Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Achtzehntes Kapitel

Erst kam der Hellweg. Fahl und sandig, eine riesenhafte Holzmade, lief er anfänglich zwischen lebendigen Hecken dahin. Hierauf wurde er von einzelnen Hasel- und Eichenbüschen begleitet. Ab und zu drängte sich ein Spillbaum ein, schon mit herbstlichen Blättern, über und über mit roten Korallen gesprenkelt. Von Zeit zu Zeit polterte eine lärmende Drossel von Holz zu Holz. Vereinzelte Haferschläge folgten dem verlorenen Wege. Dann wurden sie seltener. Schließlich hörten sie ganz auf. Das Ackerland blieb zurück, und der mit Heidekraut bewachsene Boden nahm eine schwarzbraune Färbung an.

Der schwermütige Ruf des großen Regenpfeifers lief über die Gegend.

In ihrer ganzen Breite, fast unvermittelt, trat die Straße in das Düstermoor ein. Soweit der Blick reichte, eine trostlose Fläche, mit Erlengruppen durchsetzt und mit Torfhaufen bestanden – endlos, ohne jede Lebensfreudigkeit, einsam, verlassen, als hätte von jeher das Elend die graue Hand darüber hingestreckt und die Worte gesprochen: »Du sollst verflucht sein auf Erden.«

Dämmerung war eingetreten. Schwarz standen die Bäume gegen den Abendhimmel, der noch immer mit seinem verschwiegenen Feuerwerk spielte. Ein verwaschener Schein ruhte auf den Regenlachen und blenkerte aus den moorigen Binsentümpeln mit stieren, bleiernen Augen. Zwischen Pfriem und Binsen lag verräterischer Boden. Torfstücke waren dort aufgestapelt, große und kleine. Silbrige Birken hafteten in der filzigen Erde, die wie eine Sterbende röchelte. Weiche Nebel stiegen zwischen ihnen auf, zogen lange Fäden und Bänder, um schließlich in breiten Tüchern gegen den Weg zu schwimmen. Ein einsamer Vogel zog trägen Fluges über die Öde.

Im tiefen West stand das letzte Leuchten des Tages. Nicht lange mehr, und das Wort des Propheten erfüllte sich: »Herr, du machtest Finsternis, und es wird Nacht; aber Himmel und Erde sind dein, denn du hast sie gegründet und alles, was darinnen ist.«

Erst kam der Hellweg, diese riesenhafte, sandgelbe Made – unheimlich, verwünscht und verwunschen, wie das Düstermoor, das ihm stundenweit folgte.

»Kreuzhimmel, verdammich . . .

Jaspers war auf dem Hellweg. Er kam vom Brinkschultenhof. Eine Viertelstunde lag hinter ihm. Wohin er eigentlich wollte, wußte er selber nicht. Ob nach Werl, Sönnern oder Dortmund. Aber irgend wohin mußte er noch vor Abend. So entschloß er sich denn, auf Umwegen nach Sönnern zu pilgern und seine Beine unter den Tisch des ›Fröhlichen Anton‹ zu setzen. Vielleicht traf er auch den Rektor zu Hause. Bei diesem war überhaupt der richtige Boden, das Weitere in Erwägung zu ziehen. Jetzt lag ihm alles wirbelsinnig unter der Seidenmütze.

Die verflossene Stunde war ihm über gewesen. Nicht er, sondern die Brinkschulte hatte das Heft in den Händen behalten. Wie sie da stand! Zu Tode gehetzt, hob sie sich auf, um ihn niederzutreten. Das fühlte er erst jetzt. Bei diesem Weib hatte er auf Stahl gebissen. Und der Gewinn seiner Mission? Und seine Rente erst? Zweitausend Taler zum Henker! Nur die erbärmlichen Fetzen seiner ausgeklügelten Rache lagen ihm noch zwischen den Fingern. Und diese Fetzen sollten fliegen und sich um den Hals der Brinkschulte legen. Sie sollte ersticken an ihrer eigenen Schande. Aber was hatte er damit gewonnen? War ihm hierdurch selber geholfen?

