Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Fünfzehntes Kapitel

Ungefähr um dieselbe Zeit – also während Karl Mersmann straff und stur über den Hof ging und Juffer Eli in nervöser Hast den Faden wächste – stand Fritze Leppers vor seiner Wirtschaft ›Zum fröhlichen Anton‹ und sah mit fidelen Äugelchen die Straße entlang.

Er dachte an Simmchen Löwenthal – und schmunzelte. Der hatte sich mal gründlich verrechnet, denn was war von dessen Prophezeiung übriggeblieben? Höchstens ein paar ekelhafte Redensarten des alten Jaspers, sonst reineweg gar nichts. Ein Riesenbrand sollte entstehen, und siehe da: ein elendes Feuerchen hatte die Gegend verstänkert, um schließlich jammerselig ausgetreten zu werden. Ihm, Fritze Leppers, war es schon recht; das lungensüchtige Feuerchen hatte ihm alle Sorgen von der Seele geräuchert. Sein ›Fröhlicher Anton‹ florierte wie immer, seine ›schnäpsernen‹ Handelsartikel fanden nach wie vor ergiebigen Absatz, und keiner hatte es gewagt, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf sein ehrwürdiges Wirtshausschild zu pinseln. Was sonstwo passierte, war ihm vollständig egal, genierte ihn nicht, hatte überhaupt kein Interesse für ihn, wenn ihn nur keiner mit den Worten anrempelte: »Fritze, wir wollen Halbpart machen.« Aber das hatte noch gute Weile, kümmerte ihn nicht und brauchte ihm überhaupt kein Kopfzerbrechen zu machen, und so stand er denn mit glattrasiertem Gesicht und rosig wie ein frischgewaschenes Schweinchen vor seiner Wirtschaft und blinzelte mit fidelen Äugelchen die Straße entlang.

Pah! – die in Dortmund! – und Simmchen Löwenthal erst . . .!

Das hatte gar nichts mehr auf sich. Die Welt war so still und feierlich und ähnelte dem Gesicht des Herrn Pastors am Fronleichnamstage. Fast zu still, zu insichgekehrt, als habe der Tag Lammfellsocken übergezogen und säße mit einer baumwollenen Nachtmütze im Lehnstuhl.

Das bedrückte Leppers in etwa.

Merkwürdig! – es war heute so komisch in Sönnern. Was die Leute nur haben mochten? Die eigenartige Stimmung in der Natur, das Wetterbrauen und Schwelen in der Luft, das rußige Licht, das breithingelagert am tiefen Horizont stand, alles das konnte die langlebige Öde, die über Sönnern gekommen war, allein nicht veranlaßt haben. Fast niemand ließ sich auf der Straße blicken. Keiner hantierte; auch drüben die Schmiede hatte ihren Atem verloren.

Sonst war hier alles Leben und Emsigkeit. Nur heute nicht. Kein Feilen und Bolzenvernieten, kein feines Gepinke und keine Hammerschläge, die oftmals Töne hervorzauberten, als würde die prächtige Angelusglocke in der Kirche ›Maria zur Wiesen‹ geläutet. Das Feuer schien auf der Esse erloschen zu sein, und die Arbeit setzte sich ans Fenster, legte die Hände zusammen und sah auf die Straße hinaus.

Und was noch seltsamer war! – vor einer kleinen Stunde war Jans Stedink mit seinem ersten Gesellen über die Schwelle getreten, beide im Sonntagsrock, beide festtägig gestimmt. And Jans Stedink hatte auf Tillbeck eingeredet, bedächtig und langsam – wohl eine Viertelstunde hindurch. Dann war Tillbeck landeinwärts gegangen und hatte den Weg eingeschlagen, der über verschiedene Kirchspiele und Bauernschaften nach Soest führte. Dabei war das Gelände des Brinkschultenhofes zu passieren. Jans Stedink hatte ihm mit leuchtenden Augen nachgeschaut, hatte etliche Male seinen prächtigen Vollbart mit den Fingern gekämmt und war dann also kämmend wieder ins Haus getreten, ohne auf eine diesbezügliche Anfrage auch nur eine halbwegs befriedigende Antwort zu geben.

