Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Vierzehntes Kapitel

Auf dem Brinkschultenhof erschauern die Blätter unter dem Odem des Spätsommertages. Etwas Unausgesprochenes hängt in der Luft, klammert sich mit Fieberhänden an und kann nicht herunterkommen. Wo die Sonne sonst ihren Weg nimmt, zieht eine rußige Milchscheibe vorüber, die mit ihrem verwaschenen Licht nichts anzufangen weiß und sich vergeblich abmüht, die quirligen Schwaden tiefer zu drücken. Keines Vogels Stimme erschallt, keines Menschen Ruf läßt sich hören. Selbst das Laub verliert sein Flüstern. Mäuschenstill hängt es an den ruhigen Zweigen; nur von Zeit zu Zeit wendet es sich auf die andere Seite. Der bläuliche Rauch der Kartoffelfeuer kriecht matt und träge am Boden hin. Er hat nicht Kraft genug, das qualmige Fähnchen zielbewußter und höher zu tragen. Über dem Düstermoor steht es unbeweglich, wie angenagelte Bretter. Es kann nicht rückwärts noch vorwärts und tut so, als müsse es dort für die Ewigkeit stehen. Kein Leuchten ist in ihm; keine Stimme murrt bedrohlich in den niederhängenden Streifen. Nur ein großer Vogel gleitet mit gebreiteten Schwingen über das stickige Sumpfwasser und die aufgebauten Torfhügel, die wie zusammengekauerte und schwarzgekleidete Weiber den Hellweg entlang hocken. Unter ihm zerplatzen vereinzelte Wasserblasen – fast lautlos, nur von einem feinen Gurgeln begleitet. Das Düstermoor brütet unter dem kränklichen Licht der langsam weiterziehenden Milchscheibe. Und alles so unheimlich still, so verlassen und einsam! –

Es mochte auf vier gehn.

Wie bei einer Sonnenfinsternis – also wunderlich und seltsam lag es zwischen Himmel und Erde. Mit zagen Füßen ging die Einsamkeit durch die dunstige Schwüle. Es war nicht eigentlich dunkel, und doch war es so, als sollte alles Licht von hinnen genommen werden. Es hätte Abend sein können, so schien es, obgleich die Sonne noch lange keine Anstalten machte, unterzugehen. Mit blinden Augen sah der Tag in die Häuser der Menschen hinein und ließ keine fröhlichen Sinne aufkommen.

Auch die auf dem Brinkschultenhof waren nicht fröhlich.

»Bei dem Wetter auch!« sagte der alte Brügelmann und sah bedenklich über die vorgeschobene Hand fort, »da kann ja einer dösig bei werden,« ließ die Hand wieder herunter und trieb gemächlich der Asbecker Scheid zu, wo die schnurgeraden Furchen noch unverändert lagen, die Heinrich Tillbeck vor wenigen Wochen in den fetten Acker hineingepflügt hatte.

Hier begegnete ihm Emanuel Wimke, leidlich aufgeräumt und mit einem Lächeln um die rasierten Lippen, das halb an Theaterschminke und halb an Rindspomade erinnerte. Der Kerl sah verboten aus, ein Poseur mit durchlöcherten Glacehandschuhen, ein Aufschneider in Duodezausgabe, ein aufdringlicher Poltron und Allesfresser, der sich gleich darauf eine rührsame Träne mit gekrümmtem Zeigefinger aus dem Auge wischen konnte, um sie wie Seifenschaum in irgendeine verlorene Ecke zu schlenkern.

Im verschossenen Überrock, den Hut im Nacken und ein abgegriffenes Lederbesteck zwischen Rock und Weste geschoben, trat er an den Alten heran, zwinkerte mit dem linken Auge und meinte mit einer närrischen Pose, die gleichzeitig einem trostlosen Leichenbitter und einem fidelen Schmierendirektor angehören konnte: »Tag, Herr Brügelmann! Darf ich mich nach Ihrem gütigen Wollbenehmen erkundigen?«

»Merci, und Euer Befinden?«

»Danke, es geht ja.«

»Und was bringt Euch nach der Asbecker Scheid?«

»Die Asbecker Scheid ist mir schnuppe.«

»Also noch weiter?«

»Zu dienen, jawoll. Mit Ihrem gütigen Wollbenehmen, ich will nach dem Hof machen.«

