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Der Hauptmann erzählte ihm mit wohlwollend verweisendem Tone, wie er gerast habe.

»Ja, ja!« sagte der Dichter nachdenklich:

»Utamur ergo parcius
Verbis, cibis et potibus,
Somno, jocis, et arctius
Perstemus in custodia!«

Es klopfte an der Türe. Der Furier sah schüchtern herein und sagte: »Wünsche recht wohl geruht zu haben! Ich wollte nur die Papiere bringen, die der Herr Schubart gestern im Wirtshause gelassen haben.«

Der Dichter griff hastig nach den Schriften, warf das Schauspiel auf den Boden, so daß der Furier wehmütig auf sein Meisterstück niedersah, entfaltete das Gedicht und sagte, indem ein lebhafter Zug der Erinnerung über sein Antlitz ging: »Die Fürstengruft! ja, ja, ich weiß, weiß sehr gut. Denke dir, mein Sohn, du hast deine Sache brav gemacht.«

Der Hauptmann trat auf ihn zu. »Lassen Sie doch diese Verse nicht unter die Leute kommen!« sagte er, »sie sind gar zu verletzend.«

Der Dichter sah ihn an und las wieder. Er sprang auf und trat an den Tisch: »Wahrhaftig, so geht es nicht! Man muß der Axt noch einen Stiel drehen. Richtig! mit Speck fängt man Mäuse. Warten Sie nur, ich werd's gleich fertig haben: ›Ihr aber, bessre Fürsten, schlummert süße‹ – süße et cetera. Ich kann's jetzt doch nicht gleich zusammenbringen, die schlechten machten mir leichteres Spiel. Nun, es wird schon gehen. Noch zwei, drei Verse auf die guten Fürsten hinzugesetzt, und dann kann man das Ding jedem Herodes dedizieren, weil er sich zu den Ausnahmen zählt.« – Ein Blitz des Hasses fuhr aus seinen sonst so hellen, menschenfreundlichen Augen. Heinrich und der Hauptmann verließen ihn, um den entbehrten Schlaf nachzuholen.

Zu Straßburg auf der Schanz,
Da ging mein Trauern an,
Ein Alphorn hört' ich drüben wohl anstimmen,
Ins Vaterland mußt' ich hinüberschwimmen
Das ging nicht an.

Volkslied.

Heinrich hatte den Tag auf seinem Zimmer zugebracht und fühlte sich auch am folgenden Morgen nicht zum Ausgehen aufgelegt. Sein Nachbar hielt sich still; nur einmal hörte er, daß Besuch bei ihm war.

Nachmittags endlich trieb es ihn hinaus. Er sah fremde Uniformen auf dem Platze neben Garnisonsoffizieren und fragte im Vorbeigehen einen Soldaten: »Was sind das für Herren?«

»Russen,« erwiderte dieser.

»Ah so, die fremden Gäste,« dachte er und ging weiter. »Wunderlich! Von den Festlichkeiten hat Freund Schiller gar nicht gesprochen, und auch ich habe danach zu fragen vergessen.«

Es zog ihn auf den Wall, zu einer Stelle hinter dem Schubartsturm, an welcher er schon manches Stündchen verträumt hatte. Wäre er sich völlig über den Grund klar geworden, warum er diese Stelle jeder anderen vorzog, er hätte sie vielleicht nicht so bald wieder besucht. Heute fand er das Plätzchen besetzt und wollte schon zurückgehen, als er seinen Deserteur erkannte. Hastig eilte er auf ihn zu und klopfte ihn auf die Schulter. Der Mann wandte sich langsam herum, und unser Freund blickte in ein fahles Gesicht mit erloschenen Augen; die Jammergestalt saß gekrümmt am Boden. Er verbarg sein Befremden über diese Verwandlung und sagte: »Nun, Ihr habt Euch also anders besonnen.?«

»Ich hab' wohl müssen,« erwiderte jener eintönig.

»Vielleicht ist's besser so. Wer weiß, wie es Euch gegangen wäre.«

Der Soldat schwieg eine Weile, endlich sagte er mit bittrem Lachen: »Nun, schlechter hätt's nicht gehen können.«

Heinrich, welcher wußte, daß man aus dieser Art von Leuten nichts herausbringt, wenn man geradezu fragt, sagte nach einer Pause: »Es muß Euch wohl schon hinderlich gegangen sein in Eurem Leben.«

»Ziemlich! Mein ganzes Leben ist eigentlich durch einen Rechnungsfehler zu Grund gerichtet worden.«

»Durch einen Rechnungsfehler? Wie so?« – Er horchte hoch auf, denn er ahnte, daß das Rätsel jetzt seine Lösung finden würde.

»Nun, dadurch, daß dreimal drei neunzehn war,« erwiderte der andere.

»Das versteh' ich nicht.«

»Will's gern glauben!« lachte der Soldat. »Sie müssen mir aber versprechen, nichts davon weiter kommen zu lassen – zwar lang kann man mich nicht mehr plagen.«

Heinrich versprach ihm Verschwiegenheit. Der Soldat hob an zu erzählen, indem er mit großem Nachdruck immer nur ein paar Worte hervorstieß und dann wieder einen Augenblick inne hielt. Seine Augen begannen nach und nach zu flammen.

»Hören Sie zu! Ein hoher Offizier tritt zu einem jungen frischen Bauernbuben. Du würfelst mit mir! sagt er: gewinnst du, hier ein paar Dukaten! verlierst du, bist du mein! Soldaten standen herum, der junge Bursche konnte nicht antworten, wie er gern gewollt hätte. Er wirft, und wirft achtzehn. Dann wirft der Offizier, deckt die Hand auf die Würfel; Neunzehn! fort unter die Muskete! – Oh!«

Heinrich sprang in die Höhe. »Hab´ ich denn das nicht schon einmal gehört?« rief er. »Sicherlich! aber es klingt mir wie aus ferner Zeit.«

»Die Geschichte ist im Siebenjährigen Krieg vorgefallen,« versetzte der Soldat, »ich war damals ein blutjunger Bursche, und der Offizier, der so ehrlich würfelte, ist« – er wollte es flüsternd sagen, aber es klang wie ein Geschrei – »ist seine Exzellenz, der jetzige General von Rieger.«

Unserem Freunde fiel es wie Schuppen von den Augen. Diese Geschichte hatte er von dem Schmied gehört, der ihn einst bei seinem Ritt von Illingen nach Stuttgart begleitete. Das mußte sein Sohn sein! Wo hatte er nur seine Sinne gehabt? Der Mensch sah seinem Vater noch in seiner jetzigen Verwitterung ähnlich, und war nicht neulich, als er so straff und stämmig vor dem Kommandanten stand und nicht tanzen wollte, war dem Zuschauer nicht eine bekannte Gestalt vor die Seele getreten? Unglücklicher Vater! So nahe ist dir dein Lieblingssohn, und du glaubst ihn längst in Böhmen verfault!

»Ihr seid also ein Landeskind?« fragte Heinrich, um der Wahrheit noch näher auf die Spur zu kommen.

»Freilich bin ich´s. Und wenn mein Vater auf den Kirchturm stiege und rief mit seiner starken Stimme. Christian! ich müßt´s beinah hier oben hören.«

Christian! Es blieb kaum ein Zweifel mehr übrig. So hatte ja der Schmied seinen Sohn genannt.

