Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Siebentes Kapitel

Die gekreuzigte Ohreule hing noch immer mit gebreiteten Schwingen am großen Tor der Roggenscheune. Die weiche Holle senkte sich tiefer; die Nickhaut hatte sich noch mehr über die runden, schwefelgelben Lichter gezogen. Der Kadaver war ausgedörrt unter der brennenden Tagesglut. So hatte sie schon an vierzehn Tage gehangen.

Der Knall lag noch allen in den Ohren, unter dem sie aus dem Eichenlaub herausgeholt wurde.

Tagtäglich, um die Dämmerstunde, erschien Karl Mersmann, rieb sich fröstelnd die Hände und sah mit seinen hellen, transparenten Augen zu dem toten Vogel empor. Dann sagte er verloren vor sich hin, so wie er es am ersten Tage getan hatte:

»Scheuch' Blitz und Donnerwetter
Von diesem Haus,
Und laß die schwarzen Bretter
Noch lange draus,«

blickte hierauf nach Sönnern und dann in die Gegend hinein, wo Dortmund ungefähr liegen mochte, als wenn er von diesen beiden Orten aus das Nahen irgendeines großen Unglücks befürchte.

So auch heute; nur dieses Mal hatte er die frühe Morgenstunde gewählt, um sein Sprüchlein in die Winde zu sagen. Bald darauf latschte er ziel- und zwecklos in den Scheunen und Ställen herum, stattete er ebenso zwecklos der Sattelkammer einen Besuch ab und langte schließlich auf seinem Dachzimmer an, wo er sich aufs Bett streckte und mit aufgerissenen Augen die Decke bestierte.

Was er nur haben mochte? Ja, das wußte niemand, ebensowenig, wie niemand es wußte, warum er seit Jahren an der Scholle des Brinkschultenhofes klebte, überhaupt geduldet wurde und wie ein überkommenes Inventarstück zum Hause gehörte. Zuerst hatte man darüber gesprochen, vermutet und die konfusesten Dinge des längeren hin und her erwogen. Man tappte im Dunklen und konnte nichts finden, selbst nicht in den Fragen und Antworten des Armseligen, auch nicht in seinen Blicken, die zeitweilig aus dem Fenster irren konnten, als sehnten sie sich nach Licht, Freiheit und Sonne, um dann wieder als verschlagene Vögel ins Ungewisse zu flattern. Nein, man fand nichts Gewisses und konnte nichts finden. Schließlich gewöhnte man sich daran, wie man sich an alltägliche Dinge gewöhnt, ließ ihn gewähren – ihn und seine Vergangenheit, die wie ein verblaßtes Pastellbild anmutete, verwischt und unbestimmt, und keine eigentliche Farbe mehr hatte.

Und doch – was er nur haben mochte?

Die Kammer, wo er jetzt auf dem Rücken lag und die Decke anstierte, war einfach, aber in größter Ordnung gehalten. Ein eisernes Bett, ein grellilluminiertes Kleiderspind, ein Tisch mit offener Schublade, ein Stuhl und kahle Wände bildeten die ganze Einrichtung. Nur ein kleiner, mit einer schmalen Goldleiste eingerahmter Spiegel hing neben dem Fenster, das einzige Schmuckstück in der niedrigen Kammer, hinter dessen Rand ein vergilbtes Büschelchen von Buchsbaumzweigen hervorragte.

Mit diesem, das wußten Knechte und Mägde, hatte Karl Mersmann seine Heimlichkeit. Einmal in der Woche stellte er die vertrockneten Zweige in ein Glas mit Wasser, sprach mit ihnen und glitt mit zärtlicher Hand über sie fort. Hierauf steckte er sie wieder hinter den Spiegel. Das war alles. Im übrigen war es das Zimmer eines Menschen, der scheinbar keine Geheimnisse hatte. In den unverschlossenen Kästen befanden sich keine Briefe, keine Gegenstände und Erinnerungen aus vergangenen Zeiten. Alles und jedes stand offen, etwa so, wie ein Schuljunge seine ganzen Habseligkeiten zu lagern pflegt, zu allermanns Einblick. Auf dem sauber gespreiteten Tisch ruhte eine Handpostille, in deren Seiten etliche Rezepte eingeklemmt waren als Mittel gegen Pferdemauke und den Rotlauf der Schweine. Dann noch ein schwerer Foliant! – des Hermann von Kerssenbroich Chronik von Münster, in der viel des Erschrecklichen über die Wiedertäufer Jan van Leyden, Knipperdolling, Krechting und die schöne Elisabeth Wandscherer erzählt war, von welcher Chronik das Vorwort also berichtet:

»Als Knabe sang ich einst der Wiedertäufer Rasen,
Wie alles sie verheert, von Mordluft aufgeblasen.
In ungebundnem Stil will ich dies itzt erzählen
Umständlicher, doch nur den niedern Ausdruck wählen.
Den König von Westfalen und seine grausen Schlachten
Will ich nach ihrer Reih' westfälisch schlicht betrachten.
Kriecht die Erzählung zwar nur niedrig an der Erde,
So ist doch alles wahr, was ich berichten werde.«

Dieser Foliant war ihm ans Herz gewachsen. Er las darin, wie Kinder in einem Bilderbuche lesen, mit dem Zeigefinger die Buchstaben verfolgend, mit lauter Stimme und heimlichem Grausen, vornehmlich die Stelle, die von der schönen Elisabeth Wandscherer, der Kebse des Königs, handelte, und mit fliegendem Atem las er: »Und Jan van Leyden zeihete sie des Leichtsinns, des Ungehorsams und Aufruhrs, und siehe: er führete sie sogleich auf den Markt und schlug ihr am zwölften des Brachmonats mit eigenen Händen, in Gegenwart des ganzen Volkes und aller Kebsweiber, den Kopf mit dem Schwert herunter und trat ihren toten Leichnam mit Füßen. Hierauf tanzete er mit seinen Kebsen einen Ringelreihenrosenkranz um das gerichtete Weib, und alle sungen dabei den Lobgesang ab: ›Ehre sei Gott in der Höhe‹ und tanzeten weiter.«

»Höhö!« lachte dann der Spökenkieker über die abgegriffene und zerlesene Schrift hin und krampfte ganz allmählich die Finger der rechten Hand zusammen, »so 'n Aasknochen von Weibsbild! – aber allen Respekt: Jan van Leyden und Knipperdölling sind doch famöste Kerle gewesen.« Gleich darauf verfiel er wieder in trostlose Wehleidigkeit und weinte bitterlich über die arme Elisabeth Wandscherer.

Was er nur haben mochte?

Das da in Dortmund war es allein nicht, obgleich es ihn immer eigentümlich berührte, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer Krawall hatten. Im allgemeinen war Karl Mersmann friedlicher Natur. Zudem schien sich die Dortmunder Bewegung im Sande zu verlaufen, denn die bedrohlichen Zeichen, die gestern noch die Zechen und Gewerkschaften umlauerten, flauten ab und verloren ihren blutdurchsetzten Geifer. Weitere Ausschreitungen waren nicht vorgekommen, obgleich die Arbeit ruhte und die Ausständigen sich nicht entschließen konnten, das Schurzfell wieder vom Nagel zu langen. Etliche von ihnen lagen mit blutigen Köpfen auf dem Stroh. Das hatte Vernunft gebracht und die Einsichtigen bewogen, das frivole Werk wenigstens jetzt nicht auf die Spitze zu treiben. Das Trommeln verstummte, das Gegröle und Pfeifen ließ nach, und die Dreizehner standen Gewehr bei Fuß, bereit, die Arbeitswilligen zu schützen und die Propaganda der Tat nicht in Kraut und Ähren schießen zu lassen. Unwillige Fäuste krachten allerdings noch auf die Wirtstische, saftige Flüche klirrten gegen die Fensterscheiben, wagten sich aber nicht ins Freie hinaus, denn die Pickelhauben hatten ein infames Leuchten an sich, eine Art von Respekt, und die Gewehrkolben waren jeden Augenblick fertig, an die Backen zu fahren. Ruhe, immer nur Ruhe! – Also das da in Dortmund war es allein nicht, was ihn tiefsinnig machte.