»So, so!« meinte der Alte, »also von wegen . . .«

»Stimmt,« sagte Wimke, »von wegen die Operatschon. Zwei Bullen auf einmal . . .«

Dabei griff er zwischen Rock und Weste und hielt das Lederbesteck, in welchem etliche blanke Messerchen staken, wichtig und geziert in die Höhe, gerade so, als wenn er damit andeuten wollte: Brügelmann, hier, zwischen den Falten dieses unscheinbaren Etuis, liegt das Alpha und das Omega meiner Kunst und meines tiefgründigen Wissens. Also Respekt vor mir, wenn ich bitten darf.

Das sah Brügelmann auch ein und blickte mit einer gewissen Ehrfurcht und Scheu auf das geheimnisvolle Besteck, das langsam versenkt wurde.

Wimke trat näher: »Und dann, Brügelmann – mit Ihrem Wollbenehmen, die Operatschon tut es allein nicht; auch die Brinkschulte . . .«

Mit umständlichem Wesen und selbstgefälliger Großtuerei flüsterte er ihm eine ellenlange Litanei zu.

Als er damit fertig war, prallte der Alte zurück.

»Ihr seid wohl verrückt!« sagte dieser mit aufgerissenem Mund.

Wimke blieb ruhig, so ruhig wie die wolligen Nebelschwaden, die dick und kleberig über dem Moor und dem Hellweg lagen.

»Nee!« sagte er so gelassen wie möglich, »wenn ich verrückt bin, dann finde ich auch Ihnen verrückt und die Hammels, die jetzt um Ihnen spazieren gehn.«

»Aber das mit dem Hinrich Tillbeck . . .!« versetzte der Alte, immer noch aus allen Wolken gefallen.

Wimke blieb ruhig, aber seine Ruhe hatte etwas Gravitätisches an sich. Sie erinnerte an die pompöse Talmiruhe eines glattrasierten Komödianten, der auf einen wackeligen Binsenstuhl zeigt, etliche Freiübungen mit den Augäpfeln macht und dann in die pompösen Worte ausbricht:

»Es sei denn – gut. Ihr zwingt mich ja dazu;
Reicht mir den Purpur und das Zepter auch –
Auf diesen Thron von England will ich steigen.«

Ähnlich Emanuel Winke.

»Brügelmann,« also begann er, »was ein richtiger Balbierer ist – und ich bin so frei und zähle mir dazu – der ist hellsichtiger und weiß mehr als Sie und Jans Stedink und die übrigen Kerle. Und daher sage ich Ihnen, Sie werden Dinge erleben, von denen Sie keine entfernte Ahnung besitzen. Das mit die abermalige Rebellion, von der Simmchen und sein Vetter Zodik immerzu die Backen vollnehmen, ist purer Kappes, obgleich der alte Jaspers jetzt öfters von Dortmund nach Sönnern macht und mit allerhand Knallerbsen herumschmeißt. Indessen jedoch – das mit Hinrich Tillbeck und der Brinkschulte ist nicht unter den puren Kappes zu rechnen. Und deshalb bin ich schon in mir gegangen, um die richtige Invitierung zu kriegen. Hier befindet sich schon alles im Kopfe. Sie werden noch von mir hören, Brügelmann.«

Der Alte sah ihn verweht und ungläubig an.

»Ihr wollt also sagen,« fragte er fahrig vor sich hin, »daß sich zwischen dem Schmiedehinrich und der Madam etwas anspintisiert?«

»Mit Ihrem gütigen Wollbenehmen – jawoll,« sagte Wimke, »aber ich bitte gehorsamst: vor der Hand noch Pst!«

»Mensch!« rief der alte Brügelmann.

Mit Mittel- und Zeigefinger fuhr er sich zwischen Kragen und Bartfräse, als läge ihm eine schnürende Faust an der Kehle. In den ausgebleichten Augen begann es zu leuchten. Glühende Köhlchen krochen aus der Tiefe vor.

»Mensch!« rief er nochmals, »laßt mir die Madam zufrieden.«

Seine Hand streckte sich: »Der Heidemann steigt. Dort sitzt er im Torfmoor und quiemt und häkelt sich um Bast und Borke. Wer lügt, dem springt er ins Genick und dreht ihm den Hals um.«

»Ach was, dummes Zeug.«

»Wimke . . .

