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»Der redliche Zweifler, dem die persönliche Anknüpfung an das Erlösungsgeheimnis fehlt,« begann er, »wird sie wohl am leichtesten finden, wenn er die Erziehung der Menschheit durch die Offenbarung im ganzen und großen betrachtet. Fassen Sie den wunderbaren Gang des Christentums ins Auge, überschauen Sie seine Vergangenheit und schließen Sie von ihr auf die Zukunft – können Sie noch zweifeln?«

»Daß es noch seinen kopernikanischen Prozeß durchzumachen haben wird? Nein, das bezweifle ich nicht!« warf Heinrich hin, vielleicht ein wenig verstimmt durch die Gleichgültigkeit, womit er seine vertrauliche Mitteilung aufgenommen sah.

»O starker Geist, mit einem Wörtlein glaubst du es zu fällen!« rief der Pfarrer spottend. »Und doch,« setzte er hinzu, »wenn ich die Manöver der jetzigen Theologie ansehe, diese verdeckten Apostalien ohne Courage, so ist mir ein solcher Heide lieber. Sie gehen wenigstens offen und gerade, und einem solchen kann Gott am ehesten beikommen.«

»Bin ich auch ein Spötter und Heide in Ihren Augen,« entgegnete Heinrich, »so denke ich darum von der Sendung des Christentums nicht geringer als Sie. Es klingt zwar wie ein Spott im Hinblick auf die Dogmenhändel, Waldenserkreuzzüge, Inquisitionsgerichte, die spanischen Bekehrungen in Amerika, auf all' die Religionskriege, die aus Anstiftung katholischer, lutherischer und calvinistischer Pfaffen diese schöne Erde verheert haben, aber dennoch ist es mir eine Wahrheit, daß Humanität das Mysterium und die Sendung des Christentums ist. Humanität im weiten Sinne des Wortes, der Himmel und Erde in sich faßt, Liebe, Hilfe, Produktion, Tat! Diese Sendung aber erfüllt es auf weiteren und verschlungeneren Wegen, als fromme Christen sich gewöhnlich träumen lassen; sie ist nicht in den engen Schoß der Kirche eingeschlossen, die vielmehr oft dagegen gehandelt und wider den heiligen Geist gesündigt hat. Ist diese Sendung einmal erfüllt, so wird – nicht die geistige Gestalt des Christentums, aber eure Dogmatik und eure schriftgemäße Buchstäblichkeit wird zerfallen wie der tönerne Glockenmantel, wenn das reine Metall im Gusse fertig ist.«

»Ich selber glaube,« sagte Hahn, nachdem er einige Zeit vor sich hingesehen, »daß Gott uns vieles nur als Gleichnis gegeben hat um unserer Schwachheit willen und daß wir's erst nach unserer Vollendung im Geist und in der Wahrheit schauen werden. – Als Disputant,« setzte er nach einer Weile mit liebenswürdigem Lächeln hinzu, »bin ich zu tadeln, daß ich Ihnen Vorteile eingeräumt habe, worin Sie sich verschanzen konnten. Hätt' ich den Kampf regelrecht geführt, so wär's Ihnen vielleicht nicht so gut gegangen.«

»Ich geb' es zu!« erwiderte Heinrich lachend, »mit der zunftmäßigen geistlichen Fechtart hätten Sie mich in die Enge treiben, ja wohl ganz schachmatt machen können; aber was würde solch ein Sieg Ihnen geholfen haben? Sehen Sie zurück auf die großen Disputationen des sechzehnten Jahrhunderts, die ja sogar eine politische Bedeutung hatten, was ist dabei herausgekommen?«

»Eben darum,« sagte der Pfarrer, »hab' ich Sie nicht niederdisputieren, sondern kennen lernen wollen, und ich hoffe, wir haben uns beiderseits überzeugt, daß es uns um die Wahrheit zu tun ist und nicht ums Disputieren. – Wo soll ich Sie denn jetzt hintun? Sie gehören nicht uns und gehören auch der Welt nicht an. Es geht mir seltsam mit Ihnen, wir verstehen einander und verstehen einander wieder nicht.«

