Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Einundzwanzigstes Kapitel

Nun kamen stille, beschauliche Tage. Die fetten Sonnenblumen, die wie dickleibige Kornhändler die Bienenstände im Garten des Brinkschultenhofes umstanden, blühten ab und setzten ihre violettfarbigen Samenscheiben an. Kopfüber hingen Blau- und Kohlmeisen daran und klaubten die öligen Früchtchen aus. Mit ihrem scharfen Gezerr machten sie schnelle und prompte Arbeit.

Der letzte Hafer war eingebracht, und das ›Tock, tock, tock‹ der Dreschflegel zog wie stramme Militärmusik über die Stoppelfelder. Die aus der Nachbarschaft antworteten im gleichen Tempo, und da sagten die Leute:

»De Wind gait üover de Stoppeln
Un hört de hültenen Klocken . . .
Nu wird's Winter.«

Blatt um Blatt senkte sich tiefer, drehte sich im Kreis herum, um sich schließlich zu den anderen zu betten. Mit vielen spielte der Herbstwind noch lange, und jetzt fühlten sie erst, wie schön und köstlich es war, sich frei und ungehindert in den laulichen Lüften bewegen zu dürfen.

Wildgänse zogen vorüber.

Eine stete Friedsamkeit umhegte die absterbende Natur, das Welken und Vergehen in ihr, nur zeitweise unterbrochen von dem Lärmen der Drosselvögel in den Ebereschen, die ihre flammenden Korallenbüsche strotzig aufgesteckt hatten.

Graue Regenwolken, naß wie Schwämme, zogen vergrämelt über die Landschaft.

Je mehr die Tage sich kürzten und die Nächte sich längten, um so stiller ward es von dem alten Jaspers und dem Spökenkieker. Sie blieben verschollen. Es fiel kein Licht in ihr geheimnisvolles Verschwinden. Auch die Anfragen in den zunächst gelegenen Ortschaften und Kirchspielen verliefen im Sande. Nur so um Mitte Oktober herum kam einer aus dem Lippischen, ein Mann, der in der Fremde gewirtschaftet hatte, nun aber wieder in Sönnern erschien, um sich selbständig zu machen. Er unterhielt einen fliegenden Laden mit Manufakturwaren. Allwöchentlich kutschierte er mit seinem Planwägelchen und einem struppigen, bissigen Ponny bei den Bauern und Kolonen herum, um seine bedruckten Kattune und grellilluminierten Taschentücher, seine neuesten Schnürriemen und Hosenträger an den Mann zu bringen. Dieser wollte nun den von Gott Gezeichneten vagabundierend in einem Dorf bei Salzkotten angetroffen haben, wie er hungernd von Tür zu Tür ging und die Hände aufhielt. Dabei habe er heillos gepredigt und die Schlacht am Birkenbaum für die allernächste Zeit angekündigt, in welcher Jan van Leyden und Knipperdolling mit scharfen Rasiermessern ein großes Blutbad anrichten würden. Auf Anruf jedoch sei er irr und wirbelsinnig ins Weite geflüchtet. Allein die Erzählung war so vage und die Ausführungen trugen so sehr den Stempel des Aufgebauschten an sich, daß die vom Brinkschultenhof die Mitteilung einfach beiseite schoben und Ignaz Greving totensicher erklärte: »Karl Mersmann ist nur zwischen Bruch und Bülten zu finden.«

Also auch hier nichts Bestimmtes, nichts Greifbares. Wie gekommen, so zerrannen auch hier die einzelnen Spuren. Es waren eben Spuren im Sande.

Da vergaßen die Menschen, und doch waren erst Wochen vergangen. Nur die Brinkschulte vergaß nicht. Heimlich ließ sie Rundfragen ergehen, setzte sich mit den maßgebenden Behörden in Verbindung und versuchte alles, sich über das Geschick des armseligen Menschen zu vergewissern. Aber auch ihre Mittel versagten. Immer dichter zogen sich die Gardinen zusammen. Karl Mersmann zerging gleich einem hastigen Schemen. Da nahm auch sie die Dinge hin, wie sie lagen. Ihr inneres Leben hellte auf. Mit jedem Tage strahlte ihr die Sonne schöner und reiner. Wohlige Wärme umgab sie. Niemals war sie so insichgekehrt, aber auch niemals frohgemuter gewesen. In dieser Stimmung sah sie die Sonnenblumen abblühen und die Astern sich entfalten, hörte sie auf das monotone Brechen des geernteten Flachses und den militärischen Schritt der Dreschflegel. So war sie zufrieden und glücklich. Jeder Tag war ihr wie ein köstliches Fest und jede Stunde, die sie mit Tillbeck verlebte, wie eine stille, heimliche Andacht.

