Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Erstes Kapitel

Ick gröte Ju, leiwe Mann!«

Etwas Großes, Feierliches, Leuchtendes lag unter dem ehernen Himmel. Der Weizen rauchte, und von den nahen Hügellehnen kam der warme Blust der Roggenschläge herüber. Fern im Nordosten verschwamm im blauen Duft die lange Osningkette. Dunkles Grün zog sich näher heran, während in der Niederung selber, die sich zwischen Ruhr und Lippe erstreckte, der Brinkschultenhof lag, selbstgefällig und trotzig, insichgekehrt und von schwerfälliger Eigenart wie die Herren dieses Anwesens, die schon Jahrhunderte hindurch auf diesem Grund und Boden den Pflug geführt und die Scholle gebrochen hatten.

Etwas Grobknochiges ging von diesem Gehöft aus. Mit Ausnahme des Herrenhauses krochen die Nebengebäude wie breit hingelagerte Tiere fast am Boden hin, überragt von knorrigen Eichen, die in regelmäßiger Anordnung und wie stiernackige Bauernknechte so kraus und sparrig eingepfählt waren, als sollte das für die Ewigkeit so weiter gehen. Von hier aus lief freies Land gen Norden zu, eine einzige blanke Fläche, im Volksmund die ›Soester Börde‹ genannt, die nur gen Westen und in der Nähe des Brinkschultenhofes von dem ›Düstermoor‹ durchsetzt war, wo die Kiebitze flogen und die Regenpfeifer ihre melancholischen Stimmen vernehmen ließen. Durch dieses Moor mit seinen Erlenstrünken und Torfstichen streckte sich der Hellweg, eine verwahrloste Straße, die zur Linken nach Unna und Dortmund, zur Rechten über verschiedene Bauern- und Liegenschaften bis ins Lippische führte. Moor und Hellweg waren verwunschen. Jetzt lag alles vergoldet; aber wenn die Dämmerung heraufstieg, wenn die Abendstimmen lebendig wurden, hoben sich dort weiße Fäden auf, häkelten sich um Busch- und Strauchwerk und krochen als quirlige Tücher über den Hellweg, und dann sagten die auf dem Brinkschultenhof: »Der Heidemann steigt; wollen man die Läden zumachen,« und dann machten sie die Läden zu und ließen sie verschlossen, bis die Sterne wieder verblaßten.

»Ick gröte Ju, leiwe Mann!«

Hatte da jemand gesprochen? Niemand, keine menschliche Seele; nur ein feines Säuseln lief mit den endlosen Feldern, auf denen das Korn sich kaum wahrnehmbar gegen den tiefblauen Horizont anwellte. Es war wie Katzenfell, so graugrün gab es sich unter dem fächelnden Hauch des leise dahinziehenden Windes. Ähre bei Ähre! Halme und Spelze verflochten sich, umarmten sich wechselseitig und ließen ihre fadigen Grannen gegeneinander spielen. Ein verlorenes Wiegen und Biegen! – und darüber hin wogte eine Wolke fruchtbaren Staubes, der an den Duft frischgebackenen Brotes erinnerte. Es war der Auftakt seligen Vergessens und Liebens. Nicht lange mehr, und die junge Frucht mußte in den Zustand der ersten Milchreife treten, um bald darauf der Ernte entgegenzuschauern.

Das Wiegen und Biegen verlor sich. Eine tiefe Stille setzte plötzlich ein, die weder Anfang noch Ende hatte. Eine Glocke, die von der benachbarten Bauernschaft anschlug, machte das Schweigen noch fühlbarer. Sie sagte die Mittagszeit an. Da ging es wie ein Aufatmen durch die immer drückender werdende Schwüle. Die da drüben auf der Wiesenkoppel, Knechte und Mägde, wischten sich den Schweiß von der Stirne, schulterten die Sensen und schlenderten dem Brinkschultenhof zu. Vereinzelte Blinkfeuer liefen eigenartig durch die lebendigen Hecken oder züngelten wie Schlangen über das flimmernde Getreide. Dann regierte wieder die Sonne mit ihrem gleichmäßigen Licht und legte glühende Filigrannetze über die immensen Roggen- und Weizenschläge.

