen, Euren Freiheitshelden.«

»Pah! – denen in Dortmund?! Kreuzhimmel, verdammich! – mit solchen Kerlen hab' ich überhaupt nichts mehr zu schaffen. So'n Pack ist noch nicht reif für die Freiheitsideen. Aber das kommt noch, und mir soll ein Kirchenlicht auf der Seele verbrennen, wenn es nicht kommt und das Volk mir aus der Hand frißt, wie Ihr mir aus der Hand fressen werdet. – Brinkschulte, seht mal . . .«

Langsam, fast feierlich hob er die rechte Hand zur Decke und ballte sie ein.

»Brinkschulte, Erbsälzerin, du aus dem Sattelmeiergeschlecht! – sieh mal, aber sieh genau zu. – Hier halt' ich's! – Jetzt sechstausend Taler auf Leben und Sterben! – Gibst du sie, dann ersäuf' ich, was ich hier halte, wie 'ne Katze im Dorfteich. Blase es aus, ein Licht am Tag Allerseelen, wenn der Wind es auspustet. Wenn nicht« – und Jaspers streckte alle fünf Finger – »fliegen soll's mit den Krähen, die über das Land streichen und den westlichen Himmel annehmen.«

Die Augen sprangen ihm aus den Höhlen heraus. Die Messerchen blinkten jetzt wie haarscharfe Rasiermesser.

Sie stand regungslos. Hoheit umgab sie. Dann wandte sie sich und machte Miene, den Alten allein zu lassen.

Aber dieser vertrat ihr den Weg: »Jetzt Halbpart; drunter tu' ich's nicht mehr – und dieserhalb leg' ich die Hand auf den Brinkschultenhof.«

»Laßt Euch auslachen, Mann . . .«

»Also Ihr wollt nicht! – gut denn, und daher: über das mit der Bodenluke und Karl Mersmann – Schwamm über die Sache. Aber das andere . . .«

Er tippte sie an.

»Keine Berührung!« sagte sie eisig.

»Es geht auch ohne das. Ich will nur eine kurze Andeutung machen. Sieht nicht ein böses Ding in Eure Träume hinein?«

»Was sollte in meine Träume hineinsehn?«

»Entweder Ihr habt ein schwaches Gedächtnis oder wollt es nicht wissen. Ich werde daher nachhelfen müssen. Ihr erinnert Euch doch des furchtbaren Sonntags?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Damals war also etwas vorgefallen zwischen Euch und Karl Mersmann?«

»Ich bin keinem Rechenschaft schuldig.«

»Das weiß ich; aber mein Bruder ist darüber so halber zum Mörder geworden. Kopf oben – das hat er behalten, stur wie immer und gefühllos wie eine eschene Wagenrunge . . . Fünf Monate später seid Ihr heimlich fortgeschafft worden. Es hieß: Ihr wäret leidend gewesen. Eure Gesundheit bedürfe der Erholung.«

»So war es.«

»Und so kamt Ihr ins Lippische zu Verwandten. Ich glaube, sie wohnten in Engern.«

»Ja, sie wohnten in Engern.«

»Und dort habt Ihr dann Eure Gesundheit wiedergefunden?«

»Auch das.«

»War Eure Mutter damals schon tot oder war sie noch nicht tot?«

»Sie war schon gestorben.«

»Gut, daß sie tot war, sonst hätte sie sich als hagenfreie Sattelmeierin nicht auf ihr Sterben freuen können.«

Die Brinkschulte griff hinter sich, um Halt zu gewinnen: »Jesus, mein Christus, was bedeutet das alles?!«

Wie vor einem Gespenst schritt sie rückwärts, bis sie zur Dielenschwelle kam. Dort lehnte sie sich an den Pfosten, wo sich vor Wochen das Beil des Spökenkiekers eingefressen hatte.

Jaspers drängte nach.

»Das bedeutet, Brinkschulte . . . Seid Ihr nicht damals, als Ihr Eurer Gesundheit wegen ins Lippische mußtet, schweren Fußes gegangen? Nennen wir also die Dinge bei ihrem richtigen Namen, und sehen wir zu, die Sache ins gleiche zu bringen.«

Er sprach mit einer zuversichtlichen Überlegung, die aber nichts von Schärfe an sich hatte.

Mit um so größerem Entsetzen starrte sie in das Gesicht ihres Peinigers, das immer wohlwollender und zufriedener wurde.

»Nur keine Sorge, Brinkschulte. Das weiß keiner, niemand, keine menschliche Seele. Das ist so, als habe es der Wind über die Stoppeln geblasen. Nur ich . . . für alle möglichen Fälle: ich habe nicht auf den Ohren gesessen, und die Schwalbe des seligen Tobias hat mir nicht in die Augen geschweinigelt . . . Nur für alle möglichen Fälle . . . Und so ein Fall ist jetzt da . . . Und wenn Ihr Beweise haben wollt . . .«

Er griff mit langsamen Fingern in die Brusttasche und suchte dort gemächlich herum nach einem Papier.

Jetzt knisterte es; jetzt wurde es mit einem stillen Behagen und in aller Form auseinander gefaltet.