»Aber wenn Euer Vater so nahe wohnt, warum gebt Ihr ihm keine Nachricht?«

»Was? Soll er den Jammer haben, seinen Sohn wiederum unter den Soldaten zu finden? Oder soll er in seinen alten Tagen noch so ein großes Geld schwitzen, um mich loszukaufen? Deshalb wollte ich mich selber freimachen und in der Nacht meinen alten Vater noch einmal sehen, ob er noch lebt, und wieder in die weite Welt hineinlaufen, weiß selbst nicht, wohin. Aber es ist mir ganz konträr gegangen.«

»Wenn Euch Euer Vater lieb hat,« sagte Heinrich, »so rückt er gewiß das Geld gern dran. Bedenkt doch nur, was ihm lieber sein muß, das Geld oder der Sohn?«

»Hab´s auch schon gedacht. Aber ich wußte nicht, wie ich ihm Kundschaft zukommen lassen sollte, denn man kann keinem Menschen trauen. Auch ist keiner hier, den ich nach ihm fragen könnte. Also weiß ich nicht einmal, ob er noch lebt, und ob nicht mein Bruder die ganze Erbschaft übernommen hat. Da ist so ein alter Springinsfeld aus dem Siebenjährigen Krieg nicht immer willkommen. Übrigens ist mein Peter ein ehrlicher Kerl, und mein Vater lebt gewiß noch; er hatte immer eine eisenfeste Gesundheit.«

»Armer Teufel!« dachte Heinrich, dem jetzt das ganze Trauerspiel wieder in die Erinnerung kam, »dein Peter schläft schon lang, mit einer Kugel im Herzen, bei Geislingen.«

Er wollte aber seiner Sache ganz gewiß sein und sagte, nachdem er eine Weile schweigend in die Gegend hinausgesehen: »Es ist doch das Vaterland! das ist immer ein Trost.«

Heinrich ließ sich die umliegenden Ortschaften benennen.

»Ja, Herr!« sagte der Soldat und strich sich den Schnurrbart; »unsereiner ist nur ein gemeiner Kerl, aber es hat mir immer etwas gefehlt in der Fremde. Bei uns ist's halt anders!«

Und doch hatten sie ihn so übel behandelt im Vaterlande.

»Es scheint, Ihr sitzt auch gerne hier,« fuhr Heinrich fort, »es ist mir eine Lieblingsstelle.«

»Ja, die Aussicht wär' gut.«

Er ließ sich die Ortschaften benennen, die von der Stelle aus zu sehen waren. »Dort hinten,« fuhr er fort, »bin ich einmal durch ein Städtchen geritten, man sieht's nicht von hier aus, aber dorthin liegt's, winklichter und holpriger ist mir in meinem Leben keins vorgekommen.«

»Das ist Vaihingen,« sagte der Soldat, und ein Lächeln flog über sein trübes Gesicht.

»Richtig. Und im nächsten Dorfe mußte ich anhalten, um ein Hufeisen aufschlagen zu lassen. Wie heißt das Dorf?«

»Hinter Vaihingen? zum Beispiel Roßwag.«

»Nein, so hieß es nicht.«

Der Soldat nannte ein anderes.

»So hieß es auch nicht.« Er beschrieb den Weg. »Da wo die Straße sich gegen Pforzheim und Bretten scheidet,« sagte er.

Der Soldat hatte sich halb vom Boden erhoben, alle Muskeln zitterten in seinem Gesicht. »Es heißt – ich glaube – Illingen!« Er sagte es mit dem unwillig verhaltenen Tone, womit der Mensch oft einen geliebten Namen ausspricht, den er still im Herzen behalten möchte.

»Hab' ich dich?« dachte Heinrich. »Nun, da kann noch Rat werden. Hat er auch die Tochter mir vom Herzen gerissen, zu einem guten Werke wird er die Hand gerne bieten. Gleich morgen schreib' ich an ihn.«

»Hört, Mann,« wendete er sich zu Christian, nachdem sie geraume Zeit stumm nebeneinander gesessen hatten, »ich habe mir die Sache bedacht. Vertraut Euch mir und laßt mich an Euren Vater schreiben.«

Christian sah ihm lang ins Gesicht, und eine Träne trat in seine Augen. »Es ist zu spät,« sagte er, »aber Sie sollen mein Testamentsvollstrecker sein, Herr, und Gott wird's Ihnen lohnen. Wenn ich sterbe, so will ich Ihnen meines Vaters Namen sagen, und Sie wenden dann vielleicht ein paar schriftliche Worte an ihn.«

»Warum denn aber nicht gleich?« fragte Heinrich mit Ungeduld.

»Ich will Ihnen,« erwiderte Christian, ohne auf seine Frage zu antworten, »meinen Lebenslauf erzählen, daß Sie ihn in der Kürze berichten können.«

Er holte mühsam Atem und begann: »Als mich der Oberst Rieger angeworben hatte, mußt' ich gleich nach Böhmen marschieren. Dort ergriff ich die erste Gelegenheit, und das samt meinem halben Regiment und mit klingendem Spiel! – zu den Preußen überzugehen, wo es mir anfangs auch ganz wohl gefiel. Und so wär's geblieben, wenn ich hätt' immer bei den Aktionen mitsein dürfen. Aber ich kam nachher zu einem Garnisonsregiment, und – Herr, ich will mich nicht besser machen, als ich bin – der Mensch ist eben ein Mensch – ich dachte an meinen Vater zu Hause, und ein Mädchen hatt' ich auch daheim gelassen, und mein Schicksal machte mir zu schaffen, wenn ich sonst nicht viel zu tun hatte – da legt' ich mich auf den Suff, und damit hat man bei den Preußen wenig Ehre. Drum, als es nicht mehr gut tun wollte, lief ich zu den Osterreichern. Mit denen ist schon besser auszukommen, was das betrifft; auch nahm ich mich mehr in acht. Es wurde Friede, ich blieb und hatte es gut. Ich wurde in eine Stadt gelegt, wo ich das Schmiedhandwerk nebenher treiben durfte und mir manchen schönen Gulden verdiente. Es werden wohl zwanzig Jahre so vergangen sein. Ich war zufrieden; heim konnt ich ja nicht, und Nachricht von den Meinigen wußt' ich mir auch nicht zu verschaffen. Da – stoßen Sie sich nicht an meinem Aussehen, ich war vor einem Jahr noch ein ganz sauberer Kerl und bin erst seither so alt geworden, wohl um zehn Jahre älter – da widerfährt mir´s in meinen gestandenen Jahren, wie ich an gar nichts dergleichen mehr dachte, daß ein Weibsbild ihre Augen auf mich wirft; mein Schatz zu Hause hatte inzwischen seinem vorherigen Alter das Doppelte zugelegt und wird schwerlich auf mich gewartet haben, und wie es so geht, wir kamen um den Altar herum, eh´ der Pfaff das Kyrie singen konnte. Nun gab's einen großen Lärmen unter der Verwandtschaft. Sie wollten mich loskaufen und zum Meister machen, und da sollt' ich das Mädel heiraten. Das hätt' ich auch von Herzen gern getan, wenn ich nur nicht auch die Religion hätte wechseln sollen. Aber dabei fiel mir immer mein Vater ein, was der dazu sagen würd', wenn er's erführe. So wußt' ich mir nicht mehr zu raten noch zu helfen, und, Herr, der Mensch will eben heim, wenn er's noch so gut hat in der Fremde. Ich dachte, zu Haus könnte jetzt Gras über die alte Geschichte gewachsen sein, steckte mein bißchen Geld zu mir, warf Muskete und Schmiedhammer weg und lief davon; aber sie hätten mich beinah' gekriegt.«