Na, ihm, Fritze Leppers, konnte die Heimlichtuerei der beiden völlig gleichgültig bleiben, wenn sie ihm nur sein eigenes Behagen und seine eigene Seligkeit ließen . . .. und das taten sie auch, und darum und deshalb . . . Aber Kreuzkuckuck noch mal . . .! – plötzlich machte er ein verflixtes Gesicht, und seine Schrotkügelchen, die bislang noch zufrieden aus seinem fetten Kinderantlitz geleuchtet hatten, schielten jetzt bedenklich zur Seite, denn jemand kam um die Ecke herum, der so recht nicht in seine gemütliche Stimmung hineinpaßte – unversehens und gleichsam aus der Pistole geschossen.

Fritze Leppers überlegte denn auch nicht lange und gedachte, seine behäbige Person mit einer unauffälligen, aber gewandten Drehung in seinen ›Fröhlichen Anton‹ verschwinden zu lassen.

Es war zu spät.

Die Zwinge eines Stockes tippte ihn auf die Schulter, und die Hand, die diesen Stock regierte, war fahl und eingetrocknet wie Dörrfleisch.

Da konnte Fritze nicht anders; er mußte sich fügen, machte also Kehrt und hatte die Ehre, den alten Jaspers vor sich zu sehen.

»Auch mal wieder in Sönnern?« fragte er kurz angebunden, vigilierte aber die Straße auf und nieder, denn es wäre ihm peinlich gewesen, mit diesem gesehen zu werden.

»Zu dienen,« gab Jaspers zurück, »und wenn es Euch keine Molesten macht, dann hätte ich so'n kleines Wörtchen mit Euch zu reden.«

Da nahm der Besitzer des ›Fröhlichen Anton‹ seine ganze Forsche zusammen und meinte: »Hakt es etwa mit Dortmund zusammen, dann unter keiner Bedingung; habt Ihr aber sonst was zu fragen, dann, bitte, Entree.«

»Na, denn Entree,« sagte der Alte, betrat die Wirtsstube und ließ sich einen doppelten Korn mit Kandiszucker anpräsentieren. Dabei knallte er einen harten Taler auf den Tisch.

»Wir haben wieder ›Puttputt‹ im Sack,« konstatierte er mit sichtlichem Wohlbehagen, griff in die Tasche und ließ noch eine Portion ähnlicher Geldstücke gegeneinander klimpern.

Fritze Leppers horchte auf. Das gefiel ihm. Wer über Geld zu verfügen hatte und etwas im ›Fröhlichen Anton‹ verzehrte, der konnte Respekt beanspruchen. Drum ließ er auch sein zugeknöpftes Wesen beiseite, suchte behutsam einzulenken und meinte: »Nichts für ungut, Jaspers, aber Ihr müßt selber wissen: aus Eurem Renommee läuft pieplings der Wurmsamen 'raus – und ich habe doch mit meiner Wirtschaft zu rechnen.«

»Weiß ich,« bestätigte Jaspers und löffelte etliche Zuckerstückchen aus seinem Schnapsglas, »laßt ihn man laufen.«

»Aber hier dichte bei wohnt Jans Stedink. Der Mann kann keine neuen Ideen vertragen. Und offen geredet: wenn Ihr mit Eurem Dortmunder Evangelium wieder herumhausiert, dann kann ein Unglück passieren.«

»Ich hab' kein Evangelium mehr. Hab's zum alten Eisen gepfeffert.«

»So?« fragte Leppers.

Der Alte reckte den Marabukopf aus den Schultern.

»Zu dienen, reineweg zum alten Eisen gepfeffert. Warum auch nicht? Wem nicht zu raten ist, der kann auch keine Seide nicht spinnen. Das besorgen die Fetten. Die Schlote haben wieder Dampf aufgemacht, und die Kohlenprotzen lachen ins Fäustchen. Wenn das Stimmvieh seinen Himmel nicht will – ich kann ihm nicht helfen. Man kann den dämlichen Kerls doch nicht die Vernunft mit Gewalt unter den Schädel trommeln, noch weniger sie wie die kranken Kälber behandeln, denen man die Medizin in den Hals gießt. So'n Pack ist noch nicht reif für die neumodischen Freiheitskaramellen. Mögen sie selber ihren Mistus besorgen. Ich für meine Person muß vorläufig danken. Und außerdem: ich bin unter die Rentiers gegangen. Hier sitzen die Musikanten – Musikanten vom Brinkschultenhof. Nur – sie blasen was dünn. Die Kapelle muß noch reichhaltiger werden. Die doppelte Portion. Das könnte meinen alten Kadaver so'n bißchen aufmuntern. Prost, Leppers! – Nee – ich bin aus einem andern Grunde gekommen.«

