Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Zwanzigstes Kapitel

Dann krähten die Hähne . . .

Bald darauf machte sich Heinrich Tillbeck auf den Weg nach Sönnern. Als er über den Hof schritt, hörte er bereits das Klappern der Holzpantoffeln. Tore wurden auf- und zugemacht. Die Knechte waren schon munter. Sie gingen an ihre Arbeit, schweigend und mit aller Gelassenheit.

Als sie Heinrich Tillbeck sahen, zogen sie ihre Mützen herunter.

Die Stallmägde steckten die Köpfe zusammen.

Es war also kein Geheimnis mehr, was gestern Abend passiert war.

Auch Ignaz Greving kam ihm entgegen.

Er war noch voll von schweren Bedenken. Der gestrige Tag hatte ihn unsanft gerüttelt. Es war, um die Kränke zu kriegen. Der schöne Braune lag im Torfwasser und sank immer tiefer. Aber er, der Großknecht, konnte nicht lange darüber nachgrübeln. Der Morgen brach an, und das Leben wollte Betätigung haben.

So trat er denn an Tillbeck heran.

»Gut,« sagte er in bedachtsamer Breite, »daß wieder ein Herr auf den Hof kommt. Das jagt die Ratten aus den Ställen und gibt Aufmunterung. Ick gröte Ju, Tillbeck.«

Er reichte ihm die Hand.

Da schlug dieser ein.

»Ich danke Ju, leiwe Mann,« und er musterte ihn und sah, daß Ignaz verläßlich und überlegt und ein prächtiger Mensch war.

»Auf fröhliche Arbeit zusammen.«

»Soll ein Wort sein,« erwiderte Ignaz. »Toujours en vedette,« und sah ihm nach, als er den Hof verließ und den Feldweg einschlug, der an dem alten Birnbaum vorbei gen Sönnern führte.

»Gott sei gedankt!« sprach er in sich hinein, »nu ist mal der Rechte gefunden. Freue dich, Brinkschultenland! – Der reitet ohne Trense und Kandare und überreitet alles, was gegen ihn anoperieren will. Ja, ja – ick gröte Ju, leiwe Mann. Amen!«

Er dehnte sich, daß die Gelenke knackten, ging hierauf den Pferdeställen zu und sah nach den Raufen.

Hinter dem Schwarzen Holz, das noch zur Gemarkung des Hofes gehörte, zündete der junge Tag seine Fackel an. Langsam hob er sie auf, langsam flogen die ersten Funken den grauen Himmel entlang. Dann schob er sie höher, mächtiger, wuchtiger. Das Schwarze Holz lag wie eine riesenhafte Silhouette auf einer flammenden Folie. Die Fackel sprühte und glühte. In den Lachen der Fahrgeleise, die das gestrige Wetter geschaffen hatte, spiegelten sich rote, zuckende Garben. Die Regentropfen, die von allen Rispen und Gräsern hingen, erinnerten an böhmische Granaten. Blut rieselte vom Himmel, legte sich über die Gehölze, spreitete sich über die Äcker. Wie in Blut getaucht, hob sich eine verspätete Lerche empor. Eine unendliche Blutsee deckte die Ebene. Es war so, als wäre die lange vorhergesagte, furchtbare Schlacht am Birkenbaum schon im Gange gewesen. Und in diese brünstige Glut hinein schritt Heinrich Tillbeck, hinter sich die unglückseligen, seligen Stunden, vor sich eine Welt der Arbeit und eine Welt des Genießens. Unter ihm ruhte die Mutter Erde, das Weib mit dem Brotgeruch, sich maßlos dehnend und streckend, bis dorthin, wo die schmale Pappelreihe den Horizont abgrenzte. Bis dort lief Brinkschultenacker. Bis dorthin reichte sein Arm und seine Machtbefugnis. Er sah schon im Geiste ein endloses Meer von rauchenden Halmen, das Umarmen und Kosen der Ähren, der Spelze und Grannen, die Brautnacht des Kornes in ihrem liebevollen Geben und Nehmen. Und dann wiegendes, wogendes Gold! – unaufhaltsam, eine sanftbewegte See, die weder Anfang noch Ende hatte. Und dann hörte er das Schwirren der Sensen. Die dem Tode geweihten Felder starben, um wieder zu leben. Tod und Erlösung! Arbeit und Auferstehungsfreude . . .!