»Ick gröte Ju, leiwe Mann!«

In den Korngassen, die eine schmale Hügellehne durchquerte und etwa auf fünfhundert Schritt am Eingang des mächtigen Hofes vorbeiführte, wurde eine Stimme lebendig. Es war eine schleppende, lurgsende Stimme, die aber zu einem widrigen Gelächter wurde, als sich eine verschrumpfelte Hand emporstreckte, sich ballte und mit nervösem Rütteln und Schütteln den Brinkschultenhof bedrohte.

Wohl an fünfzehn Herzschläge hindurch stand sie ehern in der zittrigen Luft, weiß und starr wie eine Totenhand, um dann mit einem kurzen Schrei zurückgezogen zu werden und schlapp niederzusinken.

Gleichzeitig ließ sich die Gestalt eines verwachsenen Mannes in die Korngasse fallen, griff mit beiden Fäusten in die Erdkrume hinein und zermürbte die trockenen Klumpen zwischen den hageren Fingern.

Langsam, fast widerwillig fielen die knochentrockenen Partikelchen wieder in den Schoß der Mutter Erde zurück.

Der Mensch mit dem hafergelben Gesicht und den hohen Schultern, zwischen denen der Kopf bis zu den Ohrläppchen steckte, sah sie rinnen und rieseln. Die lange Nase schien noch länger zu werden. In den blutunterlaufenen Rattenäugelchen stand ein gieriges Leuchten, ein halsstarriges Festhalten am Besitz, der ihm von Rechts wegen nicht zustand.

Das Spiel mit den Erdkrumen wiederholte sich ständig. Nach dem dreizehnten Mal bohrte er seine Hände tief in die Schollen hinein, ließ sie dort wühlen und knirschte zwischen den Zähnen, die noch fähig waren, Kieselsteine zu schroten: »Brinkschultenland, neunhundert Morgen, das verdammte Düstermoor gar nicht gerechnet . . . Land, mein Land! – Kreuzhimmel, verdammich . . .

Mit einem Ruck stand der Alte wieder auf den Füßen, und seine Blicke gingen aufs neue über die endlose Flut der kaum merklich auf und nieder wogenden Halme. Raubvogelartig glitten sie von einem Acker zum andern, von einem Weizenschlag zum andern, als müßten sie jede einzelne Ähre zählen und sie auf ihre Ertragsfähigkeit ansprechen, um abermals den Eingang des weitläufigen Gebäudes unter scharfer Beobachtung zu halten. Dann revierten sie wieder. Langsam drehte sich dabei der fleischlose Schädel auf dem kurzen Halse, der sich nur schwer und wie in verrosteten Angeln bewegte. Eine seidene Schirmmütze deckte den Hinterkopf. Vereinzelte Haarsträhnen schoben sich aus dem unteren Rand vor. Es waren Strähnen wie aus einem alten Ziegenfell gezwirbelt. Etwas Marabuartiges haftete dem einsamen Späher an, der unentwegt auf Posten stand und mit gierigen Augen die weite Gegend absuchte.

Die Weizen- und Roggenfelder allein waren es nicht, die ihn interessierten; straffer denn vorhin spähte er jetzt den Pfad entlang, der am Rand der nächsten Parzelle vorbeilief, nach links abbog und schließlich in den Hof des stattlichen Anwesens mündete.

Aber nichts regte sich auf ihm und im Schatten der krausen Eichen, die den Eingang flankierten und violblaue Tücher über die Ziegel- und Strohdächer des Gehöftes warfen.

»Kreuzhimmel, verdammich . . .