»So?!« fragte Leppers, atmete befreit auf und gönnte sich selber ein vollgestrichenes Gläschen.

»Ich darf also antippen?«

»Ja, tippen Sie man.«

»Schön!« sagte der Alte und schaukelte mit dem linken Fuß auf und nieder, »ich meine, Leppers, dem Rektor ist heute nicht beizukommen; er predigt im Lande herum, und da möchte ich Euch fragen: Ist noch immer der dicknäsige Tillbeck im Kirchspiel?«

»Ist hier.«

»Also derselbe, der aus dem Paderbörnschen stammt?«

»Ganz richtig. Von der Senne dahinten.«

»Und ist noch immer bei Jans Stedink in Kondition?«

»Ja, als erster Geselle.«

»Dann stimmt auch wohl, was hier so herum erzählt wird – aber man heimlich?«

»Schon möglich.«

»Ich meine das mit der Brinkschulte, Leppers.«

»Wenn Ihr denn klaren Wein in die Buddel wollt . . . Der Kerl hat Rasse im Leib und kann schon mit 'nem rassigen Weibsbild was aufstellen.«

»Kein Wort mehr!« krähte der Alte und fuhr in die Höhe, »dann käme also der Brinkschultenhof . . .«

Mit einem raschen Griff hatte er seinen geschälten Dorn fester gepackt und auf den Tisch fallen lassen.

»Merci! – Ihr habt noch Kurasch, mir offen und ehrlich ein Feuerchen unter der Nase abzubrennen. Während die andern . . . allesamt Dämels! Haben das Maul voller Zähne, aber keine Antwort darin. Ihr aber, Leppers . . . nochmals merci für prompte Bedienung. Adjüs denn.«

Er reichte ihm die Hand.

»Ihr wollt also noch weiter?«

»Ja, ich habe noch weiter zu machen.«

»Zum Brinkschultenhof?«

»Hm!« meinte Jaspers, »ich weiß nicht und muß erst klar drüber werden. Die Musikanten verlangen Aufgeld, sonst bleibt es ein mageres Tuten. Mal sehn, was wird; aber das weiß ich: Brinkschultenland kommt nicht in fremde Hand! – wenigstens jetzt nicht, zur Zeit nicht . . . oder: doppelte Portion und fettere Brotschnitten für mich. Eher noch wird dem hochfahrigen Weib die fromme Maske von der Visage gerissen.«

Er schnappte nach Atem: »Himmel, verdammich! – dreimal von der Visage gerissen. Adjüs, Leppers.«

Damit zog er seine seidene Schirmmütze über und verließ den ›Fröhlichen Anton‹.

Fritze Leppers stand da wie ein begossener Pudel. Er kam sich ausgefragt vor. Hatte er irgend etwas Dummes geredet und dem umgefallenen Vertreter von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit Wasser auf die Mühle getragen? Er wußte es selbst nicht. Seine Schrotkügelchen nahmen einen florigen Glanz an. Wenn Jans Stedink dahinter käme! Kreuzkuckuck nochmal! – der war fähig, ihm einen Konkurrenzknüppel zwischen die Beine zu werfen und die Wirtschaft ›Zum westfälischen Landmann‹ gegen seinen ›Fröhlichen Anton‹ auszuspielen. Warum hatte er auch das Maul nicht gehalten?

Profit hatte er sowieso nicht von dem Amerikafahrer, und wenn's schlimm kam, mußte er, Fritze Leppers, noch vor sein politisches Glaubensbekenntnis treten. Ungemütlich lief es ihm den Nacken herunter.