»Die Wahrheit,« versetzte Heinrich, »ist gemeinsam wie das Licht, aber sie erscheint jedem in einer eigentümlichen Farbenbrechung, und der Punkt, wo sie dem individuellen Wesen und Bedürfnis des einen begegnet, wird dem anderen immer rätselhaft sein. Indessen gibt es für die kämpfenden Geister ein ahnungsvolles Friedensgebiet, das ist die Gesinnung, und in dieser, mein teurer Freund, fühle ich mich einig mit Ihnen.«

»Gott gebe es!« rief Hahn. »Da Sie dem Geist nicht widerstreben, so wollen wir hoffen, daß er Sie in alle Wahrheit leiten werde. Ich fühle in diesem Augenblick lebhafter als je, daß die Liebe höher ist denn alle Erkenntnis, denn sie vermag die Kluft, welche die Geister trennt, zu überspringen. Leben Sie wohl! Wir werden einander nicht vergessen.«

Tränen standen in beider Augen, als sie nach einer langen Umarmung auseinander traten.

Als die Wellen, welche diese Unterredung aufgeregt hatte, wieder etwas ruhiger gingen, fühlte Heinrich den Drang, das Schicksal seines Soldaten zu erfahren, für den er eine innige Teilnahme empfand. Er umkreiste den ganzen Wall, ging auf den Platz hinab, dann wieder auf den Wall zurück, konnte ihn aber nirgends sehen. Nach ihm zu fragen, wagte er nicht, und doch konnte er bei der allgemeinen Unbefangenheit nicht glauben, daß er seine Flucht ausgeführt habe. Endlich näherte er sich einem jungen Soldaten, den er an einer abgelegenen Stelle traf. »Mein Freund,« redete er ihn an, »was war das für ein Lärm vergangene Nacht?«

»Ein Lärm?« fragte der Soldat verwundert, »ich weiß von keinem Lärmen. Der Herr muß geträumt haben.«

»Das ist möglich,« versetzte unser Freund und ging beruhigt weiter. Also war nichts vorgefallen. Aber warum bekam er ihn nirgends zu Gesichte? Er sah sich rings um und hatte allerlei Gedanken, aus welchen ihn ein Lied des zuletzt angeredeten Soldaten aufstörte.

Kaum hatte er sich nämlich einige Schritte von ihm entfernt, so begann dieser zu singen:

»Die Mörder flüchten weit von dannen,
Graf Salis findet ihre Spur.
Gleich sah er's ihnen an, von wannen?
Er fängt und liefert sie nach Chur.

Nach eingezogenen Berichten
Gibt man sie der Justiz in Sulz.
Wie? Gehn sie gern dahin? Mit nichten!
Es mehrt das Zittern ihren Puls.«

Heinrich wurde aufmerksam; der Name Sulz hätte allein schon hingereicht, sein Ohr zu fesseln. Er blieb stehen und hörte den kläglichen Galgenreimen zu, die schlecht zu der hübschen, lustigen Stimme des Soldaten paßten. Die letzte Strophe lautete:

»Hannikel schließt die Todesszene,
Sieht seine Brüder allzumal
Am Strang, und stirbt mit wilder Miene
Als ein Zigeunergeneral.«

Heinrich wandte sich zu dem Burschen zurück und vernahm aus seinem Munde die Bestätigung dessen, was derselbe aus einem fliegenden Blatt gesungen hatte.

»Woher wißt Ihr das alles?« rief Heinrich.