Der Alte schob die klebrige Seidenmütze noch mehr in den Nacken und versuchte, die aufgelösten Sardellenhaare mit spitzen Fingern zu ordnen.

»Schon drei Tage steh ich hier,« sagte er durch das Kämmen hindurch. »Morgen ist der letzte Tag; aber wenn sie morgen nicht kommt . . .«

Er verschluckte die letzten Worte. Erneut kam die alte Wut über ihn. Das hafergelbe Gesicht machte Anstalten, sich aus den hohen Schultern zu recken. Es gelang nicht. Da streckte der Alte wieder die Faust aus. Drohend war sie auf den Brinkschultenhof gerichtet, als müsse er ihm die gekrümmten, leichenhaften Finger ins Gesicht hineinstoßen.

»Denn also bis morgen!«

Hierauf drehte er bei, schnitt sich aus der eingesprengten Hecke einen handlichen Weißdorn und begann, ihn mit scharfem Messer zu schälen, wobei er immer die zudringlichen Stechfliegen, die sich auf Nacken und Hände niederließen, verscheuchen mußte. So ging das eine Viertelstunde hindurch, und er bemerkte es nicht, daß einer den Brinkschultenhof verließ, sich der sanftabgedachten Hügellehne zuwandte, um von hier aus den Hellweg zu gewinnen. Es war der jüdische Beschneider Simmchen Löwenthal aus dem nahen Werl, ein noch immer viver Mann in den sechziger Jahren, der im Nebenamt einen kleinen Woll- und Viehhandel betrieb, um, wie er sagte, seinem schmalen Gehalt etwas unter die Arme zu greifen. Dabei ließ er die Würde seines Standes keineswegs außer acht, trug stets einen abgelebten Zylinder, selbst auf seinen merkantilen Gängen, weil er die Ansicht vertrat: Wer nobel erscheint, wird nobel bedient, und so kam es denn, daß er von Werl bis weit ins Lippische hinein ein gern gesehener Mann war. Simmchen Löwenthal hatte ein Nazarenergesicht, über und über mit linsengroßen Sommersprossen verziert und gesprenkelt. Ein fuchsiges, nur mit etlichen grauen Fäden durchsetztes Bärtchen rahmte es ein. In den verschleierten Augen lag ein sanftes Licht, sanft wie das Girren der Turteltauben und milde wie Rahmkäse. Dazu waren seine Worte süße wie König, und wenn er so mit zur Seite geneigtem Kopf die Vorzüge oder Nachteile einer melkenden Kuh begutachtete, mit schönen Augen und gelenkigen Fingern das Euter befühlte, noch eine gehörige Portion Worte hinzutat, dann war das Geschäft so gut wie gesichert; denn Simmchen Löwenthal bezahlte nicht nur mit blanken Speziestalern, sondern auch mit lieblichen Augen und feinen Redensarten, die er mit der gönnerhaften Ruhe eines wirklich edlen Menschen anpräsentierte. Letzteres allerdings mehr zu seinem eigenen Profit als zu dem der stumpfsinnigen Bauern, weshalb denn auch seine Glaubensgenossen einen großen Respekt vor ihm hatten, öfters die Köpfe zusammensteckten und sich zumauschelten: »Gott, was e Mann! Simmchen Löwenthal is reicher als reicher.« – Simmchen schnürte sich immer näher und näher. Nach Art seines Stammes kam er auf weichen Füßen gegangen, blinzelte wie ein bekümmertes Hühnchen über die weiten Getreidefelder und überdachte das mise Geschäft des heutigen Tages, als er sich plötzlich dem Alten gegenüber sah, der eben mit dem Abschälen des geschnittenen Weißdorns fertig geworden war.

Mit einer kurzen Bewegung prallte er zurück.

»Straf' mich Gott . . .!« lallte er wie vom Monde gefallen.