Ein wohliges Gefühl schwellte seine Brust, denn neben sich wähnte er das Weib, dessen Hände ihm alles gegeben.

Da wandte er sich noch einmal.

Tief, gegen die Hügelkette an, ruhte der Brinkschultenhof. Der Morgen hatte ihn in Purpur getaucht. Und unter diesem Purpur . . .

»Josepha . . .!« hauchte er leise. Sein ganzes Denken klammerte sich an diesen Namen.

Dann nahm er wieder seinen früheren Schritt auf.

Eine halbe Stunde später, kurz vor Sönnern, ging die erste Morgenglocke über die Erde.

Wie das klang, wie das tönte . . .!

Auch Jans Stedink hörte sie.

Er stand vor seinem kleinen Spiegel und streifte die Hemdärmel zurück.

Auch er dachte an Arbeit und an den vorhergehenden Mittag und Abend.

Wo Heinrich Tillbeck nur blieb? Stundenlang hatte er gestern vor seiner Haustür gewartet – im Sonntagsrock, in schwüler Verfassung, gewärtig, was da kommen sollte. Aber Tillbeck kam nicht und kam nicht.

Schließlich hatte er das Warten aufgegeben.

»Wer kennt Menschen aus, die sich was Heimliches zu sagen haben,« meinte er hierauf und ließ alles seinen geregelten Gang gehn.

Und dennoch verbrachte er die Nacht unter Unruhe und schwerem Nachsinnen.

Er trat ans Fenster und sah die Dorfstraße entlang.

Einzelne Tagelöhner gingen vorüber. Das war alles.

Der ›Fröhliche Anton‹ gegenüber hatte noch die Läden vor.

»Na, der auch!« meinte Jans Stedink, »der sielt sich im Bett bis in den hellichten Tag hinein,« trat vom Fenster zurück und knöpfte seinen Vollbart hinter die Weste. Hierauf legte er das Schurzfell um und band die Riemen zusammen.

In der Küche hörte er bereits sein Bäschen rumoren.

Also – zum Morgenkaffee . . .!

Er fuhr in die rußigen Holzschuhe . . . als er plötzlich aufhorchte.

Es klang wie feierliches Glockenläuten von der Straße herauf.

»Ist denn der Küster des Deiwels! – oder, Jans Stedink, du bist selbst des Deiwels geworden . . .

Immer eindringlicher, immer herzhafter riefen die Glocken. Stahl auf Stahl! – Donnerwetter, da saß ja Feuer darin und Halleluja und siegfrohe Verkündigung! So jubelten sie am Ostermorgen, wenn die Stachelbeeren ihre grünen Spitzen durchtrieben und die Menschen sich bei den Händen nahmen und sagten: Christ ist erstanden!

Jans Stedink horchte und horchte.

Plötzlich lachte er hell auf.

Das war ja gar kein Glockengeläut! Das war ein Hämmern auf Eisenstangen – tief und voll und groß und schön! Das war das Geläut seines eigenen Handwerks! Das kam aus seiner eigenen Schmiede heraus . . .

»Hei!« rief Jans Stedink da aus, »so'n alter, lederner Bock, wie ich einer bin, so'n ausgelernter Schmiedekönig, und sich so übertölpeln zu lassen! Na denn – um dessentwegen und aus besonderen Gründen ...«

Und er knöpfte die Weste wieder auf und brachte seinen schwarzen Vollbart zum Vorschein. Würdig glitt er durch die seidenfadigen Strähnen und ließ sie gegen alle Gewohnheit und Sitte über das rußige Schurzfell fließen.

Und Gottes liebe Sonne fiel darüber her und bestickte sie mit Hunderten von roten, glitzernden Funken.

So ausstaffiert, in seiner ganzen Größe und Freude, trat er über die Schwelle und begab sich nach unten.

An der Treppe stand schon sein Bäschen, frisch und blond wie eine milchweiße Semmel, und sagte: »Ohm, er ist wiedergekommen.«

»Ruhe, Ruhe . . .!« gebot er. »Keine Aufregung, sonst springt mein Herz noch über den Kirchturm. Ruhe, immer man Ruhe.«

Aber er fand sie selbst nicht.