Die lederbraune Hand hob sich aufwärts.

»Ich sage Ihnen nochmals . . .« entgegnete Emanuel Wimke.

Der Alte ließ sich nicht beirren: »Wimke, der Heidemann steigt . . .

Gleich schartigen Posaunenstößen lief seine Stimme über die geschorenen Ackerfelder.

»Denn nicht,« sagte Wimke und legte dem Alten die Hand begütigend auf den leinenen Kittel. »Mit Ihrem gütigen Wollbenehmen, wir Balbierer haben schon die richtige Meinung. Alles kommt an das Licht des allsehenden Tages. Auch dieses. Sie werden sehn: die Madam und Hinrich Tillbeck . . . Das Gedicht ist schon fix und fertig, das heißt, erst im Verstand, noch nicht so aus dem Handgelenk heraus, wie wir Gedichtemachers uns auszudrücken die Gewohnheit besitzen. Aber Sie werden staunen, Brügelmann. Mit Ihrem gütigen Wollbenehmen, doppelt gereimt: vorne und hinten. Das ist nicht jedermanns Sache. Es gibt viele Balbierer, aber nur einen Emanuel Wimke aus Sönnern. So etwas kann selbst der Herr Rektor Klopps nicht verfertigen. – Ich! Leben Sie wohl, Brügelmann.«

Damit zog er den Kopf ein und trollte auf die unbewegliche Wand zu, die immer bedrohlicher in den Himmel hineinwuchs.

Er sah nicht mehr um. Er wollte von dem unheimlichen Schäfer nichts mehr hören und sehen. Nur noch einmal lief es wie ein schartiges Posaunenklingen hinter ihm her: »Wimke, der Heidemann steigt . . .

Dann hörte er nichts mehr.

Auch der Brinkschultenhof nicht. Außerdem – der konnte kaum etwas hören. Fast alle verfügbaren Kräfte waren im Düstermoor, um die während der heißen Sommermonate aufgestapelten Torfkuchen unter Dach und Fach zu bringen. Mit fünf Gespannen arbeitete Ignaz Greving zwischen den Moorstichen und den Liegeplätzen im benachbarten Vorwerk. Eile tat not, denn er setzte alles daran, die einzelnen Frachten noch vor Abend trocken zu stellen. Von Zeit zu Zeit sah er nach der Windrichtung. Das da droben gefiel ihm nicht; auch das stickige Sumpfwasser nicht, das fortwährend weitbauchige Blasen aufwarf, die mit leisem Glucksen an der Oberfläche zerplatzten. Ignaz Greving hatte seine eigenen Gedanken. – Nein, die auf dem Brinkschultenhof konnten kaum etwas hören. Nur etliche Scheuermägde und Ochsenknechte waren zurückgeblieben. Sie hatten vollauf in den Ställen zu schaffen, die Streu zu richten und die Melkeimer blank zu machen. Aber wie es so kam, die Arbeit wollte so recht nicht. Das dumpfige Wetter saß auch ihnen in den Knochen und machte sie schläferig.

Fast jede Verbindung zwischen dem Herrenhaus und den Wirtschaftsgebäuden war aufgehoben.

Juffer Eli hatte heute ihren Tag auf dem Brinkschultenhof. Sie thronte mitten in der geräumigen Küchenhalle zwischen einem Meer von Leinenzeug, das sich wellenartig gegen sie anbauschte. Sie war nicht besonders aufgeräumt, denn fast eine Stunde hindurch hatte sie mit einem ekelhaften Schlickser zu schaffen.

Die Herrin saß bei ihr. Auch sie hatte Weißzeug im Schoß, feierte aber und sah verträumt über die Scheunendächer fort, hinter denen sich die rauchige Wetterwand emporhob, ohne Anstalten zu machen, den Vormarsch anzutreten.

Die Tür zur Diele stand offen. Ein fahles Licht gespensterte dort zwischen den Balkenträgern herum, ohne eine wirkliche Helle zu schaffen. Schatten gingen dort auf und nieder, und aus diesen Schatten heraus ließ sich mattes Hufgestampf und das verlorene Klingeln von Halfterketten vernehmen.