Mit Eli hatte sie wichtige Besprechungen, bediente sich ihres Rates und ihrer geschäftigen Nadel, und wenn diese vom Brinkschultenhof kam, fand sie nicht Worte genug, die Sattelmeierkrone und den zukünftigen Brautstaat zu schildern, geheimnisvolle Dinge über das kommende Fest zu verbreiten und das ausbündige Glück der Liebenden unter die Leute zu bringen.

Emanuel Wimke horchte auf. Seine besten Gedichte, die er im Laufe der Jahre verfaßt hatte, gingen ihm durch den Kopf. Er fand sie minderwertig. Er mußte etwas Großes, Niedagewesenes schaffen, denn es unterlag keinem Zweifel, daß er die Rolle des Hochzeitsbitters zu agieren hatte. Bei seiner letzten Anwesenheit auf dem Hof hatte er schon etwas zum besten gegeben. Aber das war nach seiner eigenen Ansicht nicht erschöpfend genug, hatte den richtigen Schwung nicht. Nur der Schlußsatz gefiel ihm unter allen Umständen:

Marjo! – wie immer es geschah –
Dann geht die Musik ›Trullala.‹

Das konnte jedenfalls benutzt werden. Im übrigen war ein ganz neues Gebilde zu schaffen. So saß er denn in heißer Arbeit und mit heißen Gedanken über einem Papierbogen, reimte und zermarterte sich den Kopf, als gelte es, sich das ewige Heil zu erdichten. Und gelang ihm ein Vers, dann knallte er mit seinen schlenkrigen Fingern so lustig in der Barbierstube herum, daß man glauben konnte, eine spanische Tänzerin hätte mit ihren Kastagnetten geklappert.

So zog denn die Freude und die bevorstehende Hochzeit der reichen Anerbin die weitesten Kreise. Fast die ganze Umgegend wußte davon.

Aber wie das so ist, einer gehörte zu den unwissenden Leuten.

Das war Simmchen Löwenthal in Werl. Denn als der Spätsommer Abschied nahm, stellte sich bei ihm ein infames Zucken und Zerren in seinen Gangwerkzeugen ein. Nach einem großartigen Kuhhandel hatte er das jammerselige Reißen mit nach Hause gebracht. Das prickelte und bohrte, als seien ihm die schadhaften Zähne in die Beine gefahren. Die Tage wurden ihm zur Last und die Nächte zu Quälgeistern. Eine sorgsame Einreibung mit Senfspiritus brachte keine Hilfe. Flanellbinden und Wattepackungen versagten. Der Doktor konstatierte: harnsaure Salze.

»Was tu ich mit die harnsauren Salze?«

»Salzschlirf,« sagte der Doktor.

»Waih geschrien! – Salzschlirf . . .!« – und Simmchen zählte die enormen Kosten zusammen.

Aber es half ihm nichts. Er mußte Haare und Goldstücke lassen. Eines Tages pilgerte er mit Blümchen nach der gepriesenen Stätte, kümmerte sich nicht mehr um alltägliche Dinge, sondern erwartete gottergeben den Tag der Verheißung.

Endlich sollte er kommen.

Simmchen schwelgte in gehobener Stimmung. Neuverjüngt entstieg er der menschenfreundlichen Quelle.

»Wie'n Gott . . .!« sagte Blümchen.

Lahm und marode war er eingezogen, kregel und mit fixen Tanzmeisterbeinen nahm er gerührten Abschied von Salzschlirf und dem Bonifaziusbrunnen.

»Der Gott Abrahams möge sie segnen!«

Als er in Werl ankam, war es bereits spät im Jahre geworden. Er wunderte sich über den raschen Gang der zuletzt durchlebten und durchlittenen Wochen. Anderen Tages hörte er von der neuen Verlobung.

Er und Blümchen freuten sich herzlich darüber. Das war Ende Oktober – und noch an demselben Abend . . .