»Ja, Simmchen, ich bin es,« versetzte der Alte. Seine Stimme flackerte. Die Begegnung schien ihm nicht recht zu gefallen. »Aber was stieren Sie denn? Zehn Jahre sind doch keine Ewigkeit, Simmchen!«

»Wahrhaftiger Gott!« erstaunte sich Löwenthal. »Schon ßurück von die Vereinigten Staaten? Er is es wahrhaftig! Darf ich fragen, Herr Jaspers, wie's Ihnen bekommen is bei die Leute dahinten?«

»Wie's mir bekommen ist?«

»Ja – ich meine, Herr Jaspers.«

»Schmul, Sie sind wohl verrückt!«

Über die Züge Löwenthals glitt ein ergebenes Lächeln. Mit einer weichen Bewegung legte er den Christuskopf auf die linke Seite des etwas angefetteten Rockkragens.

»Schmul?« fragte er mit sanfter Betonung. »Was heißt Schmul? Ich werde mir doch wohl mit Ihrem gütigen Einverständnis die Frage erlauben dürfen: Herr Jaspers, haben Sie 'ne schöne Bekömmnis gehabt über das große Wasser dahinten?«

»Nee, Simmchen, das dürfen Sie nicht.«

»Nich?!« meinte dieser, »wo Sie doch unsichtbar gewesen sind lange ßehn Jahre hindurch vor meinen sichtbaren Augen, Herr Jaspers!«

Der Alte klopfte ihm mit häßlichem Grinsen auf die Schulter: »Tun Sie doch nicht wie 'n neugeborenes Kalb. Sie wissen doch, Simmchen . . .«

»Ich weuß,« sagte der Jude, »man kann in fitale Begebnisse kommen.«

»Und da wissen Sie auch . . .«

»Gott, ich weuß! Das mit die preußischen Gerichte! Es war 'ne fitale Sache.«

»Fatal nur?« fragte der Alte.

»Nu, sagen wir, es war 'ne große Maramme. Es war ein Schlamassel.«

»Und alles um das da!« grinste der alte Brinkschulte, genannt Jaspers, und seine Augen überflogen wieder das Areal des stolzen Gehöftes, das sich selbstbewußt unter dem ehernen Himmel sonnte und streckte. »Nur um dem verfluchtigen Anerbenrecht um die Ohren zu knallen und meinem verstorbenen Bruder eins auszuwischen – nur um dessentwegen ist alles gekommen.«

Er schnappte nach Atem.

»Ich weuß, Sie haben ihm ein Feuerchen unter die Nase gehalten.«

»Den roten Hahn habe ich ihm aufs Dach gesetzt,« konstatierte der Verwachsene mit hämischer Genugtuung und ließ dabei den geschälten Dorn durch die Luft spielen, »ihm und seiner hochfahrigen Tochter, und wenn er auch nur auf der Weizenscheuer gekräht hat, eins hat mich fuchsteuflisch gefreut: ihn, was mein Bruder ist, hat der Schreck in die Stoppeln geworfen.«

»Schweigen Sie still,« meinte Simmchen. »Ich bin ein alter Mann un kann mich nich einlassen in solche Geschichten. Sie riechen wie aus dem Abtritt geßogen. Sprechen Sie leise, Herr Jaspers, oder gehen Sie wieder ßu die Vereinigten Staaten. Die preußischen Gerichte kommen Ihnen über dem Halse, un diesmal sind sie fixer als mit ihre damaligen Beine.«

»Hat nichts mehr zu sagen.«

»Weil Sie glauben, Herr Jaspers, die Sache ist von die Rolle des hohen Gerichtes gestrichen?«

Der Alte nickte und machte dazu die Hantierung des Strickdrehens.

»Tot und verjährt,« sagte er tonlos.

