Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunzehntes Kapitel

Inzwischen . . . ja, da war sie während des Schreibens öfters aufgestanden, war ans Fenster getreten und hatte mit klopfender Brust in den Abend hineingehorcht.

Ein leiser, weicher Wind spielte in den Zweigen.

Sie sah die Schatten der Bäume sich im Nebel auf- und niederbewegen.

Weiter reichte ihr Blick nicht.

Aber sie hörte deutliche Rufe aus der Ferne, vom Vorwerk her, über den Hellweg fort. Es war so, als kämen sie näher. Dann aber schienen sie wieder in eine unbestimmte Weite zu rücken.

Und niemand kam, ihr Nachricht über die Vorkommnisse in den Torfstichen zu bringen.

Sie hatte Karl Mersmann doch Order gegeben.

Das dauerte ewig.

Sie war mit ihrer Verzweiflung allein und von aller Welt abgeschnitten. Jenseits des Hofes schlief das weite Land hinter einem undurchdringlichen Vorhang.

Nichts Störendes, nichts Unruhvolles. Sie horchte und vernahm jetzt eilige Schritte, die über die Fliesen gingen, sich dann aber nach oben verloren.

Das mußte Karl Mersmann sein. Warum erschien er nicht? Sie wartete doch schon lange auf ihn. Aber er kam nicht. Um so deutlicher wurden die Schritte über ihr. Hastig gingen sie auf und nieder. Schränke und Stühle wurden gerückt, Schubladen auf- und zugeschoben. Plötzlich nahm das Treiben über ihr an sinnloser Wut zu, als sollte eine Plünderung stattfinden. Dann polterte es auf der Treppe, und die Tür wurde geschlagen, die ins Freie führte.

Er wollte also fort und sie im Ungewissen lassen.

Da schickte sie Dörte hinter ihm her.

Es dauerte fünf Minuten, bis diese zurückkehrte.

»Er ist nicht zu halten,« sagte sie kleinlaut, »denn als er hörte, der alte Jaspers sei hier gewesen, hat er 'ne Stallaterne genommen und ist nochmals auf den Hellweg gegangen.«

»Er hat wieder seinen hellsichtigen Tag,« meinte die Brinkschulte, scheinbar gefaßt und doch bis ins tiefste getroffen.

Bald darauf hatte sich das Entsetzliche zwischen Karl Mersmann und dem alten Jaspers begeben. –

Als Dörte fort war, ging die Brinkschulte zu ihren Papieren zurück. Sie beschloß, nicht mehr an diesen Unglücklichen zu denken und nur der gegenwärtigen Stunde zu leben. Sie kramte in alten Dokumenten herum. Das Testament ihres Großvaters und das ihres Vaters kamen ihr nochmals unter die Hände: verschnörkelte Sätze und Schriftzüge, die aber das Eigenartige und Stiernackige ihrer Niederleger in jeder Zeile verrieten. Sie las etliche Wendungen immer und immer wieder. Die harten, kernigen Worte taten ihr wohl. Da lag noch urgesunde Kraft drin, kein Wanken und Rückwärtsschreiten. Und diese urgesunde Kraft strömte in sie über wie eine spurfeste Welle. Sie hatte sie nötig. Jaspers trat ihr wieder in den Sinn. Endlich war der verhängnisvolle Knoten durchschlagen.

Sie fürchtete nichts mehr. Auch den letzten Trumpf nicht, selbst auf die Gefahr hin, ihre Ehre wie ein Bettelweib verspottet zu sehen. Das hatte sie sich immer gesagt: Deine Liebe geht über Dornen; möglich, daß du an dieser Liebe verblutest. Gut denn, sie mochte verbluten, aber es mußte alles klar werden, um mit freier und offener Stirn vor Heinrich Tillbeck treten zu können, sonst: der Fluch haftete ihr an, wo sie den Segen erflehte, und keine Macht war imstande, die Sünde von ihr zu nehmen.

Eilig sichtete sie die einzelnen Dokumente, schnürte sie zu einem Bündel zusammen und schob sie zur Seite. Hierauf überflog sie noch einmal die Zeilen, die sie auf einem großen Bogen niedergelegt hatte. Es war der Entwurf eines Testamentes, das sie in den nächsten Tagen vor Notar und Zeugen zu betätigen hatte.