»Whipp!« machte Juffer Eli, erhob sich und trat mit weichen Schuhen an den Herd, auf dem noch einige Flämmchen unter einem Wasserkessel züngelten.

Mit schmalen Fingern griff sie in die Seitentasche, holte ein Schnupftabaksdöschen heraus und verkrümelte eine Portion Spaniol über die angewärmte Herdplatte.

Mit weiten Nüstern sog sie den aufsteigenden Duft ein.

»Was treibt Ihr da?« fragte die Brinkschulte.

»Whipp!« machte die Juffer. »Es ist nur von wegen des infamigen Schlicksers – und dann: es riecht so lecker nach Mannsleut. Wissen Sie, das ist mir immer bekömmlich im Leben gewesen, so 'ne alte Gewohnheit von mir, denn der Geruch läßt mich so lieblich an Jans Sandhage denken.«

»So!« meinte die Brinkschulte mit einem weltfremden Lächeln, drückte sich in den Korbsessel zurück und legte die Hände zusammen, während Eli wieder ihren Platz einnahm, nach Nadel und Zwirn langte und einen neuen Faden einwechselte.

»Könnt Ihr noch sehn?« fragte die Brinkschulte.

»Man ganz miserabel. Das ist ja gerade wie damals, zuzeiten unseres lieben Herrn Jesus auf dem Berge Golgatha, als sich der Himmel verfinsterte und der Vorhang des Tempels mitten entzwei riß.«

Eli beugte sich vor, um besser sehen zu können.

»Um Gott nicht!« meinte sie ängstlich, »da steht ja ein Wetter überm Hellweg – und schwelt wie 'n Kartoffelfeuer – und streckt fünf Finger gegen den Brinkschultenhof. So 'ne fünf Finger . . .

Feierlich spreizte sie die rechte Hand, um sie wieder einzuziehen und in den Schoß fallen zu lassen.

»Mein Gott!« sagte die Brinkschulte und wurde unruhig, »da ist ja wohl Ignaz mit den Gespannen noch draußen. Das wär' ja entsetzlich, wenn das da über ihn käme!«

Juffer Eli sicherte ins Wetter. Dann sagte sie ruhig: »Das hat noch Zeit, Brinkschulte. Whipp! – Das läuft nicht so schnell – das steht da wie 'ne alte Kirschholzkommode und kann den richtigen Dreh noch nicht finden. Das kommt nicht vor Abend herüber. Gut Ding will Weile haben! – aber meine Augen – whipp! – die sind übersichtig geworden.«

»Dann kann Dörte Licht bringen,« sagte die Brinkschulte und rief über die Schulter: »Dörte! – Dörte!«

Aber keine Antwort erfolgte, nicht von der Kammer her, nicht von der Diele her. Drei Minuten vergingen, drei lange, endlose Minuten, und noch immer nichts von Dörte zu sehen.

»Jeja!« meinte schließlich Juffer Eli, wobei so ein paar recht verschlagene Fältchen um ihre Nasenflügel spielten, »whipp! – das sah ich kommen. Die ist taub wie 'ne Walnuß. Erst 'rumkarriolt in Hecken und Hägen, sich veramüsiert auf die Tanzböden, im Düstern herumgewuschert – und nun duselt und döst das.«

Die Brinkschulte warf ihr einen harten Blick zu: »Ihr solltet barmherzig sein, Eli; der Zechentheodor ist ja kaum unter der Erde.«

»Alles schon richtig; aber haltet die Augen auf. So was läßt sich nicht unterkriegen. Das wartet nicht lange; das kutschiert mit vieren einher und brennt wie Fixfeuer. Aber da es noch Zeit ist, so ist meine unmaßgebliche Meinung: tut sie anderweitig in Beköstigung, selbstverständlich nobel und anständig, sonst gibt's noch was auf dem Brinkschultenhofe zu wiegen.«

»Aber, Eli! – ein unvernünftiges Vieh läßt man im Stall, und so ein armseliges Menschenkind sollte man ausklinken und sagen: Hier ist kein Raum mehr für dich; kannst dich anderweitig benehmen?!« und wieder rief sie: »Dörte, Dörte!«