Seine Gedanken stelzten wie große Kankerspinnen die weißgekälkte Decke entlang, stießen unwillig in die Ecken hinein, glitten wieder zurück, wuchsen und dehnten sich, um schließlich zu einem unentwirrbaren Chaos von durcheinandergemengten Leibern und dann zu einer einzigen Riesenspinne zu werden. Und diese Spinne tastete um sich und streckte ein Gewirr von Gelenken aus, die plötzlich etwas Blankes, Leuchtendes umgriffen und nicht mehr loslassen wollten.

Karl Mersmann richtete sich auf.

Mit krallenartig gekrümmten Fingern fuhr er durch die Luft, versuchte er, das blanke Ding, das seine Gedanken umspannten, niederzureißen. Aus dem halbgeöffneten Munde kam ein Röcheln und Stöhnen.

»Da ist ja die Krone,« lallte er wie ein Betrunkener, »die Krone, die Krone!«

Die leeren, starren, lichtlosen Augen krochen ihr dicht auf den Leib. Polypenartig, lauernd umschlichen sie das leblose Metall, das Feuer sprühte und vor ihnen aufleuchtete, als wäre es wirklich vorhanden.

Was er nur wollte – der verfluchtige Popanz! – Was hatte überhaupt das Weib in Sönnern und in der Schmiede zu schaffen gehabt? Sollte von daher etwa ein Hochzeiter ins Haus kommen . . .?! – hier auf den Brinkschultenhof, wo er, Karl Mersmann, aus der Bodenluke gestürzt war?

»Du da . . .

Mit einem heulenden Ton, wie ein Hund heult, wenn einer im Hause sterben will, riß er das goldene Phantom an seine keuchende Brust, zerquetschte es mit eisernen Gelenken und warf es mit heiserem Gelächter über die Dielen, daß die eingekrusteten Steine klingend umhersprangen.

»'runter mit dem dämlichen Schmuck von den Sattelmeiern!« ächzte er dumpf vor sich hin, »'runter mit der verfluchtigen Krone!«

Da lag sie. Mit gierigen Blicken tastete er über ihre geworfenen Trümmer und blitzenden Steine. Jetzt konnte sie keinen Schaden mehr anrichten. Jetzt war sie hin und verreckt und wurde nicht mehr lebendig. Eher hätte ein mistiger Halm wieder Wurzeln angesetzt. Die hatte jetzt Ruhe – Totenruhe, Kirchhofsruhe und konnte keinen Hochzeiter mehr anlocken. Man brauchte nur noch eine Handvoll Erde darüber zu werfen.

Und das tat auch Karl Mersmann. Er machte die Bewegung des Säens. Dann sank er schmunzelnd zurück und sagte, indem er sich mit dem Gesicht der Wand zukehrte und die Blumenmuster der altfränkischen Tapete studierte: »Allen Respekt! – aber Jan van Leyden und Knipperdölling sind doch famöste Kerle gewesen.«

Also das war es, was er finden mußte und nicht finden konnte. Jetzt war es gefunden und ihm der Hals umgedreht worden. Er und der Brinkschultenhof konnten wieder aufatmen. Sein Geist wurde heiter. Er zählte die Blumenmuster und stellte die schönsten Rabatten aus ihnen zusammen. Da waren Tulpen und Akelei und Sonnenblumen, die auf den Köpfen spazierten. Die schöne Elisabeth Wandscherer saß mitten dazwischen und kämmte sich mit einem Kamm, der wunderliebliche Musik machte, bis plötzlich Jan van Leyden und Knipperdolling erschienen und sagten: »Tag, Lisbeth! – Da sitzt du ja wie eine Butterblume, die dicke Milch und Veilchen mangiert. Laß das man sein, du könntest sonst wie Buttermilch werden.« »Aber die Veilchen!« meinte sie mit ihrem zartesten Lächeln. »Dummes Zeug!« warf Knipperdolling dazwischen, »wenn du nicht willst, so wollen wir uns im Tode lieben.« »Das wäre fein!« rief sie den beiden zu und kämmte ihr Haar, das wie Hobelspäne aussah, und sang dazu