»Alles liegende und bewegliche Eigen, alles, alles . . .« sagte sie ruhig. »Es ist schon das beste. Eine starke Hand ist erforderlich, wenn diese hier die Zügel verliert. Herrenfaust hält den Pflug blank, und ich will, daß der Brinkschultenhof allzeit unter blankem Pflug ist. Also geschehe es . . . und Dörte . . .! – Wenn auf dem Hof die Kornfelder reifen, dann sollen auch für dich die Brotschnitten wachsen – für dich und das Kind. Drum hab' keine Furcht. Wenn ich nicht mehr bin – das Vorwerk hat Garten und Ackerland genug, um dich über Wasser zu halten. Also für dich ist gesorgt. Nur Dörte, wenn es dahin kommen sollte – einen Rosenkranz für mich bitte ich mir aus. Den wirst du für die Brinkschulte schon übrig haben. Man kann alles nicht wissen. Vielleicht wird es doch gewertet im Himmel. Vielleicht . . .?! – Ja, es wird gewertet im Himmel, denn einer lebte auf Erden, der kein Schriftgelehrter war und kein Priester am Altare, aber er sagte: Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken . . .«

Auch dieses Schriftstück legte sie zu den andern; dann nahm sie einen Briefbogen und reihte mit ihrer kräftigen und schönen Hand Zeile an Zeile. Sie schrieb an die Freundin in Dortmund. Bald zögernd, bald fließend setzte sie Gedanken neben Gedanken. Nach viertelstündigem Schreiben war sie zu Ende. Dann las sie ohne jede Erregung:

»Geliebte! Du erinnerst Dich doch noch des Tages, als wir beide auf der Asbecker Scheid standen. Damals gaben sich die Eichen in ihrer ganzen Sommerpracht, und eine herrliche Mannsgestalt ging hinter dem Pflug, anzuschauen wie einer, der das klingende Leben vor sich hatte. Jetzt sind die Felder leer, und die Eichenblätter kränkeln dem Herbst entgegen – aber der Herr ist gekommen. Du wirst aufjubeln, wie ich aufgejubelt habe. Ich bin ganz offen zu Dir, ich verhehle Dir nichts. Ich habe diese Stunde herbeigesehnt, wie man ein unendliches Glück herbeisehnt, denn ich bin auch ein Weib, und mein Blut will in die Arme des Mannes hinein. Du schriebst mir damals: Meine Feder hat den Erdenstaub von sich getan. Das mag Dir seltsam erscheinen. Aber über so etwas zu sprechen, gibt Flügel. – Auch mir sind in dieser Stunde Flügel gewachsen. Ich bin eben namenlos glücklich geworden, und doch steht die Verzweiflung neben mir. Denke an mich, und vergegenwärtige Dir die Madonna von der Soester Börde. Früher und heute! – Ich bin nicht wiederzukennen. Ich gehe durch Licht, und dennoch schreite ich durch Finsternis. Aber es soll hell um mich werden, wenn diese Helle auch in eine namenlose Trauer hineinführt. Das sind Gegensätze und Widersprüche. Aber sie sind nun einmal da und lassen sich nicht fortwischen. – Was früher geschehn ist, darüber bist Du keinem Rechenschaft schuldig, so lautete eine Stelle Deines vorletzten Briefes. Du machst recht haben, Marie, aber einem gegenüber bin ich Rechenschaft schuldig. Da sind Spuren vorhanden . . . und trotzdem trete ich erhobenen Hauptes unter die Scharen von Frauen, die freimütig sprechen können: Wir haben nur reine Liebe gekostet. – Auch hier sind Gegensätze, die unüberbrückbar erscheinen, und dennoch zähle ich mich zu den schuldlosen Frauen. Warum das? Um dies zu erklären, müßte ich weit ausholen, müßte mich mit Dingen befassen, die den Hauch des Todes in sich tragen. Das möchte ich Dir ersparen. Gib Dich mit dem Gesagten zufrieden. Und warum ich das alles schreibe . . .? Ich will, daß Du mich richtig beurteilst, wenn ich nicht mehr bin. Ein toter Mund kann nicht mehr sprechen. – Ich stehe vor einer schweren Stunde. Gleich muß sie kommen. Es geht um Leben und Sterben, um köstliches, sonniges Leben, aber auch um fröstelndes, trostloses Sterben. Möglich, daß in diesem Sterben Erlösung liegt. Lebe wohl und halte mich lieb. Grüße Mann und Kinder. Ich küsse Deine guten, treuen Augen. Gott sei mit Dir und mit mir.