Simmchen Löwenthal trat näher. In seinen sanften Augen stand ein versöhnliches Leuchten. »Herr Jaspers,« sagte er nach einigem Überlegen, »hören Sie, bitte, auf meine schönen Gefühle. Lassen Sie den Spektakel von wegen die Anerbenrechte. Es is 'ne alte Gewohnheit von die westfälischen Leute. Sie können doch nich dagegen anoperieren. Werden Sie wieder ein Mann mit 'nem noblen Gewissen, machen Sie Ihren Frieden mit der leiblichen Tochter Ihres verstorbenen Bruders, der Madam Brinkschulte, gehn Sie wieder nach Dortmund, wo Sie geschrieben haben auf die Advokaturkanzlei für dreißig Pfennig den Bogen, benehmigen Sie sich als ein Engel aus dem Paradies dem Brinkschultenhof gegenüber, un die Leute werden sagen: Der Herr Jaspers is wiedergekommen von die Vereinigten Staaten, hat sich 'nen neuen Menschen zugelegt un den alten Adam bei die Indianers gelassen.«

»Daß ich ein Idiot wäre!« trumpfte der Alte auf.

»Wie heißt ›Idiot‹?« meinte Simmchen. »Warum sind Sie denn gekommen nach hier, warum stehn Sie denn mang die Roggenfelder un kucken sehnsüchtig nach die Geburtsstätte ihrer Väter herüber? Gott, du Gerechter! – Sie wollen doch nicht bringen ein neues Malör über die Pfannen Ihres eingeborenen Hauses?«

»Ich stehe hier, um mit der Tochter meines Bruders zu sprechen,« kam es gepreßt aus dem Munde des Heimgekehrten. »Seit drei Tagen warte ich hier. Hier will ich sie abfassen, um ihr den Skandal unter dem eigenen Dach zu ersparen. Aber wenn sie morgen nicht kommt, dann sollen auch ihre Türpfosten hören, was ich mit ihr zu besprechen habe.«

»Dann müssen Sie sich anderweitig benehmen, Herr Jaspers.«

»Wieso?« fragte dieser.

»Nu,« meinte Simmchen, »bin ich doch soeben gewesen im Hof, um ßu kaufen die Blesse. Gott, was 'ne Kuh! Die beste zwischen Unna un Dortmund. Gut, sage ich, werde ich beßahlen hundertfünfßig Speziestalers. Aber wem soll ich beßahlen? Natürlich werde ich beßahlen an die Madam von dem Hause. Aber wo is sie? Ich frage die Viehmagd. Nich ßu Hause, Herr Löwenthal. Sie hat ins Lippische gemacht. Auf wie lange? frage ich wieder. Auf vierßehn Tage, Herr Löwenthal. Schön, sage ich, dann komme ich wieder ßu diesem Termin, um ßu beßahlen die Blesse. – Sehn Sie, Herr Jaspers, wie ich mit die hundertfünfßig Talers warten muß, werden auch Sie warten müssen, um ßu skandalieren auf dem Brinkschultenhofe.«

»Himmel, Gewitter . . .

»Ich bitte Ihnen, bleiben Sie bei 'ner Besinnung, Herr Jaspers.«

»Wo mir das alles passiert ist?!« zeterte der Alte. »Glauben Sie denn, Simmchen, mir stände der Gusto danach, mich mit meinem krummen Kadaver wieder über den Kontorstuhl zu flegeln, den verdammten Aktenstaub herunterzuschlucken, in dreckigen Prozessen herumzuschnüffeln und mit den Ratzen wie früher an ein und derselben Brotkruste zu schroten, wo die da drüben bis über die Ohren im fetten Schmand sitzt und sich die Finger abschleckert?! Simmchen, Sie sind wohl meschugge! Dafür habe ich nicht wieder retour gemacht. Das wäre noch schöner! – Nee, Simmchen, jetzt wird mit allen Klarinetten aufgespielt. Mein Recht will ich haben: Vieh und Mist und den Hahn drauf und alles übrige, was mir von Rechts wegen zusteht.«

»Ich bitte Ihnen nochmals, Herr Jaspers, es wird doch nicht so eilig pressieren.«

»Ja, es pressiert!« schrie der Alte, und wieder streckte er die leichenfarbige Faust über die Korngasse. »Entweder – oder; sie bezahlt, oder sie soll verrecken, das Fraumensch!«

Simmchen Löwenthal verfärbte sich. Entsetzt sah er auf die eingekrampften Finger, die drohend in der zittrigen Luft standen.