»Nun, da kamt Ihr also ins Vaterland zurück; aber warum habt Ihr denn da auch wieder die Montur angezogen.«

»Ist gut fragen! Ich wurde unterwegs von Räubern ausgeplündert, lag ein halb Jahr in einem Gutleuthaus krank, mußte mich von Ort zu Ort durchbetteln, und da griffen sie mich an der Grenze auf. Ich glaubte freilich, mein Handel werde verjährt und vergessen sein, und hätt' mich auch nach J – wollt' sagen nach Haus gewagt, doch aber mit Vorsicht, und da hätt' ich bald gesehen, ob ich kecklich bleiben kann oder nicht. Aber als man mich an der Grenze nach meinem Namen und Vaterland fragte, da hatt' ich doch das Herz nicht, die Wahrheit anzugeben; und so stießen sie mich als Vagabunden wieder unter die Soldaten, und alle blauen Donnerwetter müssen's regieren, daß ich grad' auf den Asperg und zu meinem alten Obersten kommen mußte.«

»Das war freilich ein unglückseliges Zusammentreffen.«

»Ja, Herr, das Herz kehrte sich mir im Leib um, als ich ihn sah. Es war ihm seither auch schlecht gegangen, dem Menschenschinder; dennoch aber hätt' ich's ihm zehnmal ärger gegönnt, so feind war ich ihm.«

»Und er? hat er Euch denn erkannt?«

»Glaube nicht, sonst hätt' er ja kurzen Prozeß mit mir machen können. Aber es war, als ob man ihm etwas gegen mich eingegeben hätte. Wir sahen einander kaum an, so war's fertig. Gleich vom ersten Augenblick an war er spitz gegen mich.«

»Es ist,« sagte Heinrich, »als ob er seinen Feind gewittert hätte.«

»So was muß es gewesen sein. Und nun, was soll ich's lang machen? Ich tat meinen Dienst, wie ein braver Kerl, und niemand kann mir was vorwerfen, niemand! Aber grün war ich ihm nicht, zu seinen frommen Faxen und seinen Tanz- und Komödiantenpossen hätt' ich mich in keinem Fall hergegeben, so am allerwenigsten, da ich sah, daß es ihn ärgerte. Und je mehr es ihn ärgerte, desto verstockter war ich, und war das mein einziger Trost, mein Essen und Trinken, daß ich ihn ärgern konnte. Und wenn er schrie, der Schlag sollte ihn rühren, so war mir das, was einem guten Katholiken sein Weihwasser ist. So kamen dann Mißhandlungen und Züchtigungen, und weil ich's, Gott weiß es, das wenigste Mal verdient hatte, so machte mich das immer verstockter. Ja, ich hab' ihm das Leben ehrlich und redlich sauer gemacht; denn wenn so ein großer Herr die Gewalt hat, zu quälen und unrecht zu tun, so ist dem Armen und Zertretenen auch ein Stachel gegeben.«

Der Unglückliche lächelte ingrimmig bei diesen Worten.

»Das ist ein armseliger Trost,« rief Heinrich. »Feindschaft ernährt nicht. Das muß aufhören, Ihr müßt fort. Ich schreibe heute noch Eurem Vater.«

»Es ist zu spät, Herr,« sagte Christian. »Ja, wenn ich Sie früher gekannt hätte, so hätt' ich vielleicht noch glücklich werden können. Aber so saß ich da, und mußt' mein Elend kauen, und hatte niemand, dem ich mich verraten konnte. Das hat mir so nach und nach das Herz abgedrückt.«

»Wenn Ihr nur erst in Freiheit seid,« sagte unser hoffnungsvoller Freund, »so wird sich das schon geben. Jetzt faßt Euch vollends in Geduld und erleichtert Euch das Fortkommen. In wenigen Tagen muß Hilfe da sein.«

»Es ist zu spät, sag' ich.«

»Warum ist's denn zu spät?« rief Heinrich, auf den Boden stampfend.

»Sehen Sie denn nicht, daß ich hin bin?« antwortete der Soldat mit dem Lächeln der Verzweiflung. »Ich werd's nicht lang mehr treiben.«

»Wie? eine so starke Natur!«

»Ja, wenn der Fall nicht wäre! Ich bin ja verunglückt, als ich durchgehen wollte.«

»Warum sagt Ihr mir das erst jetzt? Was ist Euch denn geschehen?«

»Ich hatte dem Kommandanten alle seine Seile aus der Waschküche genommen, um ihn zu guter Letzt noch einmal rechtschaffen zu ärgern. Eine Leiter hatte ich auch gesehen; man hatte den Tag von den Bäumen im Graben Obst heruntergetan. Soweit war alles gut. Wie ich mich aber hinablassen wollte, war ich zu eilig und ungeschickt, weil ich mich so lang mit Ihnen aufgehalten hatte, und so fiel ich die ganze Höhe hinab. Herr! das war eine Nacht. Als ich endlich wieder kriechen konnte, suchte ich die Leiter, um über die äußere Mauer zu entkommen. Dort wär' ich in den Weinbergen gewesen, und wenn ich mich nur noch in einen Wald hätte schleppen können, so wär' ich doch wenigstens in der Freiheit gestorben. Aber die Leiter war nicht mehr da. Gott weiß, wer sie weggenommen hat. Also, um nicht totgeprügelt zu werden, nahm ich, wie es gegen den Morgen ging, all mein bißchen Kraft zusammen und klomm, mit Hilfe des Seils, die steile Mauer wieder hinauf, brachte das Seil wieder an seinen Ort und kroch, mit allen Schmerzen des Leibes und der Seele, in meine Hölle zurück. Ja, da mögen die Teufel gelacht haben.«

Heinrich schlug die Hände vor das Gesicht. »Mensch, du brichst mir das Herz!« rief er.

»Der Jammer wird bald zu Ende sein,« sagte Christian. »Ich muß mir was im Leib verfallen haben, der Tod treibt mich umher. Der Doktor, der mich ins Lazarett gesprochen hat, weiß natürlich nicht, was es ist; aber ich seh' ihm an, daß er mich aufgegeben hat. Soll ich nun meinem Vater, der mich längst verschmerzt hat, neues Leid machen? Es ist vielleicht besser, er erfährt gar nichts mehr von mir.«

»Der Arzt ist menschenfreundlich,« sagte Heinrich, »laßt mich mit ihm reden.«

»Nein! nein!« rief Christian, »das käme vor den Kommandanten.«

»Was ist's mit dem Kommandanten?« rief eine strenge Stimme, und General Rieger stand hinter ihnen. »Das ist mir ein sauberes und höchst würdiges Komplott! Der Kerl da schleicht mir seit einiger Zeit ganz heimtückisch herum, und Sie, mein Herr, was haben Sie mit meinen Soldaten so leise abzureden?« – Er sah seinen Gefangenen verächtlich an. – »Sie haben fürs erste Zimmerarrest. Morgen will ich weiter fragen.«

Heinrich machte eine kurze Verbeugung und wandte sich, um zu gehen.