Was war das nur?

Simmchen traute seinen Augen nicht.

Leise, traumhaft, mit sanftem Auf- und Niederwiegen schwebten die Schneeflöckchen vom grauen Himmel. So ging das Stunde um Stunde, mit derselben Ruhe, mit demselben Wiegen und Gleiten und dem seligen Schaukeln und Träumen, das nicht aufhören wollte. Flöckchen bettete sich an Flöckchen, schmiegte sich auf Dächer und Gesimse, spreitete sich über die winkligen Straßen und Gassen, so daß die Leute von Werl wie auf Eiderdaunen gingen.

»Wo lieblich!« sagte Simmchen und versuchte, die einzelnen Sternchen zu zählen.

Es war so, als verlöre sich alles in einer weichen Lautlosigkeit. Dann ließ das Schneetreiben nach.

Frühzeitiger denn sonst hatte sich der Winter eingestellt. Schon Ende Oktober fielen die Goldammern in hellen Scharen in die kleine Stadt ein, bummelten in den Höfen und vor den Ausspannungen herum und machten gemeinsame Sache mit den Spatzen und Haubenlerchen.

Am ersten November bezog der liebe Gott die Fensterscheiben mit köstlichem Spitzenwerk und bepinselte die Nasen der Menschenkinder mit einem zarten Hauch von Karmin. Der Schnee zwitscherte unter den Schuhen, und nadelscharfe Eiskristalle glitzerten durch die stahlblaue Luft, die des Schneiens müde geworden.

Weiße Taubenschwärme trugen das köstliche Winterlicht auf ihren Schwingen.

An diesem Tage saß Frau Blümchen Löwenthal in ihrem wohldurchwärmten Zimmer am Fenster, rührte in ihrem Kaffeeschälchen herum und sah mit großen, schwarzen, mehr runden als mandelförmigen Augen auf die Straße hinaus, wo einige Jungen in der gefrorenen Gosse die Bahn schlugen oder, wechselseitig die Ständer anziehend, von dem einen auf das andere Bein hoppelten.

Die Tür des Nebenzimmers stand geöffnet. Dort hing ein feines Damenkleid mit kurzen Ärmeln an einem Garderobenhalter, über und über gefältelt und von einer Farbe, die die indigoblaue Tapete des Zimmers, in welchem Frau Blümchen Löwenthal sich niedergelassen hatte, noch übertrumpfte – ein blauer Traum, ein blaues Gedicht, blau wie die Nächte am See Genezareth.

Ein leichter, unaufdringlicher Duft nach Knoblauch und Zimtborke durchräucherte beide Stuben; nicht körperlich – mehr seelisch, durchgeistigt, etwa so, wie die Rosen von Amathont noch weitentlegene Küsten umspielen.

Die Zimt- und Knoblauchdüfte wiegten sich auf zarten Falterschwingen, waren wie feinmaschige Ideen, die kaum noch Ideen genannt werden konnten.

Und Frau Blümchen sog mit stillem Behagen und süßer Befriedigung diese feinmaschigen Ideen ein.

Wir kennen Simmchen Löwenthal; wir wissen, daß er ein Mann nach dem Herzen Gottes war. Das war auch seine Frau. Wer sich aber nach ihm ein Bild von ihr zurechtgelegt hätte, der hätte verkehrte Pfade eingeschlagen und wäre schließlich auf den Holzweg geraten.

Simmchen hatte ein gesprenkeltes Nazarenergesicht. Klein und hager aufgewachsen, war er mit seinen sechzig Jahren noch immer ein viver Mann. In seinen verschleierten Augen lag die Poesie des Rahmkäses und das märchenselige Gurren frommer Turteltauben. Er hatte nie ein böses Wort auf den Lippen. Seine Gedanken standen auf Ausgleich und Frieden, und seine Rede war freundlich.