Er besah sich die rechte Hand. Sie kam ihm merkwürdig kalt vor. Ganz richtig: da hatte vorhin die des alten Jaspers gelegen, frostig und ohne Leben, und da war ihm so, als hielte er noch immer tote Mäuse zwischen den Fingern.

Ekelerregend stieg es in ihm auf.

»Pfui Has'!« sagte er betreten und streifte die kalten, toten Mäuse von den Fingern herunter.

Dann ging er hin und stärkte sich mit einem doppelten Münsterländer.

Draußen stand wieder Jans Stedink in seinem Sonntagsrock vor der Haustür, groß und ruhig und mit fließendem Vollbart, insichgekehrt und selbstbewußt wie Saul aus dem Stamme Benjamin oder wie ein assyrischer König.

Es passierte nicht oft, daß er sich an Werktagen seines schwarzen Düffelrockes mit den polierten Hornknöpfen bediente. Nur bei besonderen Gelegenheiten geschah es, mochten diese freudiger oder trauriger Art sein, und dann: wenn er selber feierlich gestimmt war.

Das war heute der Fall.

Seit einer Stunde hatte ihn Heinrich Tillbeck verlassen. Er war über Land gegangen in wichtiger Mission. In zwei bis drei Stunden konnte er zurück sein.

Darauf wartete Jans Stedink, groß und würdig und in seinem schwarzen Düffelrock mit den polierten Hornknöpfen.

Da schnürte sich Jaspers vorüber und faßte seinen Hagedorn fester.

Allein Jans Stedink sah über ihn fort. Ebenso verächtlich blickte Saul über die Amalekiter hin, als er sie im weiten Blachfeld geschlagen hatte mit der Schärfe des Schwertes.

»Der kommt zu spät,« sagte er ruhig und sah den Schwalben nach, die ängstlich hin und her schossen und niedrigen Flug hatten. –

So war das in Sönnern . . . und draußen auf dem Brinkschultenhof . . .?

Juffer Eli hatte keinen Sinn für die Außenwelt mehr. Sie wächste noch immer; mechanisch, immer dasselbe und den Faden mit leisem Seufzen über die honiggelbe Masse fortziehend, während die Brinkschulte am Fenster saß und mit zusammengelegten Händen auf die Schritte des Spökenkiekers horchte, bis sie sich jenseits der großen Scheune verloren.

Zwischen Himmel und Erde hatte sich nicht vieles verändert. Es war eher sichtiger denn dunkler geworden. Ein langer, milchweißer Streifen hatte sich hinter die Eichenkronen geschoben.

Dort hinein sah die Brinkschulte.

Beim Anblick dieses weißen Lichtes kam eine selige Hoffnung über sie. Es war eine große und feiertägige Hoffnung, und da wußte sie: ihr Dasein war bis jetzt ohne Kern und Inhalt gewesen. Sie durfte sich nicht mehr schlafen legen ohne Erfüllung und nicht mehr aufwachen, ohne sagen zu können: Ich bin glücklich geworden. Sie war wie ein Blumenkelch, der sich dem Licht und dem Leben zukehrte, und ihre Gedanken waren wie Sabbatklänge auf weiter, blühender Heide.

Das monotone Wächsen und das gemessene Ziehen des Fadens störte sie.

Sie wandte sich.

»Was treibt Ihr?« fragte sie unwillig.

»Ich wächse,« erwiderte Eli, ohne in ihrer Beschäftigung innezuhalten.

»Das weiß ich; aber was bezweckt Ihr damit?«

»Es ist so'ne alte Angewohnheit von mir. Schöne Gedanken kommen bei's Wächsen, und dann: ich muß noch vor Abend über's Torfmoor und über den Hellweg, und wenn man dann so 'nen gewächsten Faden bei sich hat . . .«

Sie unterbrach sich plötzlich, rollte den Faden zusammen und steckte ihn zu sich.