»Und du, Kerl, kommst sogleich mit mir! Ich will dir die Heimlichkeiten vertreiben.«

Heinrich, der diese Worte gehört hatte, eilte zurück. »Ich bitte Sie bei allem, was heilig ist,« rief er, »schonen Sie ihn, er ist krank!«

»Sie schweigen!« donnerte der Kommandant. »Und wenn Sie es noch einmal wagen, für ihn zu sprechen, so soll er dafür doppelte Strafe bekommen. Marsch, Kerl!«

Heinrich ging auf sein Zimmer. Nach kurzer Zeit hörte er die Türe verschließen. Er eilte an die Sprechlücke und fragte seinen Nachbar, ob er ihm wohl einen Brief besorgen könnte. Schubart versprach es bereitwillig, sobald er Gelegenheit haben würde. Der Dichter vernahm das unangenehme Schicksal seines Mitgefangenen, ohne daß dieser die Ursache weitläufig berichten mochte, und gab sich alle Mühe, ihm die Zeit zu verkürzen.

Als Heinrich endlich ungestört war, sagte er, im Zimmer auf und nieder gehend: »Nun, wenn ich diesem Menschen noch helfen kann, so bin ich doch nicht vergebens hier gewesen.«

Er wollte an den alten Pfarrer in Illingen schreiben, aber so sehr die Umstände drängten, so war er doch ungewiß, wie bald der Brief fortkommen würde. »Wir sind alle auf das Warten angewiesen,« sagte er. »Wie kann ich noch klagen, wenn ich an diesen stillen Dulder denke, der in der Nähe der Heimat leidet und schweigt, der an der Pforte der Freiheit mit zerschlagenen Gliedern liegt und in die Verdammnis zurückkriecht, der stumm seine Schmerzen mit sich herumträgt! Doch es wird ja nicht am Äußersten sein. Für körperliche Schäden gibt's Arzneien, und für Seelenleiden gibt es diesmal auch eine Hilfe, die Heimat. Wenn alles fehlschlägt, so muß Riegers Gewissen herhalten und den falschen Wurf zu kauen bekommen; aber heute läßt sich nicht mehr mit ihm reden. Mut! der alte verlassene Vater soll noch seine Freude erleben!«

So tröstete er sich mit dem Gleichmut eines Menschen, dem nicht der Hunger und der Kummer und der Tod am Herzen frißt.

Ich wohn' in meiner Liebsten Brust,
In ihren stillen Träumen.
Was ist die Welt und ihre Lust?
Ich will sie gern versäumen.
Was ist des Paradieses Lust
Mit grünen Lebensbäumen?
Ich wohn' in meiner Liebsten Brust,
In ihren stillen Träumen.

Rückert.

Im letzten leichten Morgenschlummer hatte er ein wunderbares Gesicht.

Es war ihm, als ob er in eine weite unabsehbare Landschaft versetzt wäre, die, soweit sein Auge reichte, voll Getreide stand. Die Ähren waren gelb und reif und harrten der Sichel. Da sah er einen Greis, der langsam durch das hohe Korn herunter kam. Gestalt und Gewand war nicht wie eines Menschen. Rosige Morgenwolken schwebten um seine hohe Stirne, aus seinen Augen drang ein nie gesehenes und doch nicht blendendes Licht, und ein göttliches Lächeln spielte um seinen Mund. In den Ähren aber erhob sich ein sanfter Wind, der nicht von einer Seite, sondern zugleich von allen Weltgegenden kam. Er bewegte die Ähren, daß ihre Wellen von überall her durch die weite Ebene liefen; sie schienen sich rings vor der überirdischen Erscheinung zu neigen. Der Greis kam näher und erhob das Angesicht; auch in der Seele des Träumenden war es, wie in einem wogenden Saatfeld, und er erwachte mit unbeschreiblicher Bewegung.

Indem er noch diesem Traumgesichte nachsann, hörte er, wie die Schildwache seine Türe aufriegelte. Ein Soldat trat herein: »Einen Empfehl vom Herrn General, und hier überschicke er eine geistliche Seelenspeise, und der General wünscht, daß sie wohl bekommen möge!« sagte er mit so steifem soldatischem Tone, daß Heinrich laut auflachen mußte, und reichte ihm ein Briefpaket.

»Was mag das bedeuten?« rief er, als der Rekrut abgegangen war. Er besah die Aufschrift, sie war von einer unbekannten Männerhand. Auch das Siegel erinnerte er sich nie zuvor gesehen zu haben. Er drehte den Brief hin und her und erbrach ihn endlich. Aus dem Kuvert fielen ihm mehrere Schreiben entgegen. Er entfaltete das erste und erblickte eine weibliche Handschrift, die ihm ebenfalls unbekannt war. Er sah nach der Unterschrift, der Brief war einfach »Amalie« gezeichnet. Noch einmal drehte er das Papier hin und her, so wunderlich war ihm zu Mute. Endlich las er: »Sie werden nicht wenig erstaunen, einen Brief von mir zu erhalten. Aber wie wäre unserem abgestandenen, verwirrten Dasein zu helfen, wenn nicht endlich ein Wunder einträte! Auch mit mir ist eines vorgegangen. Doch ich wollte nicht von mir reden, sondern nur die beiden beigelegten Briefe mit einigen Erklärungen begleiten. Die Sage, die uns zu Ohren kam, daß Sie die Freiheit wohl nie wieder erhalten würden, gab uns den Mut, mit solcher Offenheit zu Ihnen zu reden; außerdem wäre es nicht geschehen. Die Welt freilich würde sonderbar darüber urteilen, Sie gewiß nicht! Uns jedenfalls leitete die Überzeugung, daß, was Sie auch für Fehler begangen haben mögen, das Innerste Ihres Herzens gut und rein ist. Möchten Sie auch uns dafür erkennen! Unsere Sendung ist in Ihrer gegenwärtigen Lage gewiß uneigennützig, sie ging aus dem Gefühle hervor, daß Sie einsam sein und sich nach teilnehmenden Menschen sehnen werden. Wenn diese Zeilen Ihnen einen frohen Augenblick machen, so sind wir zufrieden. Nur noch eines wünsche ich beizusetzen. Ich habe einigen Grund, zu glauben, daß Sie von meiner Schwester Ungleiches denken, was dieser Mitteilung einen bitteren Beigeschmack zuziehen könnte, und erkläre mich bereit, Ihnen Aufschlüsse zu geben, die sie würdig zeigen werden, Trösterin und Freundin eines Gefangenen zu sein. Daß es nicht gar so schlimm bei Ihnen steht, wie sie meint, habe ich ihr schon geschrieben.«