Frau Blümchen hingegen war eine resolute, zugreifende Dame, die über eine energische Perücke verfügte, straff wie Pferdehaare und von einer Farbe, die entschieden an die Tönung einer Roßkastanie erinnerte. Sie neigte zur Überfülle, trug aber ihren stattlichen Busen mit Würde und ließ von den Ohrläppchen aus ihre goldenen Gehänge wie zierliche Glöckchen klingeln. Sie hielt etwas auf sich, und das nicht ohne Grund. Von jeher hatte sie sich mit dem üppigen und gefeierten Weib aus dem Hohen Lied Salomonis verglichen. Kein Tag verging, wo sie nicht vor den Spiegel trat, ihre derben Reize betrachtete und jedesmal in die Worte ausbrach: »Blümchen, deine Backen stehen lieblich in den Spangen und dein Hals in den Ketten. Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du unter den Töchtern des Landes, und deine Augen sind wie Taubenaugen.« Dann legte sie sich straffer in die Bluse hinein und zitierte weiter: »Deine zwei Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge am Quell, die unter Rosen weiden, und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Würzen.«

Und dann lächelte sie und zierte sich dabei wie eine fettleibige, überständige Henne, besonders, wenn sie ihr Indigoblaues anzog und Simmchen in der Nähe war. Und Simmchen nickte dazu, legte betrüblich das Gesicht auf die Seite und seufzte still vor sich hin: »Es stimmt; nur – das is vor fünfuntzwantzig Jahren gewesen.« Und dennoch war Blümchen eine treffliche Hausfrau und ein Weib ohne jegliches Arg unter dem Brusttüchlein.

Also – Blümchen Löwenthal rührte in ihrem Schälchen herum. Ihre Seele war heiter, und ihre Finger waren so fleischig und mit Grübchen versehen, daß sich das Kaffeelöffelchen darin wie ein kleines Mäuschen versteckte. Aber sie blitzten von Ringen und Steinen, denn Frau Blümchen liebte es, sich mit seltenen Kleinodien zu schmücken und sie in die richtige Beleuchtung zu stellen.

Ab und zu tippte sie mit ihren patschigen Weißwürstchen zur Seite und entnahm einer lackierten Dose rundliche Dinger, die sie fingerfertig in den Mund hineinpraktizierte.

Sie kaute Rosinen und mochte die fünfundzwanzigste verspeist haben, als draußen die Haustür anklingelte und Simmchen erschien. Auf weichen Füßen trat er ins Zimmer, stellte den Zylinder auf die Anrichte und ging auf Blümchen zu.

»Du bist eine Blume im Tal un eine Rose ßu Saron,« sagte er lieblich und rieb seine steifen Hände gegeneinander.

Da lächelte Blümchen verschämt in sich hinein und meinte, um doch etwas zu sagen: »Was Neues, Simmchen?«

»Nu,« sagte dieser, »was soll es geben Neues in Werl? Ich habe Geschäften gemacht, un die Papiere steigen. Aber was ich sonst habe gehört, is schofel gewesen.«

»Un ich hab' was Schönes gehört. Ich bitte dir, Simmchen, was siehst du hier neben?«

»Nu, ich sehe dein Indigoblaues.«

»Un ich will's aufmunterieren lassen mit 'ner neuen Festionierung.«

Simmchen winkte wehleidig ab.

»Du bist nich mehr in die Tage der Jugend,« sagte er ernst vor sich hin. »Was soll's daher mit die neue Festionierung?«

»Soll ich mir halten ßu alt? Ich bitte dir, Simmchen, wo doch der Herr Bürgermeister gesagt hat auf Königs Geburtstag: Sie geht wie'ne Fenus! – un daher: für dekolletiert laß ich's machen.«

»Gut,« sagte Simmchen, »laß es dir machen dekolletiert.«

»Tu' ich auch, Simmchen, denn du weißt nich, wer gekommen is, mir ßu besuchen.«

»Wer is denn gekommen, dir ßu besuchen?«

»Herr Wimke aus Sönnern.«

»Püh!« machte Simmchen, »er is ein guter Mann un ein pläsierlicher Mann; aber er hat schlenkrige Fingers. Ich habe nich gerne ßu tun mit schlenkrige Fingers.«

»Ich sage dir, Simmchen, er hat liebreich gesprochen ßu mir.«

»Püh!« machte Simmchen, »er is ein unterhaltsamer Mann un ein Witzenmacher; aber er is ein unbewußter Mann hinsichtlich dem Winde. Spricht er mit dem Herrn Pastor, behauptet er, die Kirchensteuer sei viel tzu niedrig gegriffen; spricht er mit dem Herrn Szeitungsredakteur, is er ein Demokrat; spricht er mit dem Herrn Schandarmen, dann is er ein preußischer Draufgänger. Ich habe nich gerne die Menschen, die pfeifen auf verschiedene Löchers.«