Er schob die Mütze zurück.

»Nee!« sagte er bedrückt.

Seine besten Trümpfe hatte er aus der Hand gegeben. Sie flatterten jetzt wie angeschossene Krähen über den Sturzacker.

Er wirbelte den Kreuzdorn durch die Luft, die dick und zäh wie abgestandener Leim ihm entgegenströmte. In sich zusammengekrochen torkelte er durch die tiefen Fahrgeleise. Zu seinen Füßen war rege Bewegung. Der Nebel kroch höher.

»Hoho!« lachte der alte Jaspers, »der Heidemann steigt.«

Er hielt den Fuß an und lauschte.

Er hatte menschliche Stimmen gehört. Kommandorufe waren dazwischen.

Von dorther kamen sie, aus der Nähe des Vorwerks, das schmal hingelagert aus den weißlichen Schwaden auftauchte. Auch das Einrammen von Pfählen klang deutlich herüber, aber so, als müsse sich das Geräusch durch Bretter hindurcharbeiten.

»Mögen die Gespanne im Moor verrecken,« sagte er heiser und ließ seinen Dorn wiederum durch die Luft pfeifen.

»Hoho!« schrie er auf.

Er rief einen Schatten an, der querfeldein an ihm vorbeistrich. Er kam von den Torfstichen und nahm Richtung auf den Brinkschultenhof. Dreihundert Schritte mochten zwischen ihm und dem eiligen Schatten liegen. Vorgebeugten Leibes und mit schnellen Füßen stakelte dieser über die sumpfige Fläche. An schwarzen Gräben und Tümpeln zog er totensicher vorüber. Dabei machte er scharfe Hiebe mit den Armen, als müsse er große Fladen aus der Luft heruntersäbeln. Der einsame Vogel von eben ruderte mit ihm.

»Hoho!« rief Jaspers noch einmal und gab verzweifelte Zeichen.

Aber der Schatten antwortete nicht, hielt straffe Richtung auf das Gehöft und fuchtelte weiter.

Plötzlich stieß er ein wüstes Geheul aus.

»Knipperdölling, das Schwert heraus!« klang es langgezogen durch den Nebel. »Die Kerls haben den schönen Braunen im Moor verquiemen lassen. Hals müssen sie geben – Ignaz und der verfluchtige Schmiedegesell. Hals müssen sie geben. Hosianna Jan van Leyden und Knipperdölling! Ho–si–anna . . .

Es klang wie der Ruf eines hungrigen Raubtiers.

Jaspers duckte sich.

Er kannte die Stimme.

»Der unwiese Kardel . . .!« sagte er ängstlich, zog die Schultern ein und suchte in die Deckung einer düsteren Erlengruppe zu kommen.

Mit dem Menschen wollte er nichts mehr zu tun haben. Noch immer saß ihm das kitzlige Gefühl eines über ihm schwebenden Beiles im Nacken.

Er sah es blinken und zittern, wie es im Türpfosten gezittert und geblinkt hatte, damals, als er wieder nach langer Zeit über die Schwelle des Elternhauses getreten war.

Nur mit dem Kerl nicht zusammenkommen!

»Hals müssen sie geben! Hosianna! – Ho–si–anna . . .

Wie eine Ratte lauert, also lauerte Jaspers.

Von seinem sichern Versteck aus verfolgte er den Weg des Spökenkiekers, der über den trügerischen, wankenden Boden glitt, als habe er sichere Dielen unter den Füßen.

Er hatte es eilig. Immer gerade aus, immer auf den dunklen Hof zu, der weit dahinten in der Ebene ruhte, dunstig, ungewiß und von den Silhouetten tiefschwarzer Bäume umgeben. Wie riesenhafte Soldaten hielten sie einsame Torwacht, und doch hatten sie es nicht vermocht, das Geheimnis des Brinkschultenhofes zu hüten.