»Hei!« rief er zum andern, »der kommt mir gepfiffen,« und trat in die Schmiede.

Hier pflanzte er sich auf.

Glut und Feuer! – und durch Glut und Gehämmer hindurch klangen ihm Worte wie Harnischgerassel zu und doch Worte, die mit Frühlingsblumen bekränzt waren. Und also lauteten sie:

»Siegfried den Kammer wohl schwingen kunnt.
Er schlug den Amboß in den Grund;
Er schlug, daß weit der Wald erklang
Und alles Eisen in Stücke sprang . . .«

Jans Stedink stand da wie angewurzelt. Das war ja prächtig! Herrgott noch mal, das war ja, um den Menschen an sich zu reißen! Wie er da schaffte bei Tau und Tag, seine letzte Arbeit unter Feuer und Hammer: eine Bestellung der Gradierwerke in Soest. Und das Läuten, das Läuten . . .! – und in dieses Läuten hinein die flammende Weise:

»Nun hab' ich geschmiedet ein gutes Schwert,
Nun bin ich wie andere Ritter wert;
Nun schlag ich wie ein andrer Held
Die Riesen und Drachen in Wald und Feld.«

»Bravo!« rief Jans Stedink und verschränkte gemächlich die Arme, »schlag man, schlag man, das gibt Licht und Luft und gute Gewohnheit. Um dessentwegen stehst du am Amboß. Aber mir ist so, Tillbeck: du hast die längste Zeit am Amboß gestanden. Schade ums Handwerk! – aber du hast was gelernt bei der Sache. Davon profitiert man im Leben. Offen und ehrlich: hast du dir nicht gestern dein Glück zusammengeschmiedet? Ja oder nein! – und darf ich nicht sagen:

Hermann, sla Lärm an,
Lat piepen, lat trummen –
Die Hochzeit will kummen . . .?!«

»Ja,« sagte Tillbeck und stellte den Hammer beiseite, »ja, Meister, die Hochzeit will kummen.«

Und da standen sich die zwei gegenüber, Auge in Auge, Stirn gegen Stirn und Hand in Hand. Und Jans Stedink wurde ernst und nachdenklich und großartig, wie ein alter Schmiede- und Innungsmeister aus der Vorzeit. Und als solcher sprach er denn auch: »Glück herein! Gott grüße ein ehrbar Handwerk. Mit Gunst! So nimm denn einen ehrlichen Abschied von deinem Meister, Sonntag zu Mittag, nach dem Essen; denn es ist nicht Handwerksgebrauch, daß einer in der Woch' aufsteht. Geh auch zu deinen Freunden und Bruderschaften, bedanke dich bei ihnen und sage: Gott behüte Euch alle zusammen. Und damit: ich wünsche dir Glück zu Wege und zu Stege, zu Wasser und zu Land und wo der liebe Gott dich immer hinsenden mag. Und er sendet dich auf den Brinkschultenhof, auf daß du ihn hegen und pflegen magst nach altem Erbsälzerrecht und guter Gewohnheit. Und kommt ein Wetter, so bücke dich, aber nur so lange, wie du es vor dir selber verantworten kannst. Sonst schlage wieder, denn allzuvieles Bücken bringt Schaden. Und halte dein Weib in Ehren. Es ist etwas Hohes und Heiliges, ein stilles und seltenes Weib zu besitzen. Um dessentwegen noch einmal: viel Glück und Gunst auf dem Wege. Es ist gerne gegeben und kommt von 'nem braven Mannskerl.«

»Ich danke Euch, Meister, es soll mir nicht vergebens gesagt sein.«

»Das weiß ich, Tillbeck. Ein solches Weib ist ein Geschenk des Herrn und eine Freude im Leben. In ihm liegt das Heil der Tage, ein zufriedenes Sterben und ein fröhliches Auferstehn.«

»Und dann,« sagte Tillbeck, und das Herz trat ihm in die Stimme, und Tränen waren dazwischen, »möge es mir vergönnt sein, mit diesem Weib zu sitzen, wie Ihr gesessen habt mit dem Euren unter dem Birkenbaum, gesegnet von Gott und geliebt von den Menschen.«