Er hatte dieses rätselhafte Schreiben zweimal überlesen, eh' er es wagte, nach den übrigen Papieren zu greifen; denn schon ahnte er, was sie enthalten würden, und hatte noch nicht den Mut, sich der seligen Gewißheit zu versichern. Endlich schlug er sie auseinander und las verkehrt und ohne Ordnung. Es war Lottchens wohlbekannte Hand! Er sprang aus dem Bette, drückte sein Gesicht an die Fensterscheiben, kleidete sich an und griff zwischen jedem Kleidungsstücke wieder nach den Briefen der Geliebten. Wir teilen sie mit, wie sie der Zeit nach erlassen wurden. Das erste Schreiben (denn beide waren an Amalien gerichtet) begann mit zärtlichen Ausrufen des Erstaunens über eine plötzliche Änderung, die im Herzen der Schwester sich zugetragen haben mußte. Welcher Art und wodurch dieselbe veranlaßt war, ging aus dieser Antwort, denn das war es, nicht deutlich hervor; es schien, Amalie, die durch irgend eine wunderbare Erschütterung weich gemacht und ganz gerührt war, hatte sich mit der neuen Empfindung in ihrer ersten Frische und Stärke rein aus eigenem Antrieb an das Herz der jüngeren Schwester geworfen und sie aufs innigste wegen ihrer früheren Härte und Verschlossenheit um Verzeihung gebeten. So viel war in Lottchens Briefe mehr zu erraten als zu lesen. Die Abbitte war mit liebevoller Heftigkeit zurückgewiesen und unveränderliche Zärtlichkeit und Schwestertreue zugesichert. Die herzlichste Bewegung leuchtete aus dem Schreiben hervor, das immer wieder mit Ausrufen einer freudigen Verwunderung unterbrochen war und mit liebenswürdigen Beschreibungen eines stillen Hauswesens, der Sorgfalt für den Vater und seines ruhigen Wohlbefindens schloß. Nach weiblicher Weise war eine Nachschrift hinzugefügt, welche folgendermaßen lautete: »Ich habe immer die Feder ansetzen wollen und mich immer wieder gescheut; und doch wäre es ja recht schlecht von mir, wenn ich Dir nicht jetzt mein ganzes Vertrauen beweisen wollte. Es hat mir immer in der Seele weh' getan, daß ich gegen Dich nicht das Herz haben durfte, nach H. zu fragen. Wie geht es ihm? Ist er noch immer in Stuttgart? Liebste Schwester, Du sollst wissen, daß ich noch immer die alten Gesinnungen gegen ihn habe. Ach, wenn er das wüßte! Um keinen Preis darf er das erfahren! Ich kann's nicht ändern, aber eben deshalb denke ich auch, daß er's wert sein muß. Schreibe mir von ihm, doch ja recht viel. Wenn er nur glücklich ist, so will ich zufrieden sein. Vorwürfe kann ich ihm keine machen, denn wir haben uns ja zuerst von ihm getrennt, und wenn ich damals nicht so jung gewesen wäre – Ach, jetzt ist das Papier zu Ende! Lebe wohl! Ich kann's noch immer nicht fassen!«

Die letzten Worte waren ins Siegel hineingeschrieben und kaum zu entziffern. Auf diese Anfrage schien Amalie wieder geschrieben und, was etwa von Stadtgerüchten zusammengetragen worden war, berichtet zu haben. Darauf erfolgte dann das zweite Schreiben, das wir unverkürzt mitteilen wollen: »Gefangen ist er? und der Herzog ist unversöhnlich gegen ihn erbittert? Und Du schreibst mir nicht einmal recht deutlich, warum? Ja, daß er kein Verbrechen begangen hat, das brauchst Du nicht erst zu versichern, das weiß ich wohl.

»Ach, ich kann mir's schon denken. Ich weiß noch zu gut, wie wir ihn mit jener Dame durch die Straße fahren sahen. Ich fürchtete damals schon, es werde zu bösen Häusern gehen. Es ist nicht recht von ihm, nein gewiß nicht! Aber ich denke immer, wenn wir ihn nicht von uns getrieben hätten, so hätte ich ihn an meinem Herzen warm behalten, und dann hätte er nicht nötig gehabt, mit dem seinigen in der Irre zu gehen. Denn er kann sein Herz nicht leer lassen, dafür kenne ich ihn, und wo er die Wahrheit nicht findet, da nimmt er am Ende den Schein, weil er überall seinesgleichen zu treffen glaubt. Gott weiß, was er sich da nun wieder für überirdische Dinge vorgelogen haben mag. Ich bin wirklich recht böse, und doch möchte ich dann wieder nichts als weinen. Er muß gewiß keinen rechten Freund gehabt haben. Aber die Männer können nicht so still und geduldig sitzen wie wir.

»Nun, jetzt hat freilich die Herrlichkeit ein Ende, und ich muß Tag und Nacht daran denken, wie er so ganz allein und verlassen in seinem Gefängnis ist und gar niemand hat, der teil an ihm nimmt. Dann denk' ich wieder, wenn ich nur des Schließers Tochter wäre und ihm das Essen durch den Schieber reichen dürfte; wenn es auch nicht erlaubt wäre, mit ihm zu reden, so wollte ich ihn so freundlich und tröstlich dabei ansehen, daß er genug an dem Blick hätte bis zur nächsten Essenszeit. Ach, ich bin ein törichtes Mädchen. Nein, Amalie, Du lachst mich nicht aus. Ich bete unter Tränen für ihn, Gott wird gewiß seine Lage erleichtern.

»Jetzt hab' ich ihn erst recht lieb, da er so unglücklich ist. Wir sind ganz geschieden, und ich werde ihn zeitlebens nicht wieder sehen, aber gerade darin fühle ich, daß er jetzt ganz mein ist. Auch trag' ich gar keine Scheu ihm das zu erkennen zu geben; denn jetzt fallen alle die Rücksichten weg. Die ihn ins Unglück gebracht hat, die hat sich nun schon längst von ihm gewendet und in andere Abwechslungen gestürzt, ich weiß ja, wie das so geht. Jetzt hat er nur noch mich. Ich will nichts ohne Deinen Rat tun, liebe Schwester, denn Du hast ein Recht auf mich, aber sieh', ich glaube, ich bin jetzt verbunden, ihm das Versprechen zu halten, das ich ihm einst gegeben habe. Ach, es war eine unreife Jugendliebe, die nicht so bestehen konnte, aber jetzt ist sie anders geworden und weicht nicht mehr aus meinem Herzen.

»Ich habe das erst so nach und nach an mir erfahren. Ich hatte meine Unfälle und jene abscheuliche Tollkühnheit des Menschen, den meine Lippen nicht mehr nennen werden, mit Fassung ertragen und inzwischen so hingelebt. Nun weißt Du ja, daß der Vater unwohl wurde und wir deshalb einige Wochen lang einen Vikar im Hause hatten. Davon mag ich nur mit Dir plaudern. Er war ein ganz guter braver Mensch, an dem ich nicht das mindeste auszusetzen hatte, vernünftig und gebildet, hübsch sogar, nur etwas linkisch, wie alle Stiftler, aber welche Pfarrerstochter wird nicht darüber hinwegsehen? H. war's ja auch ein wenig und wird's gewiß nie ganz verlieren. Nun, Du weißt, die jungen geistlichen Herren, trotz aller Unbeholfenheit sind sie bald im Zuge. Gewiß, dieser hätte ein gutes und liebevolles Herz verdient. Aber da lernte ich mich erst recht kennen. Ich bekam einen wahren Ingrimm gegen ihn, als er sich mir nähern wollte; es war mir, als wollte er einen Diebstahl begehen. Er nahm es sehr übel und empfahl sich so schnell als möglich, denn der Vater konnte gottlob! sein Amt bald wieder versehen. Aber ich war glücklich seit diesem Augenblicke, denn ich wußte nun, was ich hatte. Mein Leben geht darin auf mit aller Entbehrung, und doch bin ich glücklich.

»Nein, keiner ist ihm gleich! Die anderen sind zuerst Doktoren, Magister, Schreiber, und was sie sonst für Röcke tragen mögen, und viele sind gar nichts anderes. Er aber ist zuerst ein Mensch und hernach das übrige, was ihm just sein Beruf zufällig für ein Gewand umgelegt hat. So, meine ich, seien die Menschen ursprünglich aus Gottes Händen gekommen und haben sich auf Erden, was weiß ich warum, verpfuschen lassen. Dieses freie offene Herz, das so unerschrocken allen Wesen entgegenkommt, wie könnte ich vergessen, daß es mir einmal angehört hat! Auch kann ich gar nicht anders glauben, als daß es mir noch gehört, obgleich ich den Grund nicht erklären kann, und in dieser Überzeugung will ich leben und sterben. Selbst im Gefängnis muß er mit diesem Herzen noch mehr zum Glücke fähig sein, als die meisten anderen in der Freiheit. Wenn er es nun so recht empfinden könnte, wie ich hier in der Ferne ganz für ihn lebe, so wären wir vielleicht immer noch das glücklichste Paar auf Erden.