Das war flügge geworden und konnte jeden Augenblick zu den Menschen gelangen.

Bald sollte es fliegen.

Aber was dann?!

Verstört blickte Jaspers dem Einsamen nach, der in immer weitere Ferne rückte, kleiner wurde, zusammenschrumpfte, um schließlich spurlos ausgeblasen zu werden.

Nur die Stimme lebte noch, aber sie irrte auf Gummischuhen durch den Nebel: gedämpft, fahrig, wie in einen vorgehaltenen Sack gesprochen.

»Hosianna! Hals müssen sie geben . . .! – Ho–si–anna . . .

Dann verstummte auch dieses.

Der Alte packte den Weißdorn fester und versuchte, auf dem kürzesten Weg nach Sönnern zu kommen.

Da hinten, jenseits des Vorwerks, mußte es liegen, Unter seinen Schritten rollte er den Weg auf, aber je rascher er ausholte, um so weiter schien das kleine Gehöft von ihm abzurücken.

Er fühlte selbst, wie er in sein eigenes Elend hineinstolperte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirne.

Vor ihm flatterten wieder einzelne Krähen und taten so, als ob sie flügellahm wären. Das waren seine krummgeschossenen Trümpfe.

Drohend hob er den Stock, als sei er gewillt, sie gänzlich zuschanden zu schlagen.

Kein Zweifel, er hatte sich um seine beste Erwartung betrogen.

»Auch egal!« begehrte er auf, »denn 'rein ins Pläsier; aber das Weibsbild zuerst. Und wenn alle Stränge reißen, den letzten für mich. Der wird's schon machen.«

Mit grimmigem Behagen sah er sich schon an irgend einem Scheunenbalken oder Stallpfosten hängen.

Das weite Land dunkelte ein. Immer dünner wurde das Licht unter dem fahlen Abendhimmel, den allerhand seltsame Wolkengebilde bedeckten. Noch war es nicht Nacht, aber die mußte bald kommen. Die Dinge nahmen unbestimmte Formen an, rückten ab und standen in langen Gewändern. Das Röcheln im Moor verstärkte sich, und die Schwaden wurden zu engmaschigen Netzen.

Der Alte schritt mit verdoppelten Kräften. Es half ihm nichts. Unentwegt quirlte es gegen ihn an, und der nasse, moorige Sand hielt ihn zurück. So kam er nicht weiter. Er kämpfte mit der wütigen Anstrengung eines Verzweifelten. Aber je herzhafter er ausschritt, um so mehr wurde er rückwärts getrieben. So glaubte er selber. Er kannte doch die Gegend von Kindsbeinen an; jetzt fand er sich kaum mehr zurecht. Seine Kräfte erlahmten. Er tastete sich mühselig weiter, ohne eigentlich von der Stelle zu kommen.

Hinter ihm war der Brinkschultenhof wie von der Erde verschluckt – und vor ihm, da in den ziehenden Dämpfen . . . er sah das Gehöft nicht mehr, das er passieren mußte, um den richtigen Weg einzuschlagen. Nur Stimmen hörte er, verworrene Stimmen, und das langsame Mahlen von Karrenrädern. Das war Ignaz mit den geretteten Pferden und Wagen. Durch Dunst und Duft arbeiteten sie auf einem Seitenwege vorüber.

Der Alte wollte sie anrufen. Seine Stimme versagte. Er versuchte, quer über das Moor zu dringen; aber knietief sank er ein und war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Seine Angst verdoppelte sich. Er schob die Seidenmütze zurück. Kalter Schweiß bedeckte ihm Stirn und Schläfen.

Er vermochte sich kaum mehr aufrecht zu halten. Seiner Berechnung nach befand er sich höchstens zehn Minuten vom Vorwerk. Von dort aus war es nicht mehr allzuweit bis Sönnern.