»Jeja!« machte Juffer Eli und gab ihrem Oberkörper eine wiegende, sanfte Bewegung, »es ist ja auch nur meine unmaßgebliche Meinung, wie ich vorhin schon sagte. Da muß jeder selber wissen, was er zu tun hat. Was dem einen bekömmlich ist, ist dem andern noch lang nicht bekömmlich. Ein Mannsmensch kann sich alles erlauben. Da kräht kein Hahn nach, und kein Huhn gackert danach. Ein reputierliches Mädchen hingegen muß auf alles gefaßt sein. Das ist einmal so im menschlichen Leben. Da heißt das: Halte dich proper, oder der Skandal schlägt dir rechts und links um die Ohren. Mit verliebten Nasenlöchern kommt man nicht durch, wenigstens allein nicht. Da gehört noch der Herr Pastor und der Goldschmied dazu. Fehlen die, dann ist die Sache man power. Whipp! – mehr als power, und daher: ich für meine Person würde sie nicht in Kost und Wohnung behalten. Man muß die Dekoration bewahren. Das will nu mal die allgemeine Turnüre. Was hätte die Welt dazu gesagt, wäre ich vorzeitig mit die verliebten Nasenlöcher gekommen? Theophil Schentuleit war doch ein leckeres Kerlchen; aber nicht rühr' an die Sache, von Jans Sandhage überhaupt nicht zu reden – whipp! – überhaupt nicht zu reden . . .«

Ihr Mundwerk glich einem endlosen Faden, und sie hätte diesen Faden noch weiter ausgedreht, wäre Dörte nicht erschienen, rank und schlank wie früher und in ihrem halbgeöffneten Leibchen, aus dem ein kleiner Teil ihres milchweißen Fleisches hervorsah.

Aber sie schien bedrückt, und in ihren Augen standen heimliche Tränen.

»Woher?« fragte die Brinkschulte.

»Aus dem Kuhstall; hab' Kleie gerührt, um Tränke zu machen.«

»Ist Wimke noch da?«

»Mit die Ochsenknechte bei die Jungstiere.«

»Wenn sie fertig sind, soll Wimke noch vorsprechen.«

»Will's bestellen, Madam.«

»Aber vorher Licht anmachen; Eli kann den Tag nicht mehr finden.«

Da ging Dörte, um das Verlangte zu holen. Als sie bald darauf die brennende Lampe auf den Tisch stellte, war es wie ein Stürmen in ihrer jungen, harten Brust, und heiße Tränen liefen ihr über die Wangen.

Die Brinkschulte sah es.

»Was gibt's denn?« fragte sie hastig.

»Nichts,« gab Dörte zur Antwort und wollte mit ihrer noch immer schönen Gestalt wieder zur Türe. Aber in ihrem weißen Gesicht stand eine große Todesmattigkeit.

»Komm mal her,« sagte die Brinkschulte und ergriff die Hand des verschüchterten Mädchens. »Du mußt den Kopf oben behalten und nicht in der Trauer ersticken wollen. Der Zechentheodor kann nicht mehr wirken; für dich nicht mehr und für das andere nicht mehr, was noch keine Luft atmet und noch nicht mit Händchen greifen kann. Dafür bist du nun an die Reihe gekommen, und darum mußt du mit deinem Leid und Elend nicht ganz auseinander. Sorge dich nicht um die Zukunft, wenigstens jetzt nicht, für die nächsten Monate nicht. Du kommst schon nicht um; es wird dir auch nicht gesagt werden: Gehe vor andermanns Tür und setze deine Füße unter andermanns Tafel. So was ist hier und bei den Sattelmeiern niemals Mode gewesen. Wenn es auf mich regnet, dann tröpfelt's auf dich, oder anders gesagt: Wenn für mich die Kornfelder wachsen, dann sollen auch dir die Brotschnitten nicht verwehrt sein. Du bleibst eben bei mir und zwischen meinen vier Pfählen, und wenn es soweit ist, dann soll die Marieke Maraunke alles besorgen – alles. Das lasse dir gesagt sein, und was die Brinkschulte einmal gesagt und versprochen hat . . .«

Sie fuhr sich mit der Hand über die Schläfen, gleichsam um eine alte Erinnerung niederzuzwingen.

»Du verstehst mich doch, Dörte?«

»Ach, Brinkschulte . . .