»So soll es sein,« entgegnete Stedink, und er wischte sich mit der Hand über die Augen, »nur das Glück unter dem Birkenbaum ist ein zu kurzes gewesen. Ihm blieb das Blut vorzeitig stehn. Euch sei es doppelt zugemessen; ich behalte mir das Leid.«

Da sahen sich die beiden Männer an, lange und eindringlich, und da war es so, als wäre der Geist der seligen Frau durch die Schmiede gegangen. –

Auf dem Brinkschultenhof steckten sie noch immer die Köpfe zusammen, unter Wetterleuchten und Wettergrollen war eine Botschaft gekommen, die die Gemüter rüttelte und schüttelte und schließlich dem einen und andern die Worte abnötigte: »Wenn es denn sein mußte, so ist Tillbeck der Rechte gewesen.«

»Jawoll,« sagte der alte Brügelmann, »das stimmt schon, wenn ihn auch der verfluchtige Balbierer ins Haus prophezeite. Mit Ehren gekommen und mit Ehren in die Freite gegangen. Da ist gar nichts dagegen zu reden. Ich für meinen Teil mache 'nen Strich unter die Sache und sage Ja und Amen dazu.«

»Ich will für meine Person zu wissen tun,« mischte sich Holthövel, der Pferdeknecht, ins Gespräch, »daß ich die nämliche Meinung vertrete. Einer, der sich gestern abend so barbarisch forsch im Düstermoor herausmusierte, und wenn darüber auch der Braune koppheister ging, der hat Kurasch in den Knochen – und so was haben wir nötig.«

»Bravo!« sagte Ignaz Greving, der aus der Geschirrkammer trat und sich zu den übrigen gesellte. Wie immer, so behielt er auch jetzt seine beschauliche Ruhe und seine langsame Stetigkeit im Reden.

»Er ist aus dem Paderbörnschen,« meinte er nach einiger Überlegung. »Da pfeift im Winter 'ne besondere Sorte von Wind über die Gegend, und so was schafft 'nen klaren Verstand unter die Mütze. Und denn: er hat bei die Husaren gestanden. Das ist auch nicht so ohne. Und denn: ich hab' ihn gesehn, als er auf der Asbecker Scheid hinter dem Pflug herging. Wie er die Leine führte, die Gäule ansprach, den Pflugbaum herumschmiß und Gasse neben Gasse legte, toujours immer dasselbe, haarscharf und wie mit dem Lineal gezogen, das habe ich alles vor Augen bekommen, und da mußte ich sagen: Der kann noch viel mehr, denn er hat das Zeug in sich, richtige Befehle zu geben. Und sie, was die Brinkschulte ist . . . Es geht ein tiefdeutiger Spruch durch die westfälischen Menschen: Wenn eine ein gelöschtes Kerzenlicht aus einem glimmenden Docht wieder anblasen kann, dann ist sie zeitlebens 'ne reine Jungfer geblieben. Vor einigen Tagen ist so was geschehn. Einen glimmenden Docht hat sie wieder ins Leben geblasen. Das unterfertige ich mit meiner eigenhändigen Unterschrift, und daher: wenn so eine aus freiwilligen Stücken einen Herrn und Schaffer über sich setzt, so muß er von besonderer Art sein, und unsereins, der hier in Lohn und Beköstigung steht, kann sich den neuen Herrn und Schaffer gefallen lassen und sagen: Was die Madam tut, ist Gotteswerk und Gotteswille.«

Da nickten ihm alle zu und freuten sich und waren eins mit Ignaz Greving. Jeder fühlte heraus: hier ist einer deinesgleichen zu hohen Ehren gekommen.

»Und daher denke ich,« fuhr Ignaz in seiner breiten und sicheren Umständlichkeit fort, »halten wir's mit Heinrich Tillbeck und geben ihm die Ehre, wie wir's allzeit mit der Madam gehalten und ihr die Ehre erwiesen haben.«

Da traten alle auf ihn zu, und jeder einzelne hob die Hand und legte sie in die dargebotene Rechte.

Auch Brügelmann tat es in tiefer Bewegung und mit einer gesuchten Feier und Form.

Dann aber nahmen seine hellen, ausgebleichten Augen einen eigentümlichen Glanz an.

»Ich kann mir nicht helfen, Großknecht,« sagte er hierauf, und in seiner Stimme lag eine gewisse Sorge und Bekümmernis, »einer wird Mordio schreien.«

»Hier einer vom Hofe?« fragte Holthövel.