»Gott's den Donner noch mal . . .!« preßte er zwischen den blanken Zähnen hervor und griff nach der Halsbinde, als müsse er sie weiter zerren, um sich Luft zu verschaffen. »Das halte ich nicht mehr aus,« sagte er röchelnd, »ich ersticke. Herrgott, ich ersticke!«

Er taumelte am Straßenrande zusammen. Der Oberkörper sank zurück. Mit beiden Händen griff er in die moorige Grasnarbe.

Qualvolle Minuten vergingen.

Das Räderknarren hörte auf. Die Stimmen waren untergegangen. Nichts mehr in der unendlichen Weite als das Schwirren des Ziegenmelkers und das Seufzen des Torfwassers.

Er stemmte sich mühsam auf und suchte Ziel und Richtung zu finden. Er suchte vergebens. Alles war ein einziges, undurchdringliches Grau, aus dem die Erlenbüsche wie drohende Lebewesen aufragten.

Da sah er . . .

Zwischen den Gruben erschienen matte Lichter; dann verschwanden sie wieder. Neue erhoben sich, verbreiteten eine geisterhafte Helle, rückten kaum merklich von der Stelle und betteten ihr fahlblaues Leuchten zwischen Binsen und Röhricht. Auch sie vergingen wie ein Nichts, wie ein leeres Phantom.

Jaspers stierte ihnen nach.

Da kamen sie wieder, tänzelnd und schwebend, im Schilf haftend, weiter rückend, einschlafend und aufwachend, im matten Schein – irre Lichtchen in einer Grabkapelle . . . Ein Irrwisch nach dem andern duckte im Moor auf.

Jaspers suchte auf die Beine zu kommen.

Endlich gelang es.

Er sah kaum noch eine Hand vor Augen.

Der Wind, der bislang geschwiegen hatte, erwachte, wurde lebhafter und raschelte in den Blättern.

Aber was war das . . .?!

Ging es nicht dumpf und hohl in der Ferne? Kam da nicht jemand?

Jetzt hörte er nichts mehr. Nur dicht neben ihm, kaum zwanzig Schritte von ihm entfernt, erhob sich eine wehmütige Stimme.

»Kummit! – Kummit . . .

»Jungfer Scholastika!« sagte der Alte. Er glaubte, sie auf einem Baumstrunk sitzen zu sehen. Der Schleier des grünen Hütchens wehte im Wind.

»Kummit! – Kummit . . .

Oder war es nur ein armseliges Käuzchen?

Wirre Bilder bedrängten ihn.

Noch einmal versuchte er die Füße zu heben. Er konnte nicht weiter. Die Schuhe klebten am Boden.

Da wieder das rauhe Gepolter. Im Vorwerk schlugen die Hunde an. Andere antworteten ihnen.

Eine Blendlaterne warf ihren rötlichen Schein über den Hellweg. Erst klein, wurde sie immer größer und größer und hatte einen erleuchteten Kreis um sich, der Ähnlichkeit mit einem nebelhaften Wagenrad hatte.

Hinter diesem Dunstkreis mußte der Brinkschultenhof liegen . . . und hinter diesem Dunstkreis mußte einer kommen, der die Laterne trug.

Und sie kam näher, immer näher und näher. Und der erleuchtete Kreis nahm zu an Breite und Höhe und wandelte daher wie eine flüchtige Scheibe . . . und warf ihr Licht über den Alten . . . und aus diesem Dunstkreis heraus . . .

Jetzt war es bei ihm.

Mit knochigen Fingern griff es zu.

Jaspers schrie auf.

Eine würgende Hand saß ihm an der Gurgel. Mit eigentümlichem Ton schlug ihm die Zunge gegen den Gaumen.

»Feurio . . .! – und siehe da: der Tag des Gerichtes will kommen!«

Die Faust drückte den Alten zurück, bis sein Kopf gegen einen Baumstamm anschlug.

Dann ließ sie nach. Die Laterne aber hob sich und beschien ein Antlitz, dem das Entsetzen alles Blut aus den Adern getrieben hatte.

So sah der Tod aus.

»Karl Mersmann . . .