Blümchen stand auf und warf sich energisch in ihre Bluse hinein: »Aber er macht feine Gedichte, un er hat mir angedichtet, der Herr Emanuel Wimke.«

»Weuß ich,« konstatierte Simmchen in seiner unerschütterlichen Ruhe, »er macht in schöne Gefühle. Aber was tu' ich mit die schönen Gedichte un die schönen Gefühle, wenn er einem damit balbiert den ehrlichen Namen herunter? Herr Wimke is ein pläsierlicher Mann, aber er hat mir verhohnepiepelt durch die Gewalt, als die Dreitzehners haben getrommelt in Dortmund un er mir fragte: Hat Ihnen das auch Ihr Vetter Zodik ertzählt, wo is gelernter Kommis bei's reiche Haus Siegfried Gutmann in Dortmund? Nein – ich habe nich gerne die Menschen, die einen verhohnepiepeln mit die schönen Gefühle. Ich schmeiße sie von mir.«

Damit machte er eine Bewegung mit der rechten Hand über die Schulter, als müsse er ein Stück verdorbenes Fleisch in den Rinnstein werfen.

»Wenn ich dir aber nu sage: er is hier gewesen mit 'ner Invitation ßu die Hochßeit. Un dann hat er weiter gemacht, um ßu fahren nach Dortmund.«

»'ne Hochßeit?« fragte Simmchen ganz auseinander.

»Nu, die von die Brinkschulte – un du bist auch invitiert, wenn sie stehn wird unter die Chuppe mit dem Herrn Heinrich Tillbeck aus Sönnern.«

»Blümchen, wir ßwei beide, un das wirklich geladen . . .?!«

Blümchen nickte pompös, aber herablassend.

»Die Ehre!« rief Simmchen und griff hinter sich. Dann ging er rücklings, Schritt für Schritt, bis er sich an das mit gehäkelten Deckchen geschmückte Sofa herangefühlt hatte. Dort ließ er sich nieder und sagte mit zittriger, glückseliger Stimme, nachdem er zuvor die Hände gottergeben zusammengelegt hatte: »Was 'ne Frau! – was 'ne Frau! – Blümchen, was hab' ich immer gesagt? Die Brinkschulte is 'ne ehrliche Frau, 'ne unschuldsvolle Frau, 'ne Frau mit 'ner auserwählten Bewunderung. Der Gott Abrahams segne sie un lasse sie eingehn nach einem gottwohlgefälligen Leben in 'ne schöne Bewährung.«

»Un ihre Seele sei eingebunden im Büchlein der Lebendigen,« setzte Blümchen hinzu und rückte dabei ihre kastanienbraune Perücke zurecht, während Simmchen noch immer nicht aus seiner Verwunderung herauskommen konnte und ein Mal über das andere Mal ausrief: »Gott, was 'ne Frau! – Sie muß einbalsamiert werden mit köstliche Kräuter aus Afrika! – Blümchen, was stehst du, was kuckst du? Uns armselige Judenleute hat sie invitiert ßu ihre christkatholische Hochßeit un die schweinernen Schinkens . . . Ich bitte dir, Blümchen, hol' mir Tinte un Schreibpapier . . . Ich muß das alles niederlegen. Ich muß ihr schreiben, was sie 'ne majestätische Frau is.«

»Simmchen, hab' dir nich so! Es is nu satt un genug mit die feine Bewölkung. Man meint ja, sie wäre 'ne richtig gehende Förschtin. Wir sind aber auch noch Leut'!«

»Weuß ich,« bestätigte Simmchen.

»Un können auch was prestieren.«

»Weuß ich,« bestätigte Simmchen zum andern.