»Nur der Erinnerung wegen . . .« sagte er hierauf. »Eine beglaubigte Abschrift aus dem Kirchenbuche zu Engern.« Dann las er: »Anna Josepha Brinkschulte, geboren am 24. März, gestorben zwei Tage später, nachdem sie kurz zuvor die Nottaufe erhalten. Gott sei dem Armseelchen barmherzig.«

Das war alles. Sonst nichts, aber es zog dem gequälten Weib einen dunklen Flor vor die Augen und läutete ihm ein fernes Sterbeglöckchen.

Der Alte hüstelte kurz auf.

»Drei Monate später kamt Ihr nach Dorsten.«

Kein Sterbeglöckchen mehr! Eine gewaltige Totenglocke wurde geläutet – dumpf, schwer, ohne Aufhören, ohne Erbarmen . . . Die läutete ein Menschenglück und eine erwürgte Menschenehre zu Grabe – und in diese traurigen Glockenschläge hinein . . .

»Tot ist tot!« sagte der Alte, aber seine Stimme hatte eine andere Färbung, war grell und schneidend geworden und übertönte die dumpfen Schläge der fürchterlichen Glocke. »Tot ist tot! – aber die sakermentsche Geschichte bleibt dennoch bestehn. Die läßt sich nicht so ohne weiters fortschwatzen. Die sitzt Euch im Nacken . . . Die kriecht und wedelt Euch nach wie ein treuer Hund . . . Die zieht Euch wie Blei unter Wasser – es sei denn . . .«

Und der Schleicher nahm eine drohende Haltung an: »Noch ist alles still, noch zeigen sie nicht auf Euch – noch nicht . . . Drum 'raus mit der Unterschrift auf Halbpart. Ich lege meine Hand auf einen Teil von Wiesen und Äckern . . . Man zu. Keine Bedenkzeit mehr – oder . . .«

Er warf die hungrigen, kalten Finger nach oben: »Prrr! – oder das Geheimnis vom Brinkschultenhof flattert auf und fliegt mit Eurer Schande, mit Eurer Heimlichkeit, mit Eurer geilen Sünde über die Soester Börde . . . und kommt zu den Menschen. Na – und denn . . .?!«

Seine Stimme lachte und gellte.

»Und wenn es so wäre . . .

Sie hatte sich wieder. Die Herrin war in ihr, die selbstbewußte, und, wenn es sein mußte, die brutale bis zum letzten Atemzuge. Josepha Brinkschulte hatte sich wieder. Ihre Schwäche fiel von ihr ab wie Bettlerkleider vom Leibe einer erlösten Königin. Und schön war sie in ihrem lodernden Zorn, in ihrer gekränkten Frauenherrlichkeit, und sie mußte sich bezwingen, um mit ihrer geballten Hand nicht in die gelben, unbarmherzigen Züge ihres Quälers zu schlagen.

»Ja – und wenn es so wäre!«

Ihre Stimme erhob sich, wurde zur Feuersäule, war eine siegreiche Flamme: »Geboren am 24. März, gestorben zwei Tage später . . . und dennoch: für Euch keinen Heller und Pfennig. Ihr habt meinen Vater zum Totschläger gemacht; macht aus mir, was Ihr wollt. Ich bin bereit, das Schlimmste auf mich zu nehmen. Und was Euch anbetrifft: wartet ab, bis mein Hab und Gut nach Eurem Evangelium aufgeteilt wird. Bis dahin aber . . . Der Brinkschultenhof bleibt hier in dieser Faust und in den Händen von Tillbeck und wird von diesem regiert . . .«

»Brinkschulte, Brinkschulte . . .

»Schweigt, denn ich habe zu sprechen. Schreit's in die Welt nur – Euer Geheimnis! Mir liegt nichts mehr dran. Und wenn sie mich anspeien, und wenn alles drunter und drüber geht, und wenn Heinrich Tillbeck sich von mir und meinem Herzen lossagt« – sie stampfte den Boden und ließ ihre Blicke in den Abend hinausgehn, über den Hof, über die Felder, über die Baumkronen – »das hier ist mein Eigen und Erbe – hier hab' ich als Kind meinen ersten Schrei getan – hier soll auch mein letzter Todesseufzer mir von den Lippen kommen, denn ich bin die Schulte vom Brinkschultenhof!«

»Du – die Schulte . . .?!«

Jaspers lachte wie ein Wahnsinniger.

»Gut denn,« gab sie zur Antwort, »wenn es dir besser gefällt: die Dirne vom Brinkschultenhof. Aber ich halt ihn.«

Lächelnd sah sie über den Alten fort. Der nahm Stock und Mütze und schwankte mit heiserem Hohngeschrei über die Schwelle. Hinter ihm polterte die Tür zu.

Die Brinkschulte sah ihm nicht einmal nach. So gleichgültig war er ihr geworden.

So war dieses das Ende.

Da ging sie hin, legte Papier und Schreibgerät unter der Lampe zurecht und setzte ihren letzten Willen auf – auf Leben und Sterben.

 


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