»Schweigen Sie still!« wimmerte er. »Ich bin ein alter Mann un ein ehrlicher Mann; es sind faule Geschichten. Ich schmeiße sie fort wie ein Stück trefer Fleisch über die Schulter. Waih geschrien! Was sollen die gefährlichen Betreibungen?! Tun Sie nich so entsetzlich mit die Hand; es is ein Greuel vor dem Herrn. Fluchen Sie nich so gefährlich auf die Madam Brinkschulte; es is auch ein Greuel vor dem Herrn; denn Sie un was die Madam Brinkschulte is, sie stammen doch her von die Erbsälzer in Werl un haben dieselben Erbväter gehabt, oder wie sie heißen mögen, die Leute.«

»Nur mit dem Unterschied, Simmchen,« versetzte Jaspers, indem er die gestreckte Faust zurückzog, »daß sie, das Fraumensch, bis ans Maulwerk in andermanns Talg sitzt, in meinem Talg, der mir vor Gott und den Menschen . . .«

Er unterbrach sich. Mit dem Hagedorn zeichnete er krause Figuren auf den hartgebackenen Boden.

Simmchen legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Sie wird Ihnen nich verlassen,« sagte er ruhig.

»Die?!« lachte der Alte grimmig auf, »die rückt mit keinem scheelen Kastemännchen heraus. Dem Vieh wirft sie's scheffelweise ins Maul; ihr eigen Fleisch und Blut aber kann im Chausseegraben Staub fressen.«

»Ich bitte Ihnen, bleiben Sie in einer richtigen Verfassung, Herr Jaspers, denn was die Madam Brinkschulte is: sie is 'ne ehrliche Frau, sie is 'ne vorsichtige Frau, obgleich sie noch immer keine richtige Frau is. Aber sie wird Sie an ihren jungfräulichen Busen ßiehen, un sagen wird sie: Der verlorene Sohn is ßurückgekommen von die Indianers und Szulukaffers, wo er hat gegessen die Treber mit die amerikanischen Schweine. Wollen ihm schlachten lassen ein Kalb ßu seiner Bekömmnis. – Aber, was ich sagen wollte, Herr Jaspers. Ich meine, haben Sie für die nächsten vierßehn Tage noch eine ausgiebige Notdurft? Haben Sie 'ne Bettstelle un etwas für mittags un abends? Haben Sie Rippchentoback, um sich ßu stopfen 'ne Pfeife mit so was?«

»Nee!« lachte der Alte und beutelte seine leere Tasche nach auswärts. »Nichts, keinen roten Heller, Simmchen.«

Simmchen Löwenthal legte den Kopf noch mehr auf die Seite. Dann sagte er mit wehleidiger Stimme: »Sie rühren mir in Ihrer grausamen Menschlichkeit. Wissen Sie was, Herr Jaspers! Kommen Sie mit ßu meinem Blümchen nach Werl. Sie wird Ihnen geben 'ne Bettstelle un etwas für mittags un abends. Sie wird Ihnen geben Rippchentoback un ein Schälchen mit Kaffee, damit Sie wieder ßusammen bringen Ihren inneren und auswendigen Menschen, bis die vierßehn hungrigen Tage herum sind.«

»Ich danke Ihnen, Simmchen. Ich habe Freunde in Dortmund.«

»Was sind das für Leute?«

»Sozis und solche, die es werden wollen.«

»Die gefallen mir nich,« sagte Löwenthal. »Ich werfe sie auch wie trefer Fleisch über den Rücken.«