Und da lag auch schon das arme Ding zu Füßen ihrer Herrin und berührte die umklammerten Hände mit heißen Lippen und in tiefer Bewegung. Sie konnte nicht sprechen, aber es war so, als stände das Herzeleid neben Juffer Eli und sähe sie an und spräche: »Eli, wenn du kannst, so stoße sie von dir. Ja – stoße sie von dir.«

Und sie tat es nicht.

Dörte aber schluchzte und schluchzte.

»Es ist gut,« sagte die Brinkschulte. Mit zarten, schlanken Fingern glitt sie über den blonden Scheitel der vor ihr Knienden. »Nun geh man. Kein Haar soll dir gekrümmt werden, dir nicht und dem nicht, was dem Leben entgegen will. Jeder ist nicht Herr über sein heißes Blut, und die Frühlingsabende sind in diesem Jahr so lau und dunkel gewesen. Nun geh man, und dann, wenn es mit den Jungstieren soweit ist: Wimke soll kommen.«

Da hob sich Dörte auf, in sich gefestigt und mit freierem Nacken, und ging ihres Weges – über die Diele und von hier über den Hof, wo das Laub an den Eichenbäumen wieder zu rauschen begann und wunderliche Dinge erzählte.

Juffer Eli hatte sich erhoben. Sprachlos und mit wehen Gedanken verfolgte sie den Weg, den Dörte gegangen war.

Sie stand mit sich in schwerem Kampfe und wußte nicht, wie sie den Augenblick ansprechen sollte.

Es war eine tiefe Stille geworden, die nur von dem Säuseln des Laubes unterbrochen wurde, das sich bald von der linken Seite auf die rechte Seite bewegte, bald von der rechten zur linken, um dann wieder träge und faul an den Zweigen zu hängen.

Ab und zu zirpte die Lampe dazwischen, fein und wie unter einem Schirtingvorhang heraus, ähnlich dem Zirpen einer verspäteten Grille, wenn die Welt schlafen möchte und die ersten Sterne aufblinzeln wollen.

In dieser Stille und dem geheimnisvollen Zirpen stand Juffer Eli und sah noch immer in das wachsende Dunkel hinein, das von der Diele her langsam, aber stetig vorrückte.

Allein Dörte erschien nicht wieder.

Da kam es über Eli wie eine Selbstanklage.

»Brinkschulte,« sagte sie schmerzlich, »das von eben . . . Brinkschulte, das ist mir von so ungefähr zwischen die Zähne gekommen; denn wie Ihr so mit Dörte spracht, so von dem heißen, unruhigen Blut und den warmen Frühlingsabenden, die nicht hell werden wollen . . .«

Die Rührung übermannte sie. Das Weinen war ihr nah.

»Brinkschulte,« sagte sie schluchzend, »das, was ich über sie gesagt hab', das kann ich jetzt nicht mehr für voll estimieren. Und wenn wir uns nicht mehr wiedersehn sollten im Leben – ich und Dörte nicht . . . Brinkschulte, man kann alles nicht wissen . . . Da muß ich ja . . . da muß ich das von soeben doch reparieren, denn ich war ganz niederträchtig. Und wenn sie auch selber nichts gehört hat – ich kann mir nicht helfen: meine eigenen Gedanken brennen mir ein Loch in die Seele . . . und unhonorig bin ich niemals gewesen.«

Damit wollte sie hinter Dörte her, ganz auseinander und mit einer großen Portion Selbstanklagen auf dem Herzen; allein die Brinkschulte hielt sie zurück.

»Eli,« sagte sie bestimmt, »das hat jetzt keinen Zweck. Ihr würdet mehr verderben als gut machen. Aber es freut mich, daß Ihr noch immer Euren guten Engel bei Euch habt. Soeben ist er an Eure Seite getreten. Und das mit Dörte . . . später vielleicht. Es braucht nicht heute und morgen zu sein. Ihr findet sie immer. Und wenn Ihr sie findet, dann sagt ihr ein gutes Wort, das macht ihr die Tage sonniger und die Arbeit bequemer.«

»So soll's denn auch sein,« meinte Eli, tupfte sich mit dem Taschentuch gegen die Augen und placierte sich wieder zwischen ihr Leinenzeug, das sich feierlich aufbauschte und ganz unaufdringlich in das Zirpen der Lampe hineinknisterte.