»Ich habe Dir da einen recht langen Brief geschrieben, aber ich weiß ja, daß Du voll Teilnahme bist. Und nun zum Beschluß die Hauptsache, eine große, große Bitte. Sieh, Du hast ja viele Verbindungen und kannst manches möglich machen. Ich habe mir eine Locke abgeschnitten. Wenn Du sie ihm nun senden könntest und ihm dazu sagen lassen, er sei nicht so allein, wie er vielleicht glaube, es gebe noch ein Herz in der Welt – Ach, das kannst Du alles viel besser ausrichten – Und Gott sei auch bei ihm – Liebe, liebe Schwester, ich kann nicht weiter schreiben. Gott segne Dich für alles, was Du tun magst. Es wird ihm vielleicht wohl tun, und mißverstehen kann und wird er es nicht. Verzeih, daß ich von gar nichts anderem geredet habe, ich will bald wieder schreiben. Lebewohl und behalte lieb

Deine Lotte.

»Nachschrift. Da ist mir ein verwegener Gedanke gekommen, aber es geht nicht, wegen dem – und dem Vikar, sonst würd' ich Dich gebeten haben, ihm geradezu meinen Brief zu schicken. Ich habe das alles gegen Dich so herausgesagt, wie ich's nimmermehr gegen ihn im Stande wäre. Aber so kann es jetzt nicht sein. Wenn Du ihm aber die Stelle herausschreiben wolltest und zu der Locke legen, wo ich Dir gesagt habe, wofür ich ihn halte, ich glaube, das würde ihn freuen und er verstünde mich besser als ich mich selbst. Vor dem Vater muß es freilich ein Geheimnis bleiben, aber nur um sein Alter nicht zu beunruhigen, denn wenn er mich fragte, so wollte ich's ihm freimütig bekennen. Ich bin gewiß, daß es nichts Unrechtes ist. Wir sind zuerst unserem Herzen Rechenschaft schuldig, und was dieses billigt, das will ich getrost verantworten. Ich küsse Dich tausendmal.

»Ach, sein Herz wird mich verstehen, das sag' ich mir immer wieder vor. Ein solches Herz konnte freilich nicht ohne Irrtümer durchkommen.

»Nein! Schick' ihm bloß die Locke. Wir dürfen nicht zu weit gehen. Jetzt aber auch keine Nachschrift weiter! Adieu, Schwesterherz!«

*

Und unser Freund? Wir wollen ihn verlassen und uns eine Zeitlang auf den Wall zu den Lerchen begeben, die er einst beneidete; denn wir würden jetzt doch nichts aus ihm herausbringen und so wenig eine Antwort erhalten, als der gute Schubart, welcher zehnmal durch die Sprechlücke herüber fragte, was ihn denn so ungewöhnlich ins Feuer gebracht habe.

Nun endlich, wie das schönste, was dem Menschen begegnen kann, wieder Gestalt und Worte in ihm findet, und die erste Ungeduld, Schlösser und Riegel zu zerbrechen und seinem Mädchen an den Hals zu fliegen, überwunden ist, sehen wir ihn mit der Locke beschäftigt, die anfangs unbeachtet aus dem Kuvert herausgefallen war, und die er unter seligen Tränen küßt und beschaut.

»Hat sich meine Erinnerung verwischt? Oder bist du wirklich dunkler geworden? Wie glänzend hell waren jene blonden Haare! Ach, der dunkle Anflug sieht vielleicht noch schöner aus, aber er spricht vorwurfsvoll zu meiner Seele, er erzählt mir von Schmerzen, die ich mitverschuldet habe!

»Nein, ich habe es nicht verdient! Ihr ganzes Geschlecht muß ich um Verzeihung bitten. In dumpfer Gleichgültigkeit war mein alter Glaube an Frauenwert und Frauenhoheit untergegangen, und während ich Tor mich in eine sophistische Verzweiflung hineinredete, hat sie das Kleinod ihrer Liebe durch Schmerzen und Entbehrung hindurchgetragen und hat ruhig gelitten, wo keine Siegeskrone für Schweigen, Leiden und Lieben zu hoffen war. O Mann, welch ein armselig Ding bist du!

»Wohl hast du recht gehabt, unschätzbare Schwester, unbegreifliche! Daß du ohne lange Wahl mit einem herzhaften Wurf diese Briefe mir in die Hände spieltest. Auch du beschämst mich. Welche Verwandlung der harten, störrischen Amalie! Ich bin von Rätseln umgeben, aber was tut's? Das wichtigste ist kein Rätsel mehr, ist meines Lebens Evangelium.

»Sie ist unschuldig! Ihr Auge sieht mich, himmlisch aufgeschlagen, aus diesen Zeilen an. Ein Herz, in welchem solche Früchte aufgehen, hat kein Unkraut in sich beherbergt.

»Ich will gar nicht fragen; was bedarf ich weiter Zeugnis? Wie es auch sein mag, sie ist unschuldig! Und was bist du ihr gegenüber?

»Ja, wär' ich wie du mich träumst! Wahrlich du hast den Menschen belauscht, wie er mit den unschuldigen großen Augen aus den formenden Händen des Schöpfers kam. Ach, das kann kein Mann begreifen! Wir werden alle in unsere Uniformen hinein betrogen. Daß ein Mädchen diesen Gedanken aussprechen kann, das gibt mir das Leben wieder. Und welch' ein Mädchen? Mein, mein Mädchen! Womit kann ich meinen Unglauben zur Genüge abbüßen? O selige Demütigung!«

Er las und las wieder. Das Kuvert lag noch am Boden, er hob es auf und besah die unbekannte Hand; denn je trunkener unsere Seele durch die Himmel schwärmt, desto gemächlicher und prüfender wird das Mechanische in uns nach dem Unwichtigsten greifen.

»Eine Seelenspeise! Hat er nicht so gesagt, der pedantische Herr meiner Tage? Freilich hat er mir eine Seelenspeise gesandt; aber sollte das in seinem Sinn gelegen haben, und vollends nach dem Auftritt von gestern? Schwerlich! – Doch was zerbreche ich mir den Kopf? Was nötig ist, werd' ich schon erfahren. Das sind lauter Nebensachen. Das Wunder ist da, was will ich weiter wissen?«

Er ging im Zimmer auf und ab, sein klopfendes Herz mit den Händen haltend. Dann riß er ein Fenster auf, die heißen Schläfen zu kühlen. Dann eilte er an den Tisch und breitete all' sein Papier vor sich aus, um im ersten Drang der Gefühle an Lottchen und an die wunderbar aufgeschlossene Schwester zu schreiben. Aber seine Gedanken drängten sich so, daß es ihm unmöglich war, einen Brief anzufangen.

Zu seiner Ehre müssen wir jedoch sagen, daß auch in dieser Trunkenheit ein Gedanke ihn mächtig überfiel, die Erinnerung an den unselig schmachtenden Soldaten. Sie kam plötzlich wie eine Geisterstimme, und er sprang empor, als ob ihn etwas am Schopf ergriffen hätte.