»Spökenkiekerei!« fiel die Brinkschulte unwirsch ein. »Eli, Ihr solltet Euch schämen. Ihr seid ja abergläubischer und leiger als der unwiese Kardel.«

»Jeja, das mit dem Kardel!« lächelte Eli still und bedächtig vor sich hin. »Man kann alles nicht wissen. Den kennt keiner aus – hat noch keiner ausgekannt – und wird auch keiner niemals nicht auskennen. Der tut man so dösig und amüsiert sich damit, den Übersinnigen zu spielen, sieht aber durch zöllige Eichenbretter hindurch und weiß mehr als die gewöhnlichen Menschen. Whipp! – und dann, Brinkschulte: was ist der Kardel früher für'n Kavalier von Jüngling gewesen! Ordentlich mit 'nem richtigen Awek in seiner ganzen Verfassung; gerade so wie Tillbeck aus Sönnern. Und wenn er durchs Dorf ging oder die angrenzenden Kirchspiele besuchte – na, ich sage man bloß: so'n Brustkasten – so 'ne Arme, um Liebe zu geben und Liebe an sich zu reißen – und so'n Untergestell! Ich seh ihn noch heute so, und ich will nicht Eli Distelkamp heißen, wenn es nicht wahr ist. Haare wie Roggenstroh und Augen, als wären sie unter der Knopfgabel gewesen! Alle Weiber waren vernarrt in den Kardel – ohne Ausnahme – von Sönnern bis nach Budberg und Holtum herunter. Selbst die von Hexen-Gesecke machten verliebte Gesichter. Aber dann kam das Malör über ihn, denn seitdem er bei Eurem Vater selig aus der Bodenluke gefallen ist . . .«

Die Brinkschulte erhob sich.

Ihr Gesicht flammte auf bis zu den Haarwurzeln.

»Eli,« sagte sie mit herbem Anflug in der Stimme, »das sind alte Geschichten.«

»Wenn auch,« entgegnete die Nähterin und warf einen schiefen Blick auf die Herrin des Brinkschultenhofes, die sich alle Mühe gab, ihre innere Erregung niederzuzwingen, »oder – ich meine man so – ist er nicht aus der Bodenluke gefallen?«

»Eli!«

Wie Wetterleuchten fiel es über die Angerufene her. Sie fühlte die Gewalt des stolzen Weibes, das neben ihr stand und ihr gebot, vergangene Zeiten schlafen zu lassen. Was so lange unter den Sparren des alten Hofes geruht hatte, sollte nicht aufgeweckt werden, war tot für die Welt; mit dem hatten die Menschen nichts mehr zu schaffen. Die Türe des ganzen Anwesens stand für jedermann offen. Aber was zwischen den Pfählen passierte, das durfte nicht über die Schwelle. Das verfiel den vier Wänden. So war es von jeher gehalten worden, ohne Ausnahme, und ebenso hielt es die jetzige Herrin. Das wußte auch Eli. Sie fügte sich scheinbar den harten Blicken, die über ihr waren, und dennoch – gerade heute zuckte es ihr in den Fingern, und unwiderstehlich drängte es sie, mehr zu erfahren und einen raschen Blick hinter die Gardine des Brinkschultenhofes zu werfen. Sie dachte an eine arme Seele, die eine Eisenkugel hinter sich herschleppte. Und diese arme Seele stand neben ihr. Was sich zwischen dieser und Karl Mersmann früher begeben hatte, das wußte niemand zu sagen. Auch sie nicht. Sie wußte nur, was sie sah, und sie sah, daß es die Brinkschulte von jeher ängstlich vermied, den Gottestropf allein und unter vier Augen zu sprechen. Sie sorgte für ihn mit aufopfernder Hingabe, aber es war eine erzwungene Sorge. Kein Zweifel: sie hätte ihn gern in andermanns Pflege gegeben, in berufene Hände, und dennoch scheute sie sich, ihm die Wohltat des Hofes zu nehmen. Etwas aus verklungenen Tagen stand zwischen ihnen. Trotzdem fühlte Eli heraus: hier war ein Geheimnis, hier spannen sich unsichtbare Fäden, die die beiden miteinander verbanden und doch nicht verbanden. Liebe war es nicht, oder wenigstens nicht das, was die Menschen Liebe nennen. Höchstens war es eine Liebe gewesen, die den Weg zur Freiheit nicht finden konnte – eine schuldige Liebe. In jedem Falle war Schuld da, die sich aufreckte, um wieder zusammenzufallen . . .