»Drum bin ich von Sulz gebürtig,« erwiderte der Soldat, »und gestern hat mich mein Bruder besucht, der dabei gewesen ist und mir alles ausführlich erzählt hat.«

Gesprächig und mit jenem Gefallen, den das Volk an Schauergeschichten findet, beschrieb nun der junge Mensch die Hinrichtung der vier, die bei dem Morde des Grenadiers die Hauptrolle gespielt hatten. »Die Weiber,« erzählt er, »hat man zum Zuschauen hinausgeführt, einen ganzen Wagen voll; da haben sie geschrieen und geheult und sich die Haare ausgerissen, daß sie im Wind umhergeflogen sind. Der Hannikel aber hat auf einem Stuhl sitzen und ebenfalls zusehen müssen, bis die Reihe an ihn gekommen ist. Und er hat den drei anderen immerfort zugesprochen und den Weibern auch; weil er aber zigeunerisch geredet hat, so sagt man, er habe sie angestiftet, daß sie seinen Tod mit Sengen und Brennen rächen sollten. Sein Beichtvater aber sagt, das sei eine gottlose Verleumdung, er habe ihnen zugesprochen, sie sollen ihre Strafe standhaft leiden und für den Herzog und den Oberamtmann beten; auch sei er ganz christlich gestorben. Mein Bruder sagt, es glaube nicht jedermann daran, weil man ihm einen katholischen Beichtvater zugegeben habe. Soviel ist einmal gewiß, wie man des Hauptmanns Bruder, den Wenzel, hinaufgezogen hat, da hat der Hannikel mit lauter Stimme zu singen angefangen, und da hat sich der Himmel mit Wolken überzogen, und wie er die Leiter hinauf sollte, da hat er noch um etwas Erde gebeten, das sie ihm abgeschlagen haben, und ehe man ihn von der Leiter stieß, habe er den Seinigen noch zugerufen, sie werden heut' alle in Maria Einsiedeln miteinander zu Mittag speisen, und kaum daß er tot gewesen ist, während der Nottele, den sie ungeschickt gehenkt haben, noch gezappelt hat, so ist ein grausames Unwetter ausgebrochen, wie auch die ältesten Leute in Sulz keines wissen, und hat geblitzt und gedonnert und Schloßen gegeben; und in den Schloßen sind die Haare wieder gekommen, die sich die Weibsleute ausgerissen haben, und diese Haare haben die Schloßen zusammengehalten, wie die Kettenkugeln, die vordem bei der Artollerie gebräuchlich waren, daß der Hagel weit und breit alles zusammen geschlagen hat. In Sulz heißt's bei allen Leuten: Dasmal einen Zigeuner gehenkt und nun und nimmermehr wieder.«

Also der Soldat. Heinrich kaufte ihm sein Hannikelslied und einen umständlicheren Bericht über das Verbrechen, die Flucht nach Graubünden, Gefangennehmung, Urteil und Exekution, auf grauem Löschpapier gedruckt, um ein paar Groschen ab und eilte damit auf sein Zimmer, wo er das Heftchen mit eigentümlichen Gefühlen durchlas.

Ein besonderer Abschnitt, der herkömmlichermaßen nicht fehlen durfte, war der geistlichen Vorbereitung der Verbrecher zum Tode gewidmet; und diese Abteilung war es, die den Leser vornehmlich mit Grauen erfüllte. – »Ein heidnischer Staat,« sagte er zu sich, nachdem er das löschpapierene Heft weggeworfen hatte, »betrachtet den Verbrecher als einen der Rache verfallenen Feind, den er einfach ausrottet, sei es, daß er ihn dem Henker oder der Privatvollstreckung der Beleidigten übergibt. Man mag dies roh nennen, doch ist es wenigstens konsequent. Der christliche Staat aber macht seinen Verbrecher zum Gegenstande eines Versöhnungsverfahrens, er läßt ihn nach allen Regeln beichtväterlicher Kunst zubereiten, bis er ihm den Frieden mit Gott und ein vollkommenes Bürgerrecht in einer höheren Welt errungen hat; und wenn er so weit mit ihm ist, versucht er dann etwa, ob nicht auch in dieser so viel niedrigeren Welt noch etwas aus ihm zu machen wäre? Nein, dann – erwürgt er ihn.«

Wer kommt? Was seh' ich? O ihr guten Geister!
Mein Roderich!