»Laot uß singen dat niee Leed,
Wat bi Mönster iß passeert:
Von Pastor sien' Koh –
Trialo, trialo, von Pastor sien' Koh la lo,
Trialo, trialo, von Pastor sien' Koh!«

»Das ist Hochverrat!« jubilierten die mastigen Sonnenblumen und zogen die Hälse ein. »Tut nichts!« meinten die beiden Wiedertäufer, machten sehr feine, aber auch sehr subtile Gesichter und sagten: »Komm mal her, mein Hühnchen; jetzt wollen wir das neue Kegelspiel spielen. Es tut nicht weh!« »Auch wirklich nicht, meine Herren?« fragte sie mit scheuer Betonung. »Keine Idee,« sagte Jan van Leyden und machte ein Rasiermesser blank. Damit lag ihr auch schon der Kopf zwischen den Händen, und sie spielte mit ihm so leicht und pudelnärrisch, als wenn es ein Federball wäre.

»Aus!« sagte Knipperdolling und stopfte seine Meerschaumpfeife mit Oldenkott Rippchentabak, während die Tapetenmuster Purzelbaum schlugen und Jan van Leyden sich in eine Sonnenblume verliebte, die sich an einem Kleiderständer aufgehängt hatte.

»Damit schließt die Geschichte!« krähte es aus der Tiefe heraus.

»Aber es war 'ne feine Geschichte,« konstatierte Karl Mersmann, streckte sich, daß die Gelenke knackten, und rekelte sich über die Bettkante ans offene Fenster heran.

»Famöste Kerle, die beiden . . .

Er konnte sie nicht los werden – die beiden nicht und die schöne Elisabeth Wandscherer nicht, die jetzt leichtfüßig durch die Erbsenbeete tänzelte, mit ihrer Schleppe wippte und ihren abgesäbelten Kopf auf einem tellergroßen Kürbisblatt vor sich her balancierte. Dabei spitzte dieser sein allerliebstes Mündchen und sang wie ein Wundervogel, der hundert Stunden hinter Amerika in einer Mergelgrube zwitscherte:

»Trialo, trialo, von Pastor sien' Koh la lo . . .«

und das zwischen Zähnchen hindurch, die wie Mausezähnchen aussahen.

»Prachtvoll, prachtvoll!« ereiferte sich der Spökenkieker und klatschte dabei in die Hände, daß die Spatzen davonsurrten, als hätte Herr Fritze Leppers mit seinen viven Schrotkügelchen dazwischen geschossen.

Dann wurde er nachdenklich.

Halt! – er hatte ja das Beste vergessen.

Er grübelte vor sich hin.

Da war noch etwas.

Das ging ihm schon seit vierzehn Tagen nach, ebenso nach wie die hundsföttische Brautkrone. Die war allerdings abgetan und hatte Leben und Luft verloren – aber das andere, das fehlte noch, das mußte er erst finden, um sich vollkommen ruhig und zufrieden zu wissen.

Und als er so nachdachte, da flog ein lustiger Zug um seine Mundecken. Dann zählte er an den Finger herunter: »Montag, Dienstag, Mittwoch. Heute ist Mittwoch. Verfluchtig noch mal! – da kommt ja die Brinkschulte wieder.«

Na, endlich! – jetzt war er beruhigt.

Heute kam Josepha Brinkschulte von ihrer Reise zurück – und diese Erkenntnis schmunzelnd überlegend, zündete sich Karl Mersmann eine Zigarre an, verließ seine Bodenkammer und suchte die Erbsenbeete auf, noch immer des Glaubens, die schöne Elisabeth Wandscherer befände sich auch jetzt noch zwischen den grünen Schoten und zwitschere wie ein sorgloser, fremdländischer Vogel. –