Sie verfolgte ihre Betrachtung nicht weiter und sagte denn auch, wobei ihre Hände verlegen über das knitterige Leinenzeug hinwegglitten: »Um Gott nicht! – es ist ja wohl von mir 'ne dämliche Frage gewesen. Aber man kann das Mitleid doch nicht so einfach aus seiner Besinnung 'rauskomplimentieren. Und daß ich's man sage . . . Kardel ist nu mal wie so'n kranker Leisetreter zu Euch, dem man gerne 'nen Schubs geben möchte, daß er ins Wasser hineintorkelt, um der ewigen Seligkeit teilhaftig zu werden. Das ist so meine aufrichtige Meinung. Immer bei Euch – immer um Euch – immer so, als wäre er aus dem Boden gewachsen . . . Man kriegt ja zuviel bei der Sache, und die Leute erzählen . . .«

Ihr Handgelenk wurde umspannt.

Die Brinkschulte war dicht an ihre Seite getreten.

»Eli, nun habe ich es aber satt und genug. Wenn Ihr meine Kundschaft nicht verlieren wollt, dann laßt das Geschwatze.«

»Aber, Brinkschulte . . .

»Eli, kein Wort mehr!«

Damit war für sie die Sache abgetan – für jetzt und immer, und ihre Blicke liefen gleichgültig die eingedunkelte Diele entlang, wo sich behutsame Schritte vernehmen ließen – und diese Schritte brachten Emanuel Wimke über die Türschwelle, großartig wie immer und mit einem Gesicht, als habe er einen Herzogsmantel zu vergeben.

»Mit Ihrem gütigen Wollbenehmen verbleibe ich Ihr gehorsamster Diener.«

Dabei präsentierte er sich mit einer Verbeugung, die aussah, als wäre sie zwischen den schlappen Zeltwänden irgendeines Kasperletheaters gewachsen.

Die Brinkschulte sah über ihn fort.

»Seid Ihr fertig geworden?« fragte sie, kaum bei der Sache.

»Mit Ihrem gütigen Wollbenehmen, zu dienen.«

»Und alles ist glücklich verlaufen? Man hat schon Fälle erlebt, wo der Bauer das Nachsehn hatte.«

»Aber ich bitte Ihnen, Madam!« lächelte Wimke, halb mitleidig, halb mit der Geste eines ausgepfiffenen Komödianten. »Mir – und nicht glücken! – wo ich selbst auf die nobelsten Etablissements herumoperiere! Da muß ich aber doch ergebenst ersuchen. Gegen mir sind alle Viehdökters nicht für voll zu betrachten. Nur wenn ich bitten darf: warme Kleie und Ruhe.«

»Soll besorgt werden.«

»Schön!« sagte Wimke. »Außerdem halte ich mich empfohlen für alle zunächst kommenden Fälle. Madam – ihr gehorsamster Diener.«

»Noch auf ein Wort. Was versteht Ihr unter ›zunächst kommende Fälle‹?«

»Allens!« konstatierte Emanuel Wimke, jetzt in seinem richtigen Fahrwasser, schob den rechten Fuß vor und zählte mit einer tragikomischen Grandezza an den Fingern herunter: »Hochzeit, Kindtaufe, Todesfall . . .! Per primus aber die Hochzeit. Als Hochzeitsbitter proposuier' ich Ihnen die feinsten Gedichte. Mit oder ohne ›Riemsels‹, je nach Bekömmnis.«

»Was für 'ne Hochzeit denn?« fragte die Brinkschulte.

»Aber ich bitte Ihnen, Madam! – wo's die Spatzen von den Dächern pfeifen und die ganz kleinen Kinderchens schon mit Steinen danach schmeißen . . .

Heiß stieg es in ihr auf. Das Blut hämmerte ihr erregt gegen die Schläfen.