Don Carlos.

Tage und Wochen waren vergangen, seit unser Freund seine Wohnung auf dem berüchtigten Berge bezogen hatte. Er hatte den Mond mehrmals ab- und zunehmen sehen, und die Weinberge zeigten ihm, wenn er auf dem Wall spazierte, ihr herrliches Grün. Er war nicht mehr ganz so ruhig wie in den ersten Zeiten seiner Gefangenschaft. Auch schien es ihm neuerdings, als ob der Kommandant eine andere Miene gegen ihn angenommen hätte, und er glaubte dies veränderte Betragen seit jenem Abenteuer mit dem Deserteur wahrgenommen zu haben, von dem er zu seiner stillen Verwunderung immer noch nichts zu sehen und zu hören bekam; in unbefangeneren Stunden jedoch sagte er sich, es werde weiter nichts als getäuschter Religionseifer sein. Genug, es war ihm zu Mute wie einem Gast, der nachgerade fühlt, daß er seinen Freunden unangenehm geworden ist, nur daß ihm nicht wie diesem die Türen offen standen. Seine Tage verflossen in immer längerem Warten auf eine Wendung des Schicksals; manchen Morgen wachte er sogar auf mit dem Gedanken, ob nicht Lottchen vielleicht ihn zu besuchen komme, und mußte, wenn er sich die Augen ausgerieben hatte, über den tollen Einfall lachen, während Wehmut und Ingrimm wie schwere Wolken über seine Seele zogen. »Kannst du denn,« rief er einst nach einem solchen Erwachen, »kannst du nicht aufhören, von ihr zu träumen, unbewachtes törichtes Herz? Wenn sie es wüßte, sie würde laut auflachen, denn keine Feder ist leichter als so ein Mädchenherz.«

Nun drangen auch Stimmen von der Außenwelt in seine Einsiedelei. Der Großfürst Paul von Rußland wurde mit seiner Gemahlin Sophie, der Nichte des Herzogs, am Hof erwartet, und die Nachrichten von den bevorstehenden Feierlichkeiten klangen so außerordentlich, daß sie auch auf der Festung alles von sich reden machten. »All' seine ehemalige Pracht,« hörte er einst bei einer Flasche Wein die jüngeren Offiziere erzählen, »werde der Herzog bei dieser Gelegenheit noch einmal aufflammen lassen und Fest auf Fest bereiten.« Besondere Aufmerksamkeit erregte eine beabsichtigte Jagd, zu welcher jetzt schon Vorbereitungen getroffen wurden, wovon selbst Rieger mit Erstaunen sprach. Sechstausend Hirsche sollten aus dem ganzen Lande nach der Solitüde zusammengetrieben werden, wo sie bestimmt waren, eine steile Anhöhe hinauf, dann in einen See zu rennen und daselbst aus einem Lusthause sich erlegen zu lassen. Eine glänzende Illumination der Solitüde sollte dieses Schauspiel beschließen.

Nicht daß er sich nach dem Genusse dieser Herrlichkeiten gesehnt hätte, aber das unruhige Treiben, das von außen heransummte, das Gerede, das in seiner Nähe aufgeregt war, die allgemeine Sehnsucht der durch Beruf oder Unglück hier Angeschmiedeten weckte seine eigene Unruhe mehr und mehr. Was sein Gemüt durch jenes Waldleben mit seinen Phantastereien und Schrecknissen gelitten hatte, das war jetzt geheilt, und sobald die Kur zu Ende war, sobald hörte sie auch auf, wohltätig zu sein. Der Drang nach Freiheit wurde täglich heftiger, und die Gefangenschaft begann ihm nachteilig auf Leib und Seele zu wirken. In seine Arme kam oft ein Gefühl, als ob er die Wände sprengen müßte, während er sich zugleich schläfrig und matt am ganzen Körper empfand. Dazwischen erging sich seine Phantasie in den wohlbekannten Örtlichkeiten der Solitüde und sah dem geschäftigen Leben zu, das nun bald jene der Einsamkeit geweihten Räume wieder aus der Ruhe stören sollte.