»Dann balsamiere nich so! – Un außerdem: hast du ihr nich immer abgekauft die Hammels un die Schafwull' un die andern Perdukte? Hast du ihr nich immer ehrlich beßahlt mit die preußischen Kassenscheine? Hast du nich immer gesagt, der alte Herr Jaspers is ein schofeler Mann un hat die Trebers gefressen mit die amerikanischen Schweine? Hast du ihr nich beraten in ihren miserabligen Nöten, um ihr ßu geben den Frieden in ihrem eigenen Hause, als er sie hat drangsalieren wollen durch die Gewalt? Un deshalb meine ich auch: sie hat 'ne auserwählte Ehre, wenn wir kommen, denn wir sind doch auch Leute von 'ner gewissen Bekömmnis.«

»Weuß ich,« bestätigte Simmchen zum letzten und ließ die Unterlippe herunter; »aber sie is doch 'ne majestätische Frau un 'ne richtig gehende Förschtin.«

»Simmchen hat recht,« sagte in diesem Augenblick eine feierliche Stimme aus dem Nebenzimmer, in welchem das Schneelicht einen weichen Glanz über das Indigoblaue gelegt hatte. Und aus diesem Schneelicht trat einer zu den beiden und faltete seinen schwarzen Bart auseinander.

Simmchen sprang auf.

»Wahrhaftiger Gott, der Herr Stedink!« sagte er freudig und brachte einen auserwählten Diener zuwege.

»Nichts für ungut, Simmchen. Ich hatte in der Stadt zu tun, und da habe ich mir die Ehre genommen.«

»Ganz auf unserer Seite, Herr Stedink, ganz auf unserer Seite! Hier meine Frau Blümchen,« stellte er vor, »un hier der Herr Stedink aus Sönnern, der mir kommt tzu besuchen. Wollen Sie sich nich setzen aufs Sofa, Herr Stedink? Wollen Sie nich ßu sich nehmen ein Schnäpschen von dem südlichen Weine? Er is immer bekömmlich. Blümchen, was stehst du, was kuckst du? Der Herr Stedink möchte haben ein Schnäpschen von dem südlichen Weine. Aber der mit die blaue Etikettierung.«

Jans Stedink winkte lächelnd ab.

»Eine Tasse Kaffee tut's auch,« sagte er ruhig, ließ sich aber auf das Sofa nötigen und stellte seinen Hut vor sich hin, während Simmchen einen Stuhl heranrückte und Blümchen in umständlicher Weise ein Schälchen mit Kaffee zurechtmachte.

Jans Stedink schmunzelte eine Zeitlang vor sich hin, dann legte er dem Handelsmann und Produktenhändler die Hand auf die Schulter und meinte: »Eigentlich bin ich so hergeschneit, um mir bei Euch 'nen guten Rat zu holen.«

»Herr Stedink, womit kann ich dienen? – Mit's Perduktengeschäft, dem Kuhhandel oder mit die südlichen Weine?«

Stedink überhörte die verschiedenen, zungenfertigen Angebote und sagte: »Ihr wißt ja, Simmchen, daß nu alles auf dem Brinkschultenhof in Schick und Richte gekommen ist.«

»Weuß ich, Herr Stedink.«

»Und daß so in vierzehn Tagen herum Hochzeit gemacht wird.«

»Weuß ich, Herr Stedink . . .!« – und Simmchen fuhr elektrisiert in die Höhe: »Blümchen, was stehst du, was kuckst du? Hol' doch 's Indigoblaue herein und ßeig's dem Herrn Stedink. Wir sind auch invitiert, un Blümchen wird erscheinen dekolletiert. Ich bitte dir, Blümchen, ßeige dir gleich mit's Indigoblaue. Der Herr Stedink kennt sich darauf.«

»Das schon,« meinte Jans Stedink, »aber ich für meine Person muß auch Anstalten machen. Der alte Sonntagsrock tut's nicht mehr. Da muß ein neuer heran. Für dessentwegen bin ich nach Werl gekommen, habe mir bei Isaak Spier 'nen frischen anmessen lassen und bin nun mit 'ner Düffelprobe hier, damit Ihr, Simmchen, als sachverständiger Mann den Stoff begutachten sollt, denn ich bin nicht so recht beschlagen mit's Wollzeug.«

Damit hatte er die Probe aus der Rocktasche hervorgezogen und sie Simmchen gegeben.

»Die Ehre, die Ehre!« sagte dieser und trat mit dem Düffelstreifen ans Fenster.

Blümchen zierte sich wie 'ne Tanzmamsell und plinkte über den Tisch fort.