»Ja, Karl Mersmann, der bin ich,« lächelte der Spökenkieker, und seine Augen waren friedlich und gütig und durchsichtig wie Spiegelscheiben. Dann ließ er die Blendlaterne herunter und sagte, indem er dem Alten mit fidelem Gesicht auf die Schulter klopfte: »Ohm Jaspers, der Bueren Riekeligkeit, der Papen Begehrlichkeit un Gottes Barmherzigkeit währt bis in alle Ewigkeit. Amen! – aber des Menschen Barmherzigkeit währt nicht bis in alle Ewigkeit, Jaspers. Ich bin vom Vorwerk gekommen, da, wo sie den Braunen ersaufen ließen, den mit der Blesse, und bin nach Hause gegangen, und bin auf meiner Kammer gewesen und suchte, aber es war alles zum Teufel. Da sagte ich mir: Geh wieder ins Moor und auf den Hellweg und suche. Du wirst es schon finden. Und so bin ich aufs neue ins Moor und auf den Hellweg gegangen.«

Er hatte fast kindlich gesprochen.

Jaspers erholte sich wieder.

»Schön,« pflichtete er ihm bei, »dann sucht man weiter, Kardel. Da zwischen den Torfstichen wird es schon liegen.«

»Da liegt nichts und hat nie was gelegen. Der Heidemann hat's, und wenn der es nicht hat . . .«

Seine Stimme nahm einen harten, metallenen Klang an: »Jaspers, wenn der es nicht hat, dann hat's ein anderer – und der ist hier auf dem Hellweg.«

»Außer mir ist hier keine menschliche Seele.«

»Aber Ihr seid auf dem Hof gewesen?«

»Das schon – nur früher als Tillbeck, Jans Stedink sein Schmiedegesell.«

»Der nimmt keinen Palm weg. Nee, der nimmt keinen Palm weg!«

»Was für 'nen Palm denn?«

Der Spökenkieker wiegte sich unheimlich in den Hüften und meinte, halb sprechend, halb singend:

»Äppelken – päppelken,
Hüppelken – püppelken,
Rättken un Kättken –
Mien Pälmken is weg!

Na, der hinterm Spiegel steckte, den mir die Brinkschulte gab – am Palmsonntag vor hundert Jahren. Oder ist es nicht vor hundert Jahren gewesen? – Ja, es ist vor hundert Jahren gewesen. Damals . . .! – ein ganzes Sträußchen mit Palm – hundert Blättchen – zweihundert Blättchen – eins wie das andere . . . Und dann kam Ostern . . . grüne Ostern . . . und fünfundzwanzig Osterfeuer brannten auf Reihe . . . und dann, ja dann bin ich aus der Bodenluke gefallen . . . Ah! – da kommt ja das Möndchen . . .!–«

Er zeigte nach links.

Eine lichtschwache Helle stand über den Erlen und gab sich redliche Mühe, sattsam Raum zu gewinnen.

Jaspers suchte nach einem rettenden Strohhalm.

»Kardel, also wirklich aus der Luke gefallen?«

»Ja – so ganz von alleine.«

»Und keiner hat dabei geholfen?«

»Wer sollte denn helfen?«

»Aber wenn die Brinkschulte den Heinrich Tillbeck heiratet, bist du dann auch noch so ganz von alleine aus der Luke gefallen?«

»Die Brinkschulte . . .?! – Tillbeck . . .?!«

Karl Mersmann machte den Hals lang.