Über den Hof und bis weit ins Land hinein zog ein warmer Heugeruch. Schönabgezirkelte Wolkenbälle, gleichsam aus blankem Zinn getrieben, standen angenagelt am tiefen Horizont. Es war gutes Erntewetter. Ein lauer Wind erfrischte das heißglühende Firmament, unter dem die gemähten Halme knochentrocken wurden und sich raschelnd aneinander schoben. Noch vor Abend sollten die letzten Schober eingebracht werden. Schwere Leiterwagen fuhren ab und zu. Immer neue kamen an, schwenkten an der Mergelgrube herum und legten sich quer vor die Bodenluken der großen Scheune, die verschläfert in das flimmernde Land hinausgähnte. Knechte und Mägde, nur mit Hemd und leichtem Zeug bekleidet, wateten bis zu den Knien in dem duftigen Heu und schleuderten die Bündel in die Luken hinein, die unersättlich Wagenladung um Wagenladung verschlangen. Schweiß und Arbeit klebten an ihren Händen. Ein kräftiger Geruch ging von ihnen aus, gepaart mit dem Duft nach welken Halmen und trockenen Blumen, die sich in ihren Haaren und Kopftüchern gefangen hatten.

Mitten auf dem Hof stand Ignaz Greving, der Großknecht, die behaarte Brust weit offen und die Hemdärmel bis zu den Achseln aufgewickelt, und lenkte mit kurzausgestoßenen Lauten Gespanne und Menschen. Auch die Augen gaben Befehle. Wort und Blicke hielten die Arbeit wie an ledernen Riemen. Nichts Unnützes und Übereiltes geschah. Die Wagen stellten sich auf die Minute ein, um auf die Minute wieder auf die Wiesenkoppel zu fahren. Alles ging wie am Schnürchen, obgleich Ignaz erst seit einem halben Jahre auf seiner jetzigen Stelle in Kost und Lohn stand. Wortkarg und ohne viel Federlesens zu machen, traf er seine Anordnungen und hielt er sich die Leute gefügig – er, der gutmütige Riese mit der weißen Haut, dem rötlichen Bart und dem Gesicht, das in seinem Ausdruck an das eines gesunden Kindes erinnerte. Er hatte nur langsam gelernt und war schwer auf der Zunge, aber was er gelernt hatte, das saß bei ihm wie zwischen Schraubstöcken, und was er widerhaarig und dickflüssig über die Lippen brachte, das war doppelt und dreifach verdiebelt und war auf einem Grund und Boden gewachsen, der kräftigen Mist an den Füßen hatte. Und dieser Hüne schaffte für andermanns Vorteil, als wenn er sein eigener wäre, und sorgte für jeden trockenen Grashalm, als wäre er für jeden trockenen Halm mit seinem Ersparten verantwortlich, so gewissenhaft und mit der Andacht eines Weltfremden begann er mit dem ersten Hahnenschrei seine Tätigkeit, um sie mit dem Blinzeln der ersten Sterne zu beschließen. So ging das seit aller Herrgottsfrühe schon Stunde um Stunde, selbstlos und ohne Unterbrechung, während Juffer Eli, die heute ihren Tag auf dem Brinkschultenhofe hatte, am offenen Küchenfenster saß, den Faden wächste und in die knitterige Leinwand hineinstichelte. Ab und zu sah sie mit ihren großen, runden Augen auf das Erntegetriebe hinaus. Knechte und Mägde interessierten sie. Sie hatte überhaupt ein reges Gefühl für die Wirtschafterei, und wäre sie nicht Nähterin und Lichtjungfer gewesen, vielleicht hätte sie ihre Tage als Beschließerin oder in einer sonstigen Vertrauungsstellung auf dem Lande hinleben mögen. So aber ging das nicht anders. Sie hatte schon den besten Teil erwählt; denn sie konnte frei über sich und ihre Zeit verfügen, war überall ein gerngesehener Gast und stand mit den Abgestorbenen auf dem besten Fuße, weil sie diese ehrlich und nach der neusten Mode bediente. So fehlte ihr nichts, sich wahrhaft zufrieden und glücklich zu schätzen.

Juffer Eli legte den Kopf auf die Seite.

Der warme Heuduft und der köstliche Geruch nach trockenen Wiesenblumen machten den Faden schleppend und die blanke Nadel weniger emsig. Schließlich stellten sie gänzlich den Dienst ein.