»Ja,« rief er bitter aus, »der gemeine Mann ist immer das Lasttier, das in einem stillen Winkel ohne Grabschrift verkommen mag! Die vornehmen Herren erhalten ja doch zuletzt ein Konfekt für ihre edlen und wohlgeborenen Empfindungen.«

Er ballte die Hand und schlug auf den Tisch. »Das ist das erste und nächste, denn der Augenblick ist Meister darüber!« rief er und setzte sich hin, einen Brief an die Geliebte zu schreiben, der vor allem ihre Tätigkeit für den Sohn des Schmieds in Anspruch nehmen sollte. Wohin mit dem Briefe, das wollte er nachher überlegen.

Eben als er die Feder eintauchte, rasselte es an der Türe. Er hörte Stimmen draußen. Die Schildwache schloß auf. Dann klopfte es leise und höflich. »Wer es auch sein mag,« murmelte er, »mögen ihn alle bösen Geister fassen und von hinnen führen. – Herein!«

Faust: Wie fangen wir das an?
Mephistopheles: Wir gehen eben fort.

Goethe.

In der geöffneten Türe stand ein junger Mann, in welchem er einen seiner Schüler von der Kavaliersabteilung erkannte, nicht eben den talentvollsten, aber einen der bescheidensten und lernbegierigsten, der vor kurzem erst die Akademie verlassen haben konnte.

»Wie, lieber Graf,« rief er ihm entgegen, »Sie besuchen mich in meiner Einsiedelei? Das ist schön von Ihnen, das überrascht mich!«

Der junge Graf eilte herein. »Mein teurer Lehrer, mein verehrter Freund, wie geht es Ihnen? Leidlich, will ich hoffen! Lassen Sie sich betrachten, Sie sehen immer noch recht gut aus. Nicht jeder Meister vom Stuhle könnte es ertragen, seine Philosophie so auf die Probe stellen zu lassen.«

Heinrich lächelte: »Auch ist es nicht die Philosophie allein, was mich hier aufrecht gehalten hat. Es ist vorzüglich die Teilnahme guter Menschen, die mir auch in diese zweifelhafte Lage nachgefolgt ist.«

»Und die Hoffnung!« sagte der Graf, der diese letzten Worte auf sich selbst beziehen mußte. »Wie? Und ahnen Sie denn nichts aus meinem Besuch?«

»Ihre Freundlichkeit, Ihre Güte –«

»Sie sind frei!« rief der Graf, indem er mit der lebhaftesten Freude seine beiden Hände faßte. »Sie sind frei!«

»Ich will nicht hoffen!« rief der Gefangene in der Verwirrung dieses Augenblicks, so daß der Graf sich herzlich lachend auf einen Stuhl warf.

»Bereiten Sie sich vor, Neuigkeiten zu hören!« sagte er nach einer Weile ruhiger. »Daß an Ihrer Befreiung seit geraumer Zeit gearbeitet wurde, dürfen Sie glauben. Ich verlasse mich auf Ihre Verschwiegenheit, wenn ich Ihnen von einem geheimen Bunde sage, dessen Mittelpunkt eine hohe Dame von vortrefflichem Herzen ist; nun, Sie ahnen schon, wen ich meine. Aber es mußte manches zusammenkommen, bis die Sache so weit war. Nun ist sie aber noch weiter gediehen. Sagen Sie mir: haben Sie Lust, ins Ausland zu gehen?«

»Also Verbannung?«

»Nein! Oder doch wenigstens eine höchst ehrenvolle. Haben Sie Lust, Erzieher an einem kleineren fürstlichen Hofe zu werden? Sie finden das Nähere in diesen Papieren.«

»Da ich eine vielfache Zucht durchgemacht habe,« sagte Heinrich nachdenklich, als er gelesen, »so wäre ich vielleicht nicht ganz unfähig.«

»Sie bekommen zwei allerliebste, hoffnungsvolle Prinzen und haben, wie Sie da ersehen können, ganz freie Hand in der Erziehung. Eine Prinzessin ist nicht dabei; sonst hätte der Herzog vielleicht Anstand genommen, Sie zu empfehlen.«

»Wie schalkhaft und wie dunkel!«

»Ja, das war immer die größte Schwierigkeit! Der Herzog hatte einen Verdacht auf Sie, den ihm meine Gemahlin mit aller Überredung nicht benehmen konnte.«

»Ihre Gemahlin? Ich erstaune! Versteh' ich Sie?«

»Nun freilich, der Wildfang ist meine Frau geworden,« sagte der Graf und weidete sich an seiner Verlegenheit.

Heinrich sah verwirrt zu Boden. Er war sich bewußt, daß die wilde Waldkönigin ihrem nunmehrigen Gemahl denn doch allerlei hätte beichten können von Gedichten und anderen Huldigungen, wozu er nicht recht wußte, was für ein Gesicht machen. Endlich nahm er sich zusammen und stattete seinen Glückwunsch ab, aber mit einem Ton, in welchen etwas so sonderbar Mitleidiges gemischt war, daß er sich genötigt sah, ihn mit Lebhaftigkeit und einem künstlichen Feuer zu wiederholen.

»Also das Haupthindernis war entfernt,« fuhr der Graf fort, »und nun war es leicht, Ihre Befreiung zu betreiben. Jene phantastischen und im übrigen so harmlosen Possen sind vergessen, und auch wir unsererseits gedenken uns durch eine lange Hochzeitreise dem freundschaftlichen Andenken der neugierigen Welt zu entziehen.«

»Ich bin Ihnen großen Dank schuldig,« versetzte Heinrich mit mühsam unterdrückter Bitterkeit. »Wahrhaftig, Seine Durchlaucht hätte mich hier oben verfaulen lassen müssen, da es keine Rechtfertigung für die Strafe gab.«

»Er war in einer maussaden Laune,« sagte der Graf, »und wußte nicht gleich, was mit Ihnen anfangen. Da mag denn alles so zusammengewirkt haben. Ich bin überzeugt, daß er's nachher bereute, denn Sie dürfen glauben, daß er immer ein eigenes Interesse für Sie hatte und mit Freuden diese herrliche Gelegenheit ergriff. Sie ist gewiß ganz auch Ihrem Sinn angemessen; denn wenn man einmal aufeinander geschossen und einander eingesperrt hat, so tut man doch nicht mehr beieinander gut.«

»Mein teurer Graf, ich muß bitten, durch solch leichtsinniges ›Beieinander‹ und ›Miteinander‹ die Geschichte nicht zu verwirren. Meines Erinnerns sind jene Handlungen sehr einseitig gewesen.«

Der Graf brach in ein lustiges Gelächter aus. »Wie dem sei,« sagte er, » der Wunsch ist gewiß reziprok, jetzt in Freude und Frieden auseinander zu kommen.«

»Ja, das muß ich gestehen. Aber sagen Sie mir nur, wie es kommt, daß ich so plötzlich, so ganz ohne mein Zutun diesen Ruf erhalte?«

»Mein Freund,« sagte der Graf, »es ist endlich einmal Zeit, Ihrer Verdienste zu erwähnen. Ihr Geist, Ihre Art, die Lehre im Leben darzustellen, Ihre freundlichen Sitten haben Ihnen in der Akademie Freunde genug erworben, an welchen Sie oft wie im Traum vorübergegangen sind, und durch die abgehenden Zöglinge sind Sie selbst im fernsten Ausland empfohlen. Man ist daher an Ihrem neuen Bestimmungsorte längst auf Sie vorbereitete obgleich die Wahl dem Herzog überlassen und ganz von ihm ausgegangen ist – und Sie werden daselbst eine liebe Heimat finden. Auch Dalberg, der Allerweltsgeneralkonsul, durch dessen Hände die Sache ging, ist bereits auf ähnliche Art von Ihnen unierrichtet und freut sich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Wie? Herr von Dalberg in Mannheim, der Beförderer alles Schönen und Großen?«