»Höh!« meinte er hierauf und warf die Laterne über sich fort, daß sie einen Feuerstreifen zog und in einem nahen Tümpel verröchelte. »Mensch, laß die Brinkschulte zufrieden . . .! – Ich und sie, wir gehören zusammen, aber Ihr . . . Könnt Ihr beten, Ohm Jaspers?«

»Ja, ich kann beten.«

»Dann betet: Vater unser, der du bist in dem Himmel . . .«

»Es ist gut, Kardel; wir wollen nach Hause.«

»Ihr?! – und nach Hause? Keine blasse Idee von ›nach Hause‹!«

Dann rollte seine Stimme: »Feuermensch, ich will meinen Palm wieder haben. Meinen Palm will ich haben. Er ist heilig, heilig, heilig!«

»Ich habe den Palm nicht!«

»Mensch, du hast ihn aus meiner Kammer gestohlen. Er hat hinterm Spiegel gesteckt, und wer ihn gestohlen hat, kommt nicht mehr aus dem Düstermoor 'raus. Schick di in de Welt oder scher di herut! Vater unser, der du bist in dem Himmel . . . Betet, Ohm Jaspers! – der Palm war heilig, heilig, heilig!«

Und »Heilig, heilig, heilig!« kam es durch Strunk und Büsche und vom Vorwerk zurück.

»Auf Leben und Seligkeit – ich habe den Palm nicht . . .! – Komm man, Kardel, wir sind doch immer Freunde gewesen.«

»Nichts da mit ›Freunde‹, nichts da mit ›Leben und Seligkeit!‹ – wo de Foss ligg, dao frett he nich. – Jaspers, da hört mal . . .

Und Karl Mersmann wuchs und wuchs, übermenschlich, ein Riese im Nebel. Das eckige Gesicht wurde zu einem triumphierenden Antlitz. Hochaufgerichtet, ein eingerammter Pfahl, stand er neben dem Alten, dem das Herz aussetzte – und eine Augenblicksstille war, die kein Lächeln mehr hatte.

Dann hörten sie . . .

Weit drüben im Moor, wo der Boden sich unter dem leisesten Schritt hebt und senkt, hub es an: seltsam, klagend, häßlich und schaurig, wie der Ton einer Geige, die ein Wahnsinniger spielte.

Und immer lauter wurde das Geigen, und immer näher geigte es sich heran, und immer drohender und furchtbarer wuchs Karl Mersmann in den Nebel hinein.

»Da spielt einer,« sagte er mit glutenden Augen.

Jaspers wußte genug.

So was hört man nur einmal im Leben.

Der Herr über Sein und Nichtsein fiedelte im Moor.

Da aber brach der Spökenkieker los: »Feuermensch . . .! – Palmräuber . . .! – Hundeseele . . .! – Siehe dahinten, da sitzen sie: Jan van Leyden, Knipperdölling und Krechting und wollen Gericht machen. Ganz famöste Kerle die drei! – Und Jan van Leyden macht ein Rasiermesser blank. Gut so! – ist gut so! – Komm mal her, mein Hühnchen, jetzt wollen wir das neue Kegelspiel spielen. Es tut nicht weh . . .! Kille, kille, kille . . .

Damit hatte er sich auf Jaspers geworfen.

Ein wütiges Ringen begann.

»Vater unser, der du bist in dem Himmel . . .! – Beten, Ohm Jaspers, beten! – du kriegst jetzt Torfwasser zu saufen . . .! Höhö! – du Palmräuber . . .

Und die wilde Jagd ging in den Nebel hinein, in das Ungewisse, in die grauen Sterbetücher – und fand erst ihr Ende, als zwei unbarmherzige Hände eine röchelnde Kehle umgriffen.

In diesen Händen saß der Tod.

»Heilig! – heilig! – heilig . . .

Die große Lache, südlich des Hellwegs, schluckte und schluckte, bis alles vorbei war. Schwarzes Wasser gurgelte – der Boden wankte und schwankte – Blasen stiegen auf – und eine feierliche Stimme ertönte: »Mein ist die Rache, spricht der Herr, ich will vergelten. 'rin mit die Ratzen . . .

Eine Viertelstunde später ging einer über den Hellweg, die Hände in den Hosentaschen, ruhig wie einer, der gläubigen Sinnes das Sakrament des Altares empfangen.

Und seine Lippen spitzten sich, und versonnen pfiff er in den Abend hinein:

»Großer Gott, wir loben dich,
Herr, wir preisen deine Stärke . . .«

und zog seines Weges.

 


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