Juffer Eli nickte ein wenig. Mit zarten Katzenpfötchen ging es über ihre Seele. Alte Tage, vergessene Leiden und eingeschrumpfelte Freuden stellten sich ein. Das alte Träumen begann wieder. Sie sah ihren armen Bruder bei Missunde, wie er kopfüber stürzte, in die Herzgrube packte und die Spitze seiner Pickelhaube in den hartgefrorenen Boden hineinbohrte. Sie begrüßte auch ihren ersten Bräutigam, den Herrn Küster Blasius Küttelwäsch, der mit dem Klingelbeutel in der Hand in das Himmelreich hineinstolpern mußte. Aber sie sah sein Bild nur schemenhaft. Es hatte viel an seinem früheren Glanz verloren und zerging in sich selbst, wie eine tropfende Unschlittkerze auseinanderfließt. Das war schon anders mit dem blitzsauberen Oberlazarettgehilfen Theophil Schentuleit aus ›Königsbarg‹! – immer noch ein liebes, wenn auch treuloses Kerlchen. Aber er roch so delikat nach Karbol und Flanellbinden, und sein Schnurrbärtchen erst! Das hatte ihr früher so allerliebst unter die Nase gekitzelt. Sie durfte gar nicht daran denken, auf die Gefahr hin, rückfällig zu werden und einen teuflischen Haß auf Sophia Franziska Sömmerrau aus Pillkallen zu werfen, und daher: resigniert wies sie die Erinnerung an Flanellbinden, Karbol und Schnurrbärtchen in das Tal des Vergessens, tat ein Übriges und ging mit ihrem neuen Bräutigam Jans Sandhage durch die Fluren von Sönnern spazieren. Vierzig Morgen fettes Ackerland und fünf melkende Kühe hatte er mit in die Ehe zu bringen. Jans hätte sich auch nicht lumpen lassen, wäre nur nicht die infame Kegelgesellschaft ›Gut Holz‹ gewesen, zu deren Mitgliedern auch er zu ihrem größten Leidwesen gehörte.

Warum mußten diese Kegelbrüder überhaupt zur Treibjagd einladen? Warum verfielen sie auch gerade auf den Apotheker Schölwink und den dicken Kreisrichter Zumloh aus Soest, wo jeder von vornherein wissen mußte, daß sie mit ihrem verhängnisvollen Visierwasser anrücken würden?

Juffer Eli tat einen tiefen Seufzer. Sie sah endlose Schneefelder. Die Sonne war mit Krepp verhangen. Sie konnte sich nicht helfen – wohin sie auch blicken mochte: von allen Bäumen, die fröstelnd in der Uhlenbrinker Gemarkung standen, hingen Trauerflörchen. Mit Eisnadeln kam es über sie, obgleich draußen die Hitze mit lechzender Zunge in den Brunnen hineinsah und mit gierigen Augen nach Wasser schlappte.

Juffer Eli sah nur Schneewehen und verfrorenen Grünkohl. Dazwischen purzelten verschiedene aufgestöberte Löffelmänner. Sie trommelten mit ihren Hinterläufen und flitzten weiter. Fünfzig Krumme rückten plötzlich in ihr Gesichtsfeld.

»Tatteratta!«

Das erste Treiben wurde angeblasen, das zweite, das dritte. Die Sonne machte bereits ein hippokratisches Gesicht. Dicke Nebel schleppten sich über das Uhlenbrinker Feld.

Wie Todeswehen berührte es Juffer Eli.

Plötzlich war ein Schreien um sie, ein Jubilieren und Lachen.

»Da löpt noch een!«

»Wo?«

»Dichte bi! – Druff, druff!«

»Himmel, Gewitter!«

Sie hörte ein Knallen und Lärmen.

»Jans!« schrie sie entsetzt auf.

»Druff, druff!«

Dampf und Knall und dann ein infernalisches Spritzen . . .

Zehn, fünfzehn, hundert Flintenläufe waren auf sie gerichtet. Sie hielt es nicht mehr aus. Da mußte ein Unglück passiert sein. Erschreckt fuhr sie aus ihrer Traumwelt.