»Wie ich Ihnen sage, Wolfgang Heribert von Dalberg, der Mann, der in allen Beziehungen und Verhältnissen dilettiert. Er ist eben jetzt bei unseren Festins, um die höchsten Herrschaften zu bekomplimentieren, und Sie können ihm gleich morgen Ihre Visite machen.«

Heinrich faßte sich an die Stirne; diese rasche Entwicklung seiner Schicksale betäubte ihn. »Nun aber ein Hauptpunkt!« sagte er, »ich bin – ich bin gebunden, ich – kann nicht ohne Anfrage über meine Zukunft verfügen.«

»C'est le dernier coup!« rief der Graf. »Wie? Versteh' ich Sie? Eine zarte Liaison? Ja? Gott, welches Unrecht hat man Ihnen getan! Eine Braut? Reden Sie, oder ich sterbe!«

»Ich kann und darf Ihnen nichts Näheres sagen; aber wenn ich ganz von mir abhinge, würd' ich in wenigen Tagen Hochzeit machen.«

Der Graf schlug die Hände zusammen und tat ein paar Sprünge durch das Zimmer, wie der leichteste Junggeselle; dann eilte er auf ihn zu und erstickte ihn mit Umarmungen; endlich warf er sich auf einen Stuhl und lachte ganz ausgelassen. »Kehren Sie sich nicht an meine Tollheit!« rief er noch immer lachend, »wenn Sie mich gehört haben werden, so werden Sie mir verzeihen.« – Er sprang wieder auf und faßte ihn an den Händen: »Da drehen sich nun ein paar Menschen umeinander herum – zwischen ihnen der allerintrikateste Embarras, die allerdelikateste Kommission – und wenn man recht hinsieht, so hat der Zufall schon die Tafel serviert. Wissen Sie wohl, daß ich Ihnen gerade dieses Auskunftsmittel vorzuschlagen hatte? Und mit aller Zartheit nicht wußte, wie ich mein Sprüchlein anbringen sollte? Warum mußten Sie mich denn so lang minieren und schwitzen lassen, bis Sie mir aus der Not heraushalfen?«

»Ich verstehe Sie nicht!« erwiderte Heinrich, der sein Herz von einer bangen Ahnung zusammengeschnürt fühlte. »Was verlangt man von mir?«

»Gar nichts, als daß Sie heiraten, und zwar nach freiester Wahl! Das ist der beste Weg, allen etwaigen abenteuerlichen Gerüchten, falls sie auch bis in jene Residenz gedrungen sein sollten, den Garaus zu machen. Serenissimus hat Sie deshalb förmlich als einen verheirateten Mann angekündigt, so daß Sie gar nicht mehr anders können. Dies ist die Bedingung, die ich Ihnen nennen sollte und die mich veritabel in der Kehle gewürgt hat.«

»Das ist in der Tat zum Tollwerden!« rief Heinrich, mit dem Grafen um die Wette lachend, »der Kopf dreht sich mir, wenn ich bedenke, wie seit einigen Stunden alles zusammenkommt, um mein gestrandetes Schifflein wieder flott zu machen, ohne daß ich einen Finger zu rühren brauche.«

»Das ist nicht mehr als billig! Sie haben sich lang genug abgearbeitet und sind mit allen Anstrengungen seitwärts getrieben worden und am Ende gar sitzen geblieben. Jetzt ist's ganz in der Ordnung, daß das Schicksal für Sie die aktive Rolle übernimmt. – Sie haben dabei immer den Trost,« setzte er schalkhaft lächelnd hinzu, »Wirkungen zu ernten, deren Ursachen Sie selbst ausgestreut haben. Nun, so geben Sie mir doch mein Testimonium! Philosophier' ich nicht wie ein Engel?«

»Sie könnten jeden Katheder besteigen,« sagte Heinrich und drückte ihm die Hand. »Aber was steh' ich da und plaudere? Fort, der Boden brennt unter mir! Schubart! Schubart!« rief er, nach dem Ofen eilend.

»Mein Gott, kompromittieren Sie mich nicht!« rief der Graf.

»Er ist nicht da!« sagte Heinrich, der die letzten Worte nicht gehört hatte. »Adieu, armer Freund! Und nun kommen Sie! Ich habe lang gut getan, aber jetzt will ich auch keine Minute länger bleiben!«

Er faßte den Grafen an der Hand, um ihn fortzuziehen. Dieser aber machte ein verlegenes Gesicht. »Nein, so geschwinde geht's denn doch nicht!« sagte er, »wir haben noch einen Punkt miteinander abzureden, und das ist auch eigentlich der Grund, warum ich mir's ausgebeten habe, Ihnen persönlich Ihre Freiheit ankündigen zu dürfen. Sie können nicht so offen fortgehen.«

»Was? Muß ich denn ausbrechen?« rief Heinrich von neuem lachend.

» C'est ça. Sie gehen heut abend in aller Stille, wie Sie gekommen sind, und deshalb werden wir uns jetzt zum Kommandanten verfügen und das Nötige mit ihm besprechen. Sie echappieren ihm gewissermaßen, übrigens ohne alle Nachfrage und Verfolgung.«

»Ist das Ernst?« fragte Heinrich, dessen Miene sich plötzlich geändert hatte.

»Es ist kein Befehl zu Ihrer Freilassung erteilt, und wird und kann auch keiner erteilt werden. Nein, liebster Freund, stoßen Sie um einer Bagatelle willen Ihr Glück nicht von sich! Was liegt an der leeren Förmlichkeit?«

»Da man sich«, sagte Heinrich sehr verstimmt, »die Mühe genommen hat, mich festzusetzen, so kann man auch die Mühe haben, mich wieder freizusprechen.«

»Nun eben!« rief der Graf, halb ärgerlich, halb lustig, »auch jenes ist ohne alle gehörige Formalität geschehen! Sie sind sozusagen persönlicher Gefangener des Kommandanten und laufen in keiner Liste. Warum haben Sie den Fehler begangen, sich das gefallen zu lassen? Jetzt müssen Sie, wenn Sie nicht hier grau werden wollen, sich auf die gleiche unzeremoniöse Weise zur Freiheit bequemen.«

»Und wie werd' ich in meiner neuen Sphäre angesehen sein, wenn mir die Sage folgt, ich sei von der Festung entsprungen?«

»Pah, keine Seele weiß, daß Sie auf der Festung waren.«

»Aber vor noch nicht zwei Stunden erfuhr ich, daß man in Stuttgart sagt, ich sei zu lebenslänglicher Gefangenschaft verdammt.«

»Das sind unbestimmte Gerüchte, die durch Gegengerüchte niedergeschlagen werden. Die Empfehlung des Herzogs gibt Ihnen einen Charakter, gegen den kein solches Geschwätz aufkommen kann. Ich verpfände Ihnen mein Wort, daß von unserer Seite alles Nötige geschehen soll, um Ihnen jede Verlegenheit zu ersparen.«

»Nun gut. Warum dann aber nicht sogleich fort?«


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