Aber alle Begierden traten zurück, als das Gerücht, daß der Herzog einen Besuch auf der Festung abstatten werde, sich bestätigte. Die ganze Garnison kam in Bewegung, um ihm nach Kräften einen brillanten Empfang zu bereiten, und Schubart schmiedete unermüdlich auf seiner Esse, aber nicht auf der vulkanischen, worauf die Gesänge der Freiheit entstanden.

Unser Gefangener nahm an diesen Bewegungen nicht den mindesten Anteil. Gegen den wirklich wohlwollend gemeinten Vorschlag des Generals, nach dem Schauspiel sich dem Herzog in den Weg zu stellen und um seine Freiheit zu bitten, sträubte er sich mit seinem ganzen Stolze. »Seine Durchlaucht,« sagte er mit anscheinender Ruhe, »werden schon wissen, wann das Maß der Strafe voll ist.«

Herr von Rieger zuckte die Achseln und sagte nichts weiter.

Endlich kam der erwartete Tag und mit ihm der Herzog; aber er täuschte die Hoffnungen der Asperger, unter welchen das Gerücht verbreitet war, er würde die nordischen Gäste mitbringen. Diese waren noch gar nicht angekommen. Es befand sich niemand bei ihm als Franziska samt einem kleinen Gefolge.

Heinrich zog sich, wiewohl mit klopfendem Herzen, in sein Schneckenhäuschen zurück und ging nicht einmal ans Fenster, um ihre Ankunft zu sehen. Auch das Theater reizte ihn nicht; er brachte den Abend in größter Stille und Einsamkeit zu und hörte nach dessen Beendigung die fürstlichen Wagen ruhig wieder abfahren. Bald darauf kam sein Nachbar an die Sprechlücke, verstimmt und fröhlich zugleich, der Herzog hatte das Schauspiel nicht ganz ausgehalten, doch schien er zufrieden zu sein, und, was die Hauptsache war, der Dichter hatte aus seiner Umgebung die Zusage erhalten, daß er binnen acht Tagen frei sein sollte. – Eine Flasche Wein war ihm auf seine Zelle nachgesendet worden. Der Leidensgefährte mußte sie mit ihm teilen; noch herzlicher teilte er die frohe Aussicht mit ihm. Schubart aber kreiste schon in tausend Plänen umher und versprach ihm, gleich für seine Befreiung zu intrigieren.

»Da ist ja unser eigensinniger Trotzkopf!« rief ihm der General am folgenden Tag entgegen, als er in seiner Mittagspromenade auf dem Wall mit ihm zusammentraf. »Hätten Sie sich gestern gezeigt, wer weiß, was geschehen wäre? Der Herzog hat nach Ihnen gefragt.^

»Darf ich das Nähere wissen, Exzellenz?«

»O sehr gerne! ›Was macht Unser gefangener Waldphilosoph?‹ sagte er, ›hat er sich die Hörner noch nicht abgelaufen?‹ – Ich erwiderte der Wahrheit gemäß, daß ich keinerlei Bestie, weder mit Hörnern noch mit Klauen, in Ihnen gefunden habe. – ›Ich sehe schon,‹ sagte er hierauf, ›Unser Freund Rieger kennt ihn noch nicht, der kratzt mit fremden Klauen, wenn er keine eigenen hat‹.«

Heinrich stutzte. »Daß diese Worte eine Beziehung haben, muß ich freilich vermuten, aber ich verstehe sie nicht.«