»Der versteht's, Herr Stedink,« sagte sie siegesgewiß; »denn er is von jeher ein auserwähltes Stück von 'nem Wullkenner gewesen. Aber ich bitte Ihnen, Herr Stedink, sich freundlichst bedienen ßu wollen.«

Damit schob sie ihm das Sahnekännchen und die Zuckerschale hin, während Simmchen den Stoff befühlte, einzelne Fäden herauszerrte und sie zwischen den Fingern zermürbte, die Selfkante auf ihre Festigkeit prüfte, die Ware als solche beroch und dann in die Worte ausbrach: »Grandiose Wull! – Es is auch ein reelles Haus, das Haus Spier un Söhne. Es beßieht von die feinsten Häuser in Aachen. Nu, wer kennt nich Simon Hirschkuh in Aachen! Gott, welche Leute! Sie sind reicher als Rothschild, sagt mein Vetter, wo is ein angestellter Kommis bei's reiche Haus Siegfried Gutmann in Dortmund. Fühlen Sie selber, Herr Stedink. Brillanter Düffel. Prima Qualität. Streichgarn mit 'nem Einschlag von Merinowull. Sie können's nehmen, Herr Stedink. Es wird Ihnen bekömmlich sein ßu Ihre heroinische Position, un wenn Sie ihn anßiehn, den Düffelrock, un kommen auf die große Festivität, Sie werden aussehn wie'n richtiger Kommerßialrat aus Preußen.«

»Na,« sagte Stedink, »dann will ich's man nehmen. Man muß doch der Brinkschulte und dem Heinrich Tillbeck die Ehre erweisen. Im übrigen schönen Dank für die Auskunft. Und wenn Ihr mal selber 'nen guten Rat brauchen könnt, der in mein Fach schlägt – Ihr wißt ja, Simmchen, ich heiße Jans Stedink, und dessentwegen bin ich immer zu haben.«

Damit schlug er auf sein Chemisettchen, daß es wie sein Schurzfell aufrasselte.

»Pompös!« sagte Simmchen. »Blümchen, bist du meschugge? Bewundere doch den Herrn Stedink in seiner schmiedlichen Forschheit.«

Das tat denn auch Blümchen, während Jans Stedink zum Zeichen des Aufbruchs seine Kaffeetasse über den Untersatz stülpte und sich nochmals bedankte.

Hierauf erhob er sich langsam, schüttelte Blümchen und Simmchen die Hände und meinte: »Auf frohes Wiedersehn in vierzehn Tagen.«

»Ah! – auf die Hochßeit!« lächelte Blümchen.

»Soll ein Wort sein,« versicherte Simmchen, fragte aber, als sein Besuch sich bereits zwischen Tür und Angel befand: »Herr Stedink, wie steht's aber mit dem alten Herrn Jaspers? Ich kenne ihn in seiner kalten Bewußtlosigkeit. Gott, ob ich ihn kenne, den alten Herrn Jaspers! Wird er auch nich stören das Fest durch seine gefährlichen Redensarten?«

»Der?« fragte Jans Stedink und trat ins Zimmer zurück. »Der stört keine Hochzeiten mehr.«

»Woso nich, Herr Stedink? Vielleicht macht er doch noch 'ne kleine Rebellionierung.«

»Auch das nicht.«

»Aber ich bitte Ihnen, Herr Stedink! – Der Fuchs legt sein rötliches Haar ab, aber er legt nich ab seinen alten Sinn, um ßu drangsalieren die Hühnerställe un so was. Er is ein gewalttätiger Mann, der alte Herr Jaspers.«

Da räusperte sich der Schmiedemeister, und das Gelbe in seinen Augen nahm einen eigentümlichen Glanz an. Hierauf griff er in seinen fließenden Vollbart, schlug einen Knoten hinein und löste ihn wieder. Etwas Zwingendes ging von ihm aus.