»Es sind Menschenbeglücker, die die Hungrigen nicht verkommen lassen und den Fetten an die dicken Bäuche greifen.«

»Püh!« machte Simmchen, »dann spaßieren Sie man nach die Menschenbeglücker in Dortmund; ich gehe ßu mein Blümchen nach Werl. Leben Sie wohl, Herr Jaspers; ich habe die Ehre.«

Damit ging Simmchen Löwenthal seines Weges, während der Alte noch einen langen, häßlichen Blick auf das stille Gehöft warf, einen saftigen Fluch hervorholte und mit diesem auf den Lippen durch das säuselnde Getreide schritt. Fingerfertig suchte er in den Westentaschen herum und fand, was er suchte.

»Das langt noch bis Dortmund,« sagte er ruhig.

Alsbald hatte er den mulmigen Heerweg unter den Füßen, um auf ihm die nächste Station zu gewinnen.

Stunde um Stunde verging. Die drückende Schwüle verlor sich. Die immense Ebene schmückte sich mit weicheren Farben. Nachdem das Flimmern nachgelassen hatte, traten auch die einzelnen Liegenschaften und Bauerngehöfte mehr in die Erscheinung. Nach Osten zu streckte sich ein scharfumrissener Streifen, der wie Neutraltinte aussah. Dort lag Soest. Deutlich hoben sich die zierlichen Türme der Kirche ›Maria zur Wiesen‹ in die spiegelreine Luft. Die vom Brinkschultenhof waren wieder mit Mähen beschäftigt. Ein durchdringender, würziger Geruch stieg herauf – der warme Duft nach geschnittenem Gras und welkenden Blumen. Im schaukelnden Marsch wiegten die Knechte ihre Sensen. Leise sirrten diese durch die bunten Halme. Es klang wie das Gezirp von geigenden Heupferdchen. Sonst herrschte die große Stille von eben, die nicht aufhören wollte.

Plötzlich zerriß sie.

Ein Schuß fiel auf dem Hof. Knechte und Mägde, die beim Heuen waren, horchten auf und sahen nach der Richtung des gefallenen Schusses.

Ein blaues Wölkchen kräuselte aufwärts. Es stand dicht neben der großen Scheune, die dem Herrenhaus zunächst lag.

»Der Spökenkieker,« sagte der Großknecht dumpf vor sich hin und senste weiter. Eine Magd grinste lustig auf; auch die übrigen lachten und gingen wieder an ihre Arbeit.

Auf dem Brinkschultenhof aber stellte ein vierschrötiger Mensch das noch rauchende Gewehr beiseite. Er war lang aufgeschossen, hatte blasse Haare und Augen, die in ihrer Eigenart an die Augen eines Hellsehers erinnerten. Vor ihm lag eine prächtige Ohreule, die er soeben aus dem sommergrünen Eichenlaub herunter geknallt hatte. Mit ungelenken Bewegungen wiewackte er dem nahgelegenen Schuppen zu und kam mit etlichen Nägeln und einem Hammer zurück. Hierauf ergriff er den toten Vogel und nagelte ihn mit gebreiteten Schwingen an das mächtige Scheunentor.

Weithin klangen die Schläge durch die große Einsamkeit, die stundenlang im Schatten der alten Eichen gebrütet hatte. Die gekreuzigte Ohreule aber senkte die weiche Holle herunter und zog die Nickhaut über die runden, schwefelgelben Lichter, die für immer ihr Sehen vergessen hatten.

Von unten aber klang es herauf:

»Scheuch' Blitz und Donnerwetter
Von diesem Haus,
Und laß die schwarzen Bretter
Noch lange draus.«

Hierauf schallte ein langausgezogenes Gelächter über den Hof, das sich bis zu den ferngelegenen Wiesenkoppeln erstreckte.

»Höhö!« lachte der Spökenkieker.

 


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