Deine

Josepha.«

Sie falzte den Bogen und kuvertierte ihn – mechanisch, wie gewöhnlich, ohne dabei etwas zu denken. Jetzt, wo er geschrieben war, behandelte sie den Brief wie jeden andern, wie eine Geschäftssache, wie ein Ding, das für sie abgetan war für jetzt und immer. Mit derselben Gleichgültigkeit schrieb sie die Adresse und siegelte – langsam und mit einer erklügelten Umständlichkeit. Sie wollte weiter nichts, als die Zeit totschlagen. Das lenkte ab. Man betäubte sich doch auf Minuten hinaus. Man gab seinen Gedanken eine andere Richtung. Die Notwendigkeit des Geschehens wurde so hingehalten, und man konnte vergessen.

Dann sah sie auf.

Draußen schlug der Hund an.

Wirre Rufe kamen durch den Abend, und das Rollen von Wagen ließ sich vernehmen.

Gleich darauf erschien Dörte.

»Sie sind da,« sagte sie stammelnd, »sie sind schon im Hof: Ignaz und die Gespanne . . . Auch die andern sind da . . . Nur der eine Braune ist im Moorwasser geblieben . . .«

»Ich will keinen mehr sehen – keinen. Verstehst du?«

Da ging Dörte.

Sie aber horchte auf.

Sie vernahm eine klare, zuversichtliche Stimme. Das war seine Stimme. Sie hörte, wie er Befehle gab und die Hilfsmannschaften aus der Nachbarschaft abfertigte. Er dankte ihnen und hieß sie morgen wiederkommen. Jedes Wort klang deutlich herüber. Er gab Orders an die Knechte . . . an Ignaz . . . Ein beifälliges Murmeln setzte ein. Alle schienen zu folgen, willig, ohne Widerrede. Er tat so, als wäre bereits alles in seine Hand gelegt worden.

Er tat so . . .?

Ein Leuchten flog über ihr geisterbleiches Gesicht.

Ihre Hand griff nach dem Papier, dem sie ihren letzten Willen anvertraut hatte. Sie riß es an sich und überlief einzelne Worte, einzelne Sätze . . .

Da stand es ja deutlich.

Er war schon Herr des Brinkschultenhofes.

Sie hatte lediglich ihre Pflicht getan. Das war auch alles gewesen.

Die heimliche Schuld regte sich wieder. Sie glaubte, ersticken zu müssen. Was sie eben noch wollte, zu tun gedachte, rückte aus greifbarer Nähe. Sie strich sich über die Stirn. Wo war sie denn nur? Sie war nicht mehr Herrin über sich selbst. Entgegentreten wollte sie ihm, alles ihm sagen, das wollte sie – und nun konnte sie das Geständnis nicht finden und hatte den Mut nicht, vor ihre Überzeugung zu treten. Warum auch? Es wäre doch vergebens gewesen. Warum sollte sie dem Schicksal nicht den Rang ablaufen? Das beeilte sich nicht. Das dehnte die Minuten zu langen, qualvollen Stunden. Also – sie hatte nichts weiter zu tun, als das Verhängnis zu überholen. Jedes Menschen Geschick drängt nach Erfüllung. Je kürzer, je besser. Nichts mehr fühlen. Nichts mehr bedeuten . . . Ja, das wollte sie.

Sie richtete sich jäh auf. Ihr Blick wurde starr. Sie stand wie betäubt. Sie kämpfte den letzten Kampf. Es blieb ihr sonst nichts mehr übrig.

»Wer bin ich denn eigentlich? Weiter nichts als die Dirne vom Brinkschultenhof. – Auch gut!«

Entschlossen trat sie vor.