Wo war sie nur?

Sie stand doch nicht auf dem Uhlenbrinker Acker. Auch nicht auf einem Schneefeld mit spritzenden Schroten. Wo waren nur die hundert und aber hundert Trauerflörchen geblieben? Aber das Poltern und Lärmen hielt an.

Blendendes Licht umgab sie. Die Hitze schlappte noch immer mit ihrer hängenden Zunge.

Sie sah durchs Fenster.

»Da löpt he!«

»Wo?«

»Dichte bi! – Druff, druff!«

Knechte und Mägde hielten mit Schaffen inne und griffen nach werfbaren Geschossen. Selbst der Großknecht tat mit, bückte sich und pfefferte einen handlichen Knüppel auf einen hin- und herjagenden Schatten, der sich vom Felde versprengt hatte und jetzt mit eingezogenen Löffeln einen Ausgang zu gewinnen suchte.

Aber überall polterten ihm Knüppel zwischen die Läufe. Ein Heidenlärm rumpelte über den Brinkschultenhof. Mägde kreischten auf, wenn ihnen der Krumme zwischen den Beinen durchflutschte. Andere hielten den Bauch vor Lachen. Der jüngste Pferdeknecht wälzte sich wie ein wieherndes Füllen am Boden. Gleich einem fressenden Feuer pflanzte sich der Spektakel fort.

Eli begriff nicht, was eigentlich los war. Ein Flirren war vor ihren Augen. Sie schien rein wie betäubt, wie vor den Kopf geschlagen.

Sie befand sich doch in der Küche des Brinkschultenhofes. Da lag ja das Leinenzeug, und sie hatte ja noch die Nadel und den gewachsten Faden zwischen den Fingern.

Was war das denn nur?

In diesem Augenblick trat einer hinter sie.

Er war lautlos und mit verwehten Haaren gekommen und reckte sich wie einer, der was Großes zu sagen hatte.

Es war Karl Mersmann.

Jetzt sprach er.

»Eli,« sagte er mit aufgerissenen Augen, die jetzt weder Glanz noch Tiefe hatten, und legte ihr die Hand auf die Schulter, »da läuft 'ne Seele.«

»Was für 'ne Seele?!« schrie sie auf und erschreckte sich bis in die Zehen hinein.

»Die von Jans Sandhage.«

Dabei zeigte er auf den geängstigten Hasen, der mit knapper Not und verzweifelten Hakenschlägen seinen Bedrängern entschlüpfte.

In schlanker Flucht steuerte er auf die nahen Kleeäcker los.

»Um Gott nicht!« jammerte Eli in schwerer Not und schlug sich die Hände vor das Gesicht. Seit dem Tode ihres letzten Bräutigams konnte sie kein Schießpulver mehr riechen und keinen Hasen mehr sehen.

Ohnmacht wandelte sie an, und sie wäre auch in solche verfallen, hätte sich nicht hinter ihrem Rücken ein verheißungsvolles Klappern von Tellern und Schüsseln erhoben.

Das animierte sie wieder.

Sie dachte an ihr Lieblingsgericht, das heute aufgetischt werden sollte.

Da ließ sie Seele Seele und Hase Hase sein. Schnell glättete sie mit sanften Strichen das zerknitterte Leinen, streifte den Fingerhut ab und sah auf den Herd.

Duftig kam es von den verschwiegenen Töpfen.

»Durchwachsen Speck und dicke Bohnen,« hauchte sie mit zufriedenen Lippen. Dabei legte sie die Hände gottergeben zusammen:

»Hill'ge Grautebauhnen-Tied!
Buuk, wär mi nochmaol so wiet!«

»Hat sich was mit durchwachsen Speck un Grautebauhnen!« höhnte der Spökenkieker und fuchtelte bedrohlich mit seinen Armen herum. »Heute gibt's was Besseres.«

»Wieso?!« fragte Eli.

Da beugte sich Karl Mersmann vor und tuschelte ihr mit sonderbarem Grinsen zu, das halb Freude, halb Leid in sich barg: »Du, Eli – heute kommt die Brinkschulte wieder.«

 


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