»Wie'n König . . .!« sagte Simmchen. »Blümchen, er steht wie ein König.«

»Simmchen,« versetzte Jans Stedink, »ich habe das Gefühl: der Mann kommt nicht wieder. Der drangsaliert die Brinkschulte nicht mehr und die Hochzeit nicht mehr. Der legt den Ausständigen keinen brennenden Schwamm mehr unter den Hintern, wenn sie wieder die Wetterführung zertöppern und die braunen Straußenfedern von den Schornsteinen nehmen. Und wenn er auch käme: dem Brinkschultenhof setzt er nicht mehr den roten Hahn auf die Scheune. Gottverdammich, das nicht! Dafür ist Heinrich Tillbeck jetzt da, um Ordnung zu halten. Der Mann ist wie ich. Der hat Eisen im Blut, und so was gibt Kräfte. Und er kann sagen wie ich: Ich heiße Heinrich Tillbeck, und wer mir nicht für voll estimiert, der kann für dessentwegen seine eigenen Backenzähne schlucken. – Nee, Simmchen, der Mann kommt nicht wieder.«

»So wird er zurück sein ßu die Vereinigten Staaten.«

»Möglich, auch nicht möglich. Ich glaube jedoch: er ist nicht über das große Wasser gegangen.«

»Aber wohin denn?«

»Ja, wenn einer das wüßte. Der ist gegangen, wie er gekommen ist – so wie es Eisensteine vom Himmel regnet. An dem Tage indessen, wo Ignaz im Moor war und der schöne Braune verunglückte, ist er auf dem Hof gewesen. Dann hat Dörte gesehn, wie er im Nebel dem Hellweg zuging – ganz zerschlagen und wie ein Gerber, dem die Felle auf und davon schwammen.«

»Aber ich bitte Ihnen, Herr Stedink . . .

»Und es war Nebel, handfester Nebel, und was so'n Nebel bedeutet . . .«

Simmchen sah den gewaltigen Mann von der Seite an.

»Ja, was so'n Nebel bedeutet . . .« sagte er kleinlaut.

»Da kann alles passieren,« ergänzte Jans Stedink, und das Gelbe in seinen Augen zog einen Vorhang über. »Das Düstermoor hat seine Nucken und Naupen, und man versinkt in ihm wie in haushohe Asche. Ich will nichts gesagt haben, Simmchen; aber mit dem Tage ist der Alte nicht mehr nach Sönnern und nicht mehr nach Dortmund gekommen. Mag's so bleiben, denn mit ihm ist 'ne Plage aus der Gegend vertrieben, die grindig war und Menschen und Vieh malträtierte. Um dessentwegen ist mir nicht bange. Aber was merkwürdig ist: mit ihm ist Karl Mersmann verschwunden, total von der Erde verschluckt – weg – fort – nicht mehr zu sehn.«

»Herrgott im hohen Himmel da droben!« rief Simmchen und schlug die Hände zusammen. »Aber wenn über sie is gekommen der Engel mit die schwarzen Flügel, der Malach Hamoves – der Herr sei mit ihnen. Amen, Sela!«

»Sehr schön von Ihnen,« sagte Jans Stedink. »Indessen – da steht der oben dafür. Uns aber soll's nicht im Wege sein, 'ne fröhliche Hochzeit zu feiern. Das sind wir der Brinkschulte und dem Heinrich Tillbeck schuldig. Also denn auf Wiedersehn. Und damit will ich mich empfohlen haben bis später.«

»Habe die Ehre, habe die Ehre . . .

Und Blümchen dienerte und sagte, ihr Indigoblaues passe sehr gut zu dem neuen Düffelrock, und es solle überhaupt eine allgemeine Pläsierlichkeit werden.

Und Jans Stedink nickte noch einmal zurück und trat dann in seiner ganzen Größe und Kraft in Gottes helle, kalte Novembersonne hinein, die den jungen Schnee mit tausend und abertausend Fünkchen und Sternen überglitzerte.

Und er kam an einer Schar Kinder vorbei, die in der spiegelklaren Straßenrinne die Bahn schlug. Und als er so dahinschritt, ein alter Recke, mit langem, wehendem Vollbart, da drängten sich alle ängstlich zusammen, steckten den Finger in den Mund oder die Hände unter die Schürzen, und so ein dralles, blondköpfiges Mädchen tuschelte ängstlich: »Da kommt der Nikolasmann.«

Aber ein pfiffiges Judenjüngelchen mit Korkzieherlöckchen, dem Isaak Spier sein Ältester, wußte es besser. »Nein,« sagte er bestimmt und ließ ein Nasentröpfchen in den bitterkalten Schnee fallen, »das is der Herr Stedink aus Sönnern, wo hat gekauft 'nen Düffelrock bei meinem Vater – zwei Talers die Elle, um zu heiraten die schöne Frau Brinkschulte von dem Brinkschultenhofe.«

 


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