Sie legte die Hand auf den Drücker.

Sie klinkte die Tür auf und horchte. Sie hörte seine Stimme nicht mehr.

Ein scharfer Luftzug schlug ihr entgegen.

Es wurde ihr kalt ums Herz. Sie hatte sich abgefunden mit allem. Sie mußte das Leben hinter sich werfen kraft eigenen Willens. Nur nicht langsam absterben, nicht Glied für Glied. Das stand ihr nicht. Zur Märtyrerin hatte sie niemals die geringste Neigung empfunden. Sie wollte hinaus . . . ihn nicht mehr sehen . . . Es war doch alles zu Ende . . . Auf den Hof hinaus . . . an den Brunnen . . . Sie sah im Geiste sein gespenstisches Auge . . . Sie sah es in den Nebel hinausblinken . . . Noch einmal durchlebte sie ihr vergangenes Leben . . . aber in einem rasenden Tempo . . . ohne anzuhalten . . . ohne sich auf jede Einzelheit zu besinnen . . . gleichsam, als wenn sie es auf einem galoppierenden Pferde durchritte . . .

Dann trat sie über die Schwelle, um jählings ins Zimmer zu prallen.

Nun war das Schicksal doch schneller als ihre Entschlüsse gewesen.

Eine beklemmende, unabwendbare Gewißheit: hochaufgerichtet stand er vor ihr.

Sein Haar war in Unordnung. Ein nasses Gewirr von Heidekraut und Föhrennadeln haftete an seinem Rock. Der schwüle Atem des Moorwassers war bei ihm.

Entsetzt sah sie ihn an, und doch lag Hoheit in den entstellten Zügen.

Er wollte die Arme heben, sie an sich reißen, ihr berichten, was er soeben durchkämpft hatte.

Nichts von dem geschah.

Die Arme sanken ihm am Leib herunter.

Er fühlte instinktiv: unter dir gerät der Boden ins Wanken.

Er sah, wie die bezwungene Leidenschaft in ihr ausbrechen wollte. Ihre Augen weiteten sich. Es war die letzte Prüfung. Sie sah den vor sich, den sie erträumt hatte, den das verlangende Weib in ihr mit allen Fasern begehrte: der arme Heidevogel war bei ihr – ihr unebenbürtig an Geburt und Erziehung, weit unter ihr stehend, ungelenk und langsamen Geistes, wo es galt, seine Gedanken nach den Gesetzen der Schule niederzulegen. Dazu war der stille Pastor zu früh von ihm gegangen. Aber das Singen wuchtiger Schmiedehämmer umklang ihn. Das hatte seinen Arm gestählt und ihm den Willen gehärtet. Und die Signale der blauen Husaren klangen in sein Leben hinein. Die geboten ihm, seine Mutter zu ehren und gut von den Menschen zu denken. So ging er durch leuchtende Sonnengarben und hatte einen klirrenden Schritt unter den Füßen. Und seine Blicke sagten: Mein Gewissen ist rein; ich habe keine Schuld auf der Seele. Und seine ganze, stolze Manneskraft war bei ihm und seine heiße Liebe und alles, was nötig war, um ein Weib zum Weibe zu machen.

Er hielt's nicht mehr aus. Sie mußte in seine Arme hinein.

Was hinderte ihn noch, sein ein und alles an sich zu reißen . . .? Sie war ihm doch gegeben vor Gott und den Menschen . . . Sie konnte doch nicht erwürgen, was sie noch kurz zuvor ins Dasein gerufen hatte! Und er – er konnte doch nicht wieder in den erbärmlichen Alltag zurück.

Seine Herrennatur erwachte in ihm.

Er drang auf sie ein.

»Keinen Schritt mehr!«

»Josepha . . .

»Rühr' mich nicht an,« sagte sie schaudernd, indem sie die Hände verschränkte. »Siehst du denn nicht? Fühlst du denn nicht? Du mußt doch begreifen, was in mir vorgeht. Hast du denn das unter der Bodenluke vergessen . . .