»Ja – hier einer vom Hofe.«

»Einer von uns, die wir hier stehn?« meinte ein anderer.

»Unter uns ist kein Judas,« versetzte Brügelmann. »Er ist auch selber kein Judas, den ich in meiner Überlegung besitze. Das will ich nicht gesagt haben und nehm' es zurück. Er kann nicht dafür, wenn ihm die Sache nicht richtig zur Hand steht, denn seine Gedanken sind nicht seine Gedanken. Solche Gedanken stehen wie Hopfenstangen im Wind. Aber er wird Mordio schreien.«

»Dann ist es der da,« sagte Ignaz nach kurzem Besinnen und zeigte auf das Fenster im Obergeschoß, hinter dem das Zimmer des Spökenkiekers lag.

Allein der alte Schäfer drückte ihm entsetzt die Hand nieder und meinte, indem es in seinen blassen Augen aufleuchtete wie ein Licht von einem hohen Berge herunter: »Es geht noch ein anderer Spruch durch die westfälischen Menschen. Er ist ebenso richtig und erwiesen wie der, den Ihr soeben genannt habt. Großknecht, wenn Ihr mit dem Finger auf ein Wetter zeigt, dann schlägt's ein.«

Alle fühlten den tiefen Sinn des Gesagten und machten krause Stirnen und Sauerampfergesichter.

»Wenn Ihr hiermit Karl Mersmann genannt haben wollt,« versetzte Ignaz, »dann kann ich Euch vermelden: er ist nicht auf der Kammer, er ist überhaupt seit gestern abend nicht mehr in unseren vier Pfählen gewesen.«

»Haha! – sagte ich's nicht?« orakelte der Alte. »Der fängt schon an, der schreit sein Mordio schon in die Welt hinaus, um dann wiederzukommen. Der hat noch mit Heinrich Tillbeck zu sprechen.«

»Wie meint Ihr das?« fragte Ignaz.

»Ganz einfach. Er ist treu wie'n Pudel und harmlos wie'n Junge am Kommunionstag. Aber wer ein Auge auf die Madam wirft . . . So'n Beil ist ein arbeitsames Ding in verständiger Hand und tut keinem was an. Es ist geschaffen, um Holz zu kloppen und 'nen Latierbaum zu schälen, aber es kann auch des Satans werden, und dann haut es Menschenknochen zusammen. Ich sage Euch, Großknecht, Karl Mersmann kommt wieder.«

»Und ich sage Euch, Brügelmann, daß er im Moor ist, vielleicht schon drüber hinaus, vielleicht auch nicht. Einer hat gestern abend noch sein Brüllen gehört. Dann ist's still geworden zwischen Torf und Bülten.«

»Das hat Euch einer gesagt?«

»Soeben – einer vom Vorwerk, ein Sachsengänger.«

»Und weiß die Madam es?«

»Ich habe Dörte beauftragt . . . aber was hilft's noch? Ist er drüber hinaus, muß man abwarten, was kommt. Ist er noch drin, na – dann kann ihm keiner mehr helfen.«

»Ihr glaubt also . . .?« fragte der Alte, und seine verwaschenen Blicke schlichen sich eigentümlich von einem zum andern.

Ignaz dachte nach. Er war ein Mann, der nichts übereilte. Schließlich schien er mit sich einig geworden, denn er sagte mit eisenfester Gemessenheit: »Möglich, er hat das letzte Heu auf die Raufe genommen. Und nu an die Arbeit!«

Da gingen sie still und versonnen auseinander, ein jeder auf seine Stelle.

Eine Viertelstunde später, gerade als der alte Brügelmann austreiben wollte, kam Order aus dem Herrenhaus, die eben begonnene Tätigkeit einzustellen und mit allen verfügbaren Kräften abzumarschieren, um Mersmann zu suchen.

Ignaz schüttelte den Kopf.

»Unnütze Arbeit,« kaute er gedehnt vor sich hin »aber denn los man dafür.«

Und da zog er mit seiner Kolonne ab, mit Stricken und Leitern und mit allem, was nötig war, um die gefährlichen Stellen des weiten, schweigsamen Moors betreten zu können.