»Machen Sie keine Dummheiten, Wimke. Bleiben Sie mir mit Ihren Geschichten vom Leibe. Die gehören nicht in den Ernst und die Ruhe des Brinkschultenhofes. Was wollen Sie überhaupt und wonach wird mit Steinen geschmissen?«

»Mit Ihrem gütigen Wollbenehmen – nach Hinrich Tillbeck und Ihnen. Ganz Sönnern läuft davon über wie das Ölkrüglein der Witwe von Sarepta. Sie haben Ihnen entdeckt – sie sind enthüllt – sie stehn entblößt vor uns. Sie und der Hinrich, zur Anfeuerung für die jüngere Generation. Und daher halte ich mir als Hochzeitsbitter mit's Gedichtchen empfohlen. Wenn Musieke dabei – und die müssen Sie haben – fünf preußische Taler Unkosten extra. Und dann wird Hochzeit gemacht, aber mit allen Klarnetten. Die Invitierung ist bei mir schon fix und fertig im Kopfe. Lauter Riemsels! So um Martini 'rum kann es losgehn. Brinkschulte, passen Sie Achtung . . .

Die letzten Worte hatte Wimke mit einer wiegenden Bewegung der Beine und des Unterkörpers begleitet. Dann verfiel er in einen getragenen Bummelschottisch. In feierlicher Rückwärtsbewegung tanzte er der Türe zu, über die Schwelle hinaus, in das geheimnisvolle Zwielicht der Diele hinein, immer die Blicke auf die Brinkschulte gerichtet und in einen Lirumlarumlöffelstil verfallend. Und also sprach er und sang er:

»Dann eßt ihr mich,
Dann trinkt ihr mich
Und stippt ihr in den Kaffee mich,
Dann singt ihr alle ›Trialo‹
Bei Langkork, Warmbier und Burdo.
Und abends, wie das Mode ist,
Da wird die schöne Braut vermißt.
Der Hinrich, der ist auch nicht dumm,
Der sieht sich erst verwundert um,
Und dann, mit Zieren und vor Tag,
Springt er dem lieben Bräutchen nach.
Marjo! – wie immer es geschah –
Dann geht die Musik ›Trullala‹,
He hoppla, heißa, hopsassa!
Dann geht die Musik ›Trullala‹.

Und was ich noch sagen wollte: alle drei Stunden warme Kleie und Ruhe.«

Damit hatte Emanuel Wimke seine Mission ausgerichtet und trabte wieder nach Sönnern.

Ein tiefes Schweigen folgte.

Juffer Eli saß wie versteinert, aber innerlich gehoben und glücklich zwischen ihrem bauschigen Leinenzeug. Die herbe Zurechtweisung von eben hatte sie kurzerhand unter den Tisch fallen lassen. Sie war nicht nachträgerisch. Juffer Eli konnte vergessen. Dafür erging sie sich in vergangenen Tagen. Emanuel Wimke hatte zersprungene Saiten ins Klingen gerufen. Das hätte sie auch haben können, ebensogut haben können wie die, die mit hochgehender Brust neben ihr stand und scheinbar die Perpendikelschläge zählte, die gleichmäßig von der Diele herübertönten.

Sie dachte dabei an ihre dreifache Brautzeit, ohne dabei altjüngferlich und bitter zu werden.

Da zerriß die Brinkschulte das Schweigen mit einem höhnischen Lachen.

Es war ein gequältes Lachen.

»So'n Peijatz von Siesemännchen! – so'n Barbier und Ferkelschneider . . .

»Aber der Spargitzenmacher hat recht,« sagte Eli.

»Was hat er?«

»Recht hat er,« versicherte Eli und klopfte dabei dreimal mit ihrem Fingerhut gegen die Tischkante. »Außerdem: mir jucken die Finger, und hier der gewächste Faden, der zieht so.«

»Was wollt Ihr nur immer mit Eurem gewächsten Faden?« ereiferte sich die Brinkschulte. Sie sagte es, um ihre Verlegenheit zu verbergen und auf andere Gedanken zu kommen.