Mit einem wehen Laut brach sie ab. Sie wankte zurück, bis sie an der Tischkante Halt fand. Hier straffte sich ihr Leib. Mit eiserner Willenskraft zwang sie ihn aufwärts. Nur ihre Lider sanken tiefer und tiefer, und ein schmaler Streifen, fein wie ein Seidenfaden, schimmerte durch ihre Wimpern hindurch.

»Ich habe dir ein Geständnis zu machen,« sagte sie endlich. »Unterbrich mich nicht. Ich will versuchen, dir alles verständlich zu machen. Wir stehen zwischen Leben und Tod. Daß es dazu kommen mußte, wußte ich bereits, als du mir den Pflug auf der Asbecker Scheid vorführtest. Schon damals hätte ich mir sagen müssen: Wende dich ab, du darfst keine Gemeinschaft haben mit dem, der in dir das schuldlose Weib sieht, makellos und rein wie die Scholle, die seine Pflugmesser auf die Seite legt, du darfst sein Geschick nicht mit dem deinen verflechten. Es wäre besser gewesen. Noch besser, wir wären uns im Leben niemals begegnet. Nein! – bitte, laß mich aussprechen. Ich bin noch nicht fertig, und wenn ich fertig bin, wirst du sagen: Ich habe mich in dir getäuscht. Mein Herz fällt von dir ab wie ein welkes Blatt vom Baum; aber du hast mir das Schlimmste erspart, denn du bist wenigstens ehrlich gewesen. – Ich hätte dir das alles früher sagen können – in dem entscheidenden Augenblick – als es noch nicht zu spät war. Ich tat es nicht, denn meine Liebe zu dir legte mir die Hand auf den Mund und brachte mich in den Taumel einer Selbstentfremdung. Und dann: ich glaubte vergessen zu können, eine wehe Erinnerung weniger schmerzhaft zu machen. Ich täuschte mich. Ich dachte, ein armes, zerpflücktes Leben an deiner Seite neu zu beleben. Das wäre auch möglich gewesen, also sagte ich mir, denn Gott verzeiht und kann nicht wollen, daß eine Verfehlung sich forterbt wie eine schleichende Krankheit und einem Leib und Seele vergiftet. Aber dann wieder: der klügelnde Verstand und das Gewissen sind von jeher unbarmherzig gewesen. Und das ist mein Verhängnis geworden. Über die Sünde eines Mannes geht die Welt lächelnd hinweg, über die eines Weibes richtet sie mit unerbittlicher Strenge. Und offen gestanden: die Welt geht nicht irre. Und daher: ich will freie Bahn vor mir haben. Das bin ich dieser Stunde schuldig, dir und mir gegenüber. Ich bin besser, als ich mich gebe. Das weiß ich. Das sagt mir mein eigenes Selbst. Das braucht mir keiner zu bestätigen. Trotzdem – ich klage mich an, ohne Rücksicht, ohne Erbarmen. Das hätte ich schon früher getan – vorhin – im Moment der Entscheidung, als wir auf der Stätte waren, die wir auf dem Brinkschultenhof ›heilige Erde‹ nennen. Da werden Eide abgenommen, da haben die Särge meines Vaters und meiner Mutter gestanden, da soll auch der meine . . . Der Schrecken jedoch, der vom Düstermoor heraufkam, hinderte mich daran. Jetzt aber ist die Stunde gekommen. Die Vergangenheit hat dir etwas zu sagen . . .«

Ihre Stimme war schüchtern, zu einem leisen Geflüster geworden. Das schmerzliche Lächeln verstärkte sich, und der Seidenfaden, der zwischen ihren Wimpern hindurchschimmerte, nahm einen grünlichen Schein an.

Dann öffneten sich ihre Blicke.

»So geschehe denn,« sagte sie bewegt, »was einmal geschehn muß. Ich kann es nicht ändern. Ich weiß – du suchst die Reinheit des Weibes in mir, aber ich sage dir: ich habe diese Reinheit des Weibes verloren.«

»Josepha . . .! – das ist ja alles nicht wahr! – Das kann ja nicht wahr sein . . .

Er bäumte sich auf, um mit einem dumpfen Schrei niederzubrechen. Mit beiden Fäusten umgriff er die Schläfen.