»Ich kann mir nicht helfen,« fuhr sie leise fort, und es glich einem scheuen Echo, das von ihren Lippen kam, »aber, Brinkschulte, Ihr gehört zu denen, die man nicht auskennt, so groß und doch so absonderlich. Und was Ihr vorhin erzähltet, dabei ist mir fast die Luft vergangen – und daher: es wird schon seine Richtigkeit haben.«

Damit beugte sie sich vor, rückte am Lampenzylinder und stocherte den Docht etwas höher, wobei sie plötzlich zurückschreckte. War da nicht etwas Schattenhaftes vorübergegangen?

»Um Gott nicht!« sagte sie mit verhaltener Stimme; dann schrie sie auf: »Da steht ja . . .«

Ein bleiches Gesicht hatte sich in den Fensterrahmen geschoben – und sagte nichts und war stumm und starr wie das Grauen, das es mitgebracht hatte.

Und hinter ihm, weit nach dem Düstermoor zu, kam ein verlorenes Murren herauf, langatmig und ausgezogen, als wollte es kein Ende nehmen. Aber kein Leuchten saß darin und keine Stimme, die zuerst wie eine Peitsche knatterte und dann dumpf und majestätisch zwischen Himmel und Erde rollte.

Die Brinkschulte wandte sich.

»Was wollt Ihr?« fragte sie heftig. Auch sie hatte an Fassung eingebüßt.

»Brinkschulte, daß ich's man sage,« versetzte der Spökenkieker und zeigte mit dem Daumen der rechten Hand über die Schulter, »ich bin eben von Wimke aus dem Kuhstall gekommen. Von dem hab' ich's. Der Feuermensch ist öfters in Sönnern und stellt sein Mordio auf. Vielleicht auch heute. Hei is dem Düwel ut 'n Tornöster sprungen.«

Sie entsetzte sich anfangs, bezwang sich aber und sagte: »Das stimmt nicht, und außerdem, es kümmert Euch nicht und kümmert uns alle nicht. Man kann dem alten Jaspers doch nicht Sönnern verbieten.«

»Aber den Brinkschultenhof,« konstatierte Karl Mersmann und knöchelte dabei auf dem Fensterrahmen herum, »den kann ich ihm verbieten, denn Ihr habt mir mal selber gesagt: Wenn Not an mich kommt – Kardel, dann bist du der nächste dazu.«

»Ja, das hab' ich gesagt.«

»Soll denn ein Wort sein,« grinste der Spökenkieker. »Und wenn er nach hier kommt und will Euch das Kreuz brechen« – langsam streckte er die geballte Faust vor sich her – »Brinkschulte, dann bin ich der nächste dazu. Dann sitze ich zur rechten Hand Knipperdöllings, um zu richten die Lebendigen und die Toten.«

Die Brinkschulte versuchte zu lächeln.

»Ja – dann seid Ihr der nächste dazu,« sagte sie nachdenklich, »aber die Sache pressiert nicht. Der Hof hat jetzt seine schöne Genügte. Da kommt keiner mehr heran, auch der alte Jaspers nicht. Aber da drüben im Moor, über den Hellweg fort, da pressiert's. Da will ein Wetter herauf. Könntet wohl mal nach Ignaz sehn, ob alles noch seinen richtigen Gang hat. Ihr tätet mir einen Gefallen damit.«

»Gerne,« sagte der Spökenkieker, und ein seliges Behagen glitt über das Gesicht des Gottesnarren, selig und glücklich, »aber das mit Knipperdölling – Brinkschulte, das sitzt bei mir wie 'n Bremsenstich; das ist nicht in den Sand geschrieben. Hö, Knipperdölling . . .

Straff und stur trat er vom Fenster zurück, schritt über den Hof der dunklen Wand entgegen, die nicht leuchten wollte, die nicht knattern wollte, die nicht vorwärts noch rückwärts drängte, aber sich drohend aufhob, wie eine schwarze, riesige Pantherkatze mit gelben Lichtern, um im geeigneten Moment niederzuspringen.

Die Brinkschulte sah ihm lange nach.

Auch Juffer Eli. Dann biß sie nervös den Faden durch und wächste und wächste.

 


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