»Jeja!« meinte Eli so ganz versonnen heraus, netzte ihre Fingerspitzen und fuhr sich damit über ihre flachgescheitelten Haare. »Wie das so ist! – denn wenn einer so zwischen Dämmer und Düster noch übers Moor will – und so'n Gewitter schwalkt drüber hin – und man hat so 'nen gewächsten Zwirn in der Tasche, dann laß sie man kommen: das Homännchen und die andern alle . . . Und wenn es dann quiekt und rummelt mang die Binsen – und dann noch die Jungfer Scholastika mit 'nem grünen Hütchen und 'ner Haspel am Weg sitzt und haspelt – whipp! – und wenn dann der Heidemann lebendig wird . . . Brinkschulte!« – und Juffer Eli begann mit floriger Stimme weiter zu sprechen – »das ist so vor zwei Jahren gewesen. Draußen war so'n eigentümliches Schmeißwetter wie heute und streckte auch fünf Finger nach oben – da mache ich mit Settchen Thormanns übers Moor nach Schulte Gerling sein Anwesen zu. And als wir so gehen – ich mit, sie ohne den Zwirn – da kommt uns so'n kleines Kerlchen im Mantel entgegen. Das lacht man und schreit man, nimmt Settchen um die Mantille und drückt ihr 'nen kalten Kuß in den Nacken . . . Und dann . . .«

Juffer Eli ließ gottergeben ihre Hände in den Schoß sinken.

»Vier Wochen später,« ergänzte sie tonlos, »wurde Settchen Thormanns begraben; purweg begraben. Und wenn Ihr fragt, wer sie um die Mantille gefaßt hat, so kann ich nur sagen: es ist der Heidemann gewesen, und wenn Ihr fragt, warum mir reineweg gar nichts passiert ist, so kann ich dito nur sagen: das ist von wegen des gewächsten Fadens gekommen. So'n Faden mirakelt. Und dann noch, Brinkschulte« – und ihre Worte gaben sich bestimmter und nahmen an Eindringlichkeit zu – »so'n richtig gewächster Zwirn in der Hand bringt ein hell Gesicht, so wie es Karl Mersmann besitzt, und die Gabe, in die Zukunft zu kucken.«

Die Brinkschulte stand regungslos. Um ihre Lippen irrte ein nervöses, verhaltenes Zucken. Sie schien mit offenen Augen zu schlafen, und doch nahm sie Eli die Worte vom Munde. Ein leises Beben flog um ihre Nasenflügel. Dann machte sie eine abwehrende Handbewegung. Sie wollte nichts mehr hören und wissen. Sie wollte allein sein.

Aber Juffer Eli hatte sich bereits erhoben.

»Brinkschulte!« rief sie, gleichsam von einer Verzückung befallen, »ich will nichts berufen. Aber ich weiß, was ich weiß. Ich höre wen kommen, und so wahr ich lebe, in 'ner Woch' oder vier wird das Brautkleid geschneidert . . .«

Mit fliegender Hast trat sie näher: »Brinkschulte, ich höre wen kommen!«

»Eli,« kam es aus gepreßtem Munde, »laßt mich endlich zufrieden. So geht das nicht weiter.«

»Herr Jeses!« gab die Nähterin zurück und trat ans Fenster, »wie das düstert und schwalkt! Die Finger werden immer länger und größer. Das kommt auf den Hof zu . . . aber ich will nichts berufen, gar nichts berufen . . .

Der erste Wetterschein zwinkerte geheimnisvoll um die Baumkronen, spielte wie eine Geisterhand über die Diele und erhellte sie für eine kurze Gedankenspanne.

»Um Gott nicht!« fuhr Juffer Eli zusammen und sah auf die Brinkschulte.

Die Hände auf die Brust gepreßt, stand diese wie von einem inneren Feuer verzehrt und stierte in die jähe Helle hinein, die so plötzlich verschwand, wie sie aufgetaucht war.

Dort wuchs jemand aus dem Boden heraus. Von dorther mußte er kommen.

Sie zählte die ruhigen Schritte.

Sie kannte die Schritte, und ihr Herz hämmerte stärker.

»Brinkschulte,« sagte Eli ganz leise, »ich will mal nach Dörte kucken. Das paßt sich grade; die ist so ganz allein in der Kammer.«

Damit glitt sie auch schon hinaus, ohne Geräusch als hätte sie kaum den Boden berührt. Ebenso lautlos schnappte hinter ihr die Tür ins Schloß.

Heinrich Tillbeck aber war in den Schein der friedlich singenden Lampe getreten.

 


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