Sprachlos sah er sie an.

Sie wandte sich zu ihm. Sie war einer Sterbenden ähnlich. Alles Blut war ihr von den Lippen gewichen.

»Du leidest um mich,« sagte sie traurig. »Aber ich will das Leid von dir nehmen und dich von einer befreien, die deiner nicht würdig ist. Drum warte ab, du sollst alles erfahren. Das ist dein Recht und meine Verpflichtung dir gegenüber.«

Sie schwieg eine Zeitlang hindurch und fühlte: aus ihrer Umgebung wuchsen die Schatten des Todes.

Nichts regte sich. Nur die Lampe zirpte wie ein Heimchen an einem verschlafenen Sommerabend.

Josepha Brinkschulte ordnete ihre Gedanken, dann sprach sie – einzelne Sätze – unzusammenhängend – verworren . . . Schwer und zögernd rangen sich die Einzelheiten von ihrem gequälten Herzen. Dann sprach sie geregelter, der Ordnung gemäß . . . Dann wurde ihre Stimme klar wie ein Kristall . . . Dann unerbittlich und hart wie Granit . . . Nichts verhehlte sie, nichts entging ihrem scharfen Verstande. Folgerung reihte sie an Folgerung. Mit selbstquälerischer Entsagung sah sie den vergangenen Dingen ins Auge. Ja – damals . . .! – Sie gebot Karl Mersmann, über die Äcker zu schreiten. Der Schulmeisterjunge hatte das Sämannstuch umgetan und streute den Samen über das fette Erdreich, Korn bei Korn und sich ruhig wiegend in seinem jungen Körper . . . Nichts Kleinliches haftete ihm an, nichts Grüblerisches . . . Er nahm das Leben, wie ihm das Leben in den Weg lief, ohne lange zu fragen, ohne sich irgendwelche Bedenken über das Für und Wider zu machen. Die Weiber liefen ihm nach. Er hatte Mühe, sie sich vom Halse zu schaffen. Was sollten ihm diese Weiber? – denn er, der meisterlich den Pflug lenkte und die Sense führte, als müsse er Menschenherzen von der Koppel heruntersensen, war nicht gesonnen, an einem lumpigen Kotten zu kleben. Er brauchte ja nur die nervigen, weißen Arme zu strecken . . . und er streckte sie über die Soester Börde, über den Brinkschultenhof, wo sie, des Schulten Tochter, ihm entgegenreifte und mit erstaunten Augen in das Leben hineinsah – in das erwachende Leben, von dem sie nicht einmal wußte, wie gefährlich es sein konnte, vornehmlich dann, wenn am tiefen Horizont das erste Wetterleuchten aufzuckte und ein warmer Heuduft die Sinne betäubte, daß sie trunken wurden wie arme, verlorene Falter, die willenlos das Licht einer Kerze umspielten. Es ist dabei nichts zu erzählen. Es war ein Tag, wie alle anderen es waren. Aber durch diese Tage hindurch sahen seine Blicke mit einem eigentümlichen Glanz. Sie waren schuldlos wie die der Turteltauben, und dennoch ruhte in ihnen das Gift, das die Wachsamkeit einschläfert und fesselt und den Verstand aus den Fugen renkt. Aber erst wenn die Sterne aufgingen . . .

Eine solche Nacht war damals gewesen . . .

»Heinrich!« ächzte sie und griff hinter sich, ins Leere, ins Nichts, »in dieser furchtbaren Nacht bin ich wissend geworden.«

»Mein Gott und mein Heiland . . .

Er versuchte, sie in die Knie zu zwingen. Er lachte, wie die Wahnsinnigen lachen.

Sie stemmte sich gegen ihn.

»Laß mich los!« rief sie gellend. Die da draußen mußten es hören. »Ich weiß ja selber . . . Die entsetzliche Stunde – das war ja alles im Wahnsinn, im Fieber . . .! – O du Barmherzigkeit Gottes!«

»Josepha, Josepha . . .! – mir will der Verstand auseinander . . . Also der, der . . .! – der Narr, der Gottestropf . . .

Seine Finger lösten sich. Ohne einen Laut von sich zu geben, brach er vor ihr nieder. Seine Stirn lag auf dem Estrich, und Kälte schüttelte ihn.