Bedrückt gingen sie über den Hellweg, ins Leere, ins Ungewisse hinein – ernste Menschen, grübelnde Menschen, um nach einem irren, vermißten Leben zu suchen.

Gaukelnde Vögel schwankten mit ihnen. Es waren Kiebitze, die schon an ihre südliche Pilgerfahrt dachten.

»Wo die fliegen,« sagte Ignaz zu Holthövel, der in tranigen Stiefeln neben ihm herschritt, »da kann unsereins man schwer hinterher pfeifen.«

»Stimmt,« meinte Holthövel, »und wenn ich so alles besinne, dann bin ich derselbigen Meinung. Ignaz, ich tu Euch zu wissen: der sieht das Leben nicht wieder.«

»Nee,« sagte Ignaz, »der sieht das Leben nicht wieder,« und seine Blicke suchten das weite, braune, unermeßliche Moor ab. –

Der Geist des Spökenkiekers ging durch alle Kammern des Hofes.

Er war in den Ställen, auf der Diele, er sah in die Küche hinein und machte die Mägde, die am Backtrog standen und den Feuerherd bedienten, ängstlich und verstört, daß sie sich kleinlaut zusammendrängten.

Er trat in die Kammer, wo die Brinkschulte saß und ihrer großen Liebe gedachte, und legte ihr die Hand auf die Schulter.

Karl Mersmann . . .!

Sie fuhr mit der Hand über die Stirne.

Er war ihr seit vierundzwanzig Stunden in weite Ferne gerückt. Sie hatte nicht mehr an ihn gedacht. In ihrer grenzenlosen Verzweiflung, ihrer tiefen Not und in ihrer jubelnden Freude war er ihr aus dem Gedächtnis entschwunden.

Jetzt dachte sie wieder an ihn – an ihn und den Alten. Aber was ihr von den beiden noch drohen konnte, hatte allen Schrecken für sie verloren. Mochte jetzt kommen, was wollte. Die durchlebten Stunden hatten sie auch hierin gestählt. Alles nahm für sie eine andere Fassung und Form an. Die Schuld war von ihr genommen. Sie fühlte sich sieghaft – sieghaft durch ihn und sich selber. Sie freute sich des endlich errungenen Friedens. In ihm lag die Ruhe und das Glück des Erkämpften. Ein seliges Gefühl durchrieselte sie. Sie ging wie durch klingendes, singendes Land, und ihr Herz war eine jubelnde Lerche.

Den Brief an ihre Freundin zerriß sie.

Er war zwecklos geworden. –

Ums Dunkelwerden kehrte die ausgesandte Mannschaft zurück. Sumpf- und Torferde haftete an ihren Kleidern. Wortkarg waren sie ausgezogen, wortkarg und abgerackert setzten sie sich zum Abendbrot nieder.

Ignaz begab sich zur Herrin.

Sie sah ihn fragend an.

Er war mit leeren Händen gekommen.

»Nichts,« sagte er bedrückt vor sich hin. »Nur das hier. Sie hat zwischen Pfriem und Heidekraut gelegen.«

Er zeigte die Laterne, die der armselige Mensch am Abend zuvor von sich geschleudert hatte.

»Alles, Madam.«

»Und sonst keine Spuren?«

Er zuckte die Schultern: »Brinkschulte, in dem unermeßlichen Moor auch . . .! Es ist vergebliche Mühe gewesen.«

Schweigend winkte sie ab.

Hinter ihm klinkte die Tür zu.

Ein breiter, glutfarbiger Streifen fiel ins Zimmer. Da verklärte sich alles.

Josepha Brinkschulte wurde von dieser Glut übergossen.

Ihr Haar leuchtete auf wie flimmerndes Gold.

Der Horizont brannte.

Gott der Herr steckte ihr die Hochzeitsfackel an. Flammengarben züngelten zum ewigen Himmel – groß, heilig, allmächtig.

»Sei stark, meine Liebe,« hauchte sie leise. »Siehe weder zur Rechten, noch zur Linken. Fürchte dich nicht. Werde nicht kleinmütig. Verzeihe denen, die dir den Staub von den Flügeln nehmen. Denke barmherzig . . . Also geschehe es.«

In allumfassender Menschenliebe sah sie in das Antlitz der untergehenden Sonne. –

Anderen Tages fuhr sie nach Dortmund.

 


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