»Mein Gott, mein Gott . . .! – mußte das sein, mußte das sein . . .

Dann sagte er nichts mehr.

Ihre Gedanken jagten sich.

Sie faltete die Hände auf der Brust.

Sie fror – und wieder das eisige Lächeln von eben.

»Also bin ich gerichtet,« sagte sie mit vernichtender Ruhe. »So kann ich denn gehn . . . und du . . .! – Bist du arm geworden auf dem Brinkschultenhof! So arm, so arm!«

Tränen waren in ihrer Stimme.

Da fühlte sie: eine fliegende Angst ging durch seinen gemarterten Körper. Mit würgenden Händen tastete er sich an ihrem Leib empor.

»Also du willst gehn . . .

Seine Stimme keuchte. Sie kam aus einem vertrockneten, durstigen Gaumen.

Immer höher tastete er sich. Mit beiden Händen umgriff er ihre Schultern. Seine Finger waren wie eiserne Klammern.

»Wohin willst du?«

»Ich habe noch einen Gang zu tun. Es ist besser für dich und mich, daß wir uns nie mehr begegnen.«

»Du gehst nicht.«

Das klirrte wie eine fallende Kette. Er wuchs über sie hinaus, übermächtig, gebieterisch, wie damals, als er in ihrer Gegenwart die Pflugschar in den Boden stieß.

»Nein – du gehst nicht.«

»Das wollen wir sehn!« schrie sie fassungslos.

Ein wütiges Bestreben war in ihr, aus seiner Umarmung zu kommen. Da vergaß sie alles, was in ihr war und was sie sich vorgenommen hatte zu tun: ihrer Arbeit zu dienen, ihren letzten Willen zu betätigen – alles, alles. Nur der verzweifelte Gedanke war in ihr, fort von hier, auf den Hof, an den Brunnen – das erbärmliche Leben nicht mehr leben zu müssen . . .

»Laß mich los! – Es ist doch alles zerrissen – du hast kein Anrecht, keine Verfügung mehr über mich! – Ich will nicht! – Ich kann nicht! – Ich kann nicht darüber mehr fort – ich bin deiner nicht würdig – ich kann nicht mehr leben . . .! Laß mich los, laß mich los . . .

Da sah er. Er las ihre Gedanken. Mit entsetzlicher Klarheit las er Wort für Wort, Zeile für Zeile . . .

»Du hast etwas vor, du willst über Bord!«

»Das ist meine Sache. Darüber bin ich keinem Rechenschaft schuldig. Es ist alles aus zwischen uns. Ich bin dir nicht mehr verpflichtet. Du hast mein Geständnis, und damit bin ich wieder Herrin über mein Tun und Lassen geworden. Die Schande will über mich her . . .

»Nein, sie will nicht über dich her! – Josepha! – Josepha . . .

Ein lautloses Ringen begann, Weib und Mann gegeneinander – ein Kampf zwischen zwei herrlichen Menschen, die sich liebten bis aufs Blut, um vom Schicksal in dumpfe Verzweiflung getrieben zu werden . . . gleichwertig an Kraft und Gesinnung . . . gleichwertig in ihrer Not und Verzückung . . .

Sie drängte der Tür zu. Übermenschliche Kräfte hielten sie ab, die Tür zu gewinnen. Ihr Mieder zersprengte. Sie hatte dessen nicht acht. Der Kampf tobte weiter. Ihre Brust drängte sich vor, straff und hart und wie aus lichter Bronze getrieben. Mochte er sich daran trunken sehen. Sie hatte kein Gefühl mehr dafür. Engumschlungen und Körper an Körper rangen sie um jedes Stück Boden. Ein Ächzen und Stöhnen! – und durch dieses Stöhnen hindurch rissen sich zerfetzte Worte von ihren zuckenden Lippen: »Was willst du denn noch von mir? – Es hat ja doch keinen Zweck! – Es ist ja aus zwischen uns! – Wir haben nichts Gemeinsames mehr! – Ich bin doch verloren für dich – ich bin ja gerichtet! – Du hast mich selber gerichtet. – Aber so wahr mir Gott helfe . . .!« – und sie ließ ab von ihm, und ein krampfhaftes Zittern durchflog ihren Leib – »schlecht bin ich nicht gewesen! – Ich war noch ein Kind, ein halbes Kind . . . und alles war gelähmt in mir: Seele und Sinne – alles, alles . . .! Heinrich, so wahr mir Gott helfe . . .

Da rissen die Wolken.

Ein neues Leben durchfuhr ihn. Das war die Stimme der Wahrheit.

»Das wußte ich ja, das wußte ich ja . . .

Keine Zweifel mehr! Er hielt ja ein schuldloses Weib am Herzen – eine Makellose, eine Erlöste, eine die durch ihre Läuterung reiner und begehrenswerter geworden als die meisten auf Erden. – Wütend suchte er ihre halbgeöffneten Lippen – und fand sie – und küßte sie – und ließ nicht ab von ihnen, bis er fühlte: sie haben deine verzehrenden Küsse erwidert. Und trunken kam es ihm vom Munde: »So habe ich dich wiedergefunden, schuldlos und rein, denn alles ist von dir genommen . . .

»Heinrich!« schluchzte sie und preßte sich an ihn, um Schutz in seinen umklammernden Armen zu suchen, »du gehst ja an meiner Liebe zugrunde.«

Da lachte er auf. Es war ein befreiendes Lachen, ein leuchtendes Lachen, ein Gruß an die Sonne. Er sah nicht mehr rückwärts. Geradeaus ging sein Blick. Er sah in eine helle Zukunft hinein. Und um ihn lag Arbeit und das erkämpfte Heiligtum des Brinkschultenhofes. Der große, langersehnte, unbekannte Morgen dämmerte für ihn herauf. Vater, dein Wille geschehe!

Und ein herrliches Weib war sein eigen geworden.

»Josepha . . .! – Josepha . . .

Aber ihre Kraft erlahmte.

Ihr Haupt sank nach vorne. Sie warf sich in seinen Armen zurück und drohte, niederzusinken. Sie weinte leise an seiner Brust.

Da hob er sie auf, sieghaft und willensstark, und trug sie ins Nebenzimmer, in die Kammer, wo die Krone der Sattelmeier von der Konsole herabglitzerte, kaum sichtbar und nur umzittert von dem Licht des Mondes, der sich mühsam durch die dichten Nebel hindurcharbeitete. Wie eine dunstige Lampe stand er vor dem verhangenen Fenster.

Sorgsam, wie man eine Kranke trägt, ging er mit ihr über die knarrenden Dielen, trug er das Heil seines Lebens, das erkämpfte Weib, langsam und mit zögernden Schritten. Dann hielt er an. Liebevoll bettete er ihren zermarterten Leib in die Kissen.

»Soll ich Dörte rufen?« fragte er leise.

»Nicht rufen, nicht rufen . . .«

Sie sah ihn glücklich an und nickte ihm zu.

Ihr Atem ging schwer.

Da rückte er einen Stuhl neben sie und nahm ihre Hand zwischen seine Hände.

So verging Stunde um Stunde, so saß er Stunde um Stunde.

»Da geht die Vergangenheit hin,« sagte sie plötzlich. »Ich glaube, es wendet sich noch alles zum guten. Heinrich, und wenn die Felder dann rauchen . . . wenn alles in Blüte steht . . .«

Sie erhob sich zwischen den Kissen.

»Sieh, wie lieb ich dich habe,« sagte sie innig und suchte nach seinem Munde.

Da zog er sie an sich, und ihre Lippen fanden sich wieder. Und ihr Haupt ruhte an seiner Brust, bis draußen die Amseln zu flöten begannen und das erste Licht heraufzwinkerte.

Da nahm er ihre Hand und streifte ihr einen silbernen Ring an.

»Den hat meine Mutter getragen,« sagte er ruhig.

»Mir ist wie im Hochamt,« lächelte sie heimlich vor sich hin und küßte den Reifen.

»Ein stilles Hochamt auf dem Brinkschultenhof,« erwiderte er und hob sich auf und sah in den werdenden Morgen.

 


 << zurück weiter >>