»Noch ich! Besinnen Sie sich, vielleicht entdecken Sie einen Schlüssel. – Übrigens ist Serenissimus wegen des bevorstehenden hohen Besuchs in sehr gnädiger Laune. Er gab mir Befehl, wenn Sie sich die Hörner abgelaufen hätten, es ihn wissen zu lassen. Nun wäre eine gute Gelegenheit, was religiöses, etwa Selbstgespräche eines einsamen Denkers, aufzusetzen, die Sie durch mich an ihn gelangen ließen; wenn der Aufsatz etwa mit einem Gebet für Seine Durchlaucht schließen würde, so wäre es gar nicht so übel. Doch Sie verstehen das vielleicht sinnreicher einzurichten als ich. Nur wäre es gut, ein religiöses Sujet zu wählen; daraus ersähe er dann doch am besten, daß Sie sich die Hörner abgelaufen haben. Auch wäre es mir um deswillen lieb, weil darin zugleich ein Zeugnis liegen würde, wie die Gefangenen hier behandelt und angeleitet werden.«

Die Ankunft eines Offiziers, der seinen Rapport abstattete, überhob unseren gequälten Freund einer peinlichen Antwort, und er benutzte den Augenblick, um sich davonzumachen. Seine Schritte führten ihn die Senkung des Walles gegen das Tor hinab, durch welches eben eine wunderliche Gestalt hereinschritt. Er erkannte sie, noch ehe er die Augen zum Gesicht erhoben hatte, an den Beinen und hätte aufschreien mögen vor Überraschung und Freude. »Schiller!« rief er, »sehen wir uns endlich wieder!«

Der Regimentsmedikus, denn er war es wirklich, sprang dem lang vermißten Freunde an den Hals und rief. »Bei den Gebeinen meines Roller! Das ist ein unverhofftes Zusammentreffen. So hat das Gerücht also doch nicht ganz gelogen: während einer und der andere versicherte, du seiest Gott weiß in welchem Auftrag nach Mömpelgard geschickt, schlich eine leise Sage um, die dich aus höchst abenteuerlichen Ursachen auf Hohenneuffen wissen wollte. Der gute Streicher pilgerte einmal dorthin, kehrte aber unverrichteter Dinge zurück. Nun wie ist's denn? Was hast du getan? Was ist dir widerfahren? Bist du wirklich als Gefangener hier? Doch geht's dir leidlich, wie ich sehe.«

Heinrich unterbrach den Strom der Erkundigungen mit dem Versprechen, alles am geeigneten Orte und in der gehörigen Ordnung beichten zu wollen. »Komm mit zum Schulmeister,« sagte er, »der schenkt einen echten Räuberwein. Wir haben einander lang nicht Bescheid getan.«

Der wandernde Dichter wischte sich mit einem durstigen Lächeln den Schweiß von der Stirne und folgte bereitwillig. »Eigentlich,« sagte er, »bin ich gekommen, mein künftiges Logis zu besehen. In der Tat, wir können noch Arrestkameraden werden, ich bin mit der Festung bedroht.«

Er erzählte ihm bei einer Flasche funkelnden roten Weines, wie ein Denunziant aus Haß gegen seinen Väter die Graubündner wegen der unartigen Rede Spiegelbergs ihm auf den Hals gezogen und dadurch den Herzog vollends ganz gegen ihn aufgebracht habe. »Bei Festungsstrafe,« sagte er, »hat er mir verboten, künftig etwas ohne seine allerhöchsteigenhändige Zensur drucken zu lassen. Das würde schöne Schulmeisterskorrekturen geben – was meinst du? Ist's nicht besser, die unzensierte und unverfälschte Begeisterung beim Schulmeister hier oben frisch aus der Quelle zu schöpfen? Und daß ich zweimal zur Aufführung der Räuber in Mannheim war, ist auch verträtscht worden. Die Weiber können's Maul nicht halten. Damit war aber zugleich mein Chef kompromittiert –« – »Was?« unterbrach ihn Heinrich, »der kleine Augé sollte dir zu dramatischen Reisen verholfen haben?«

»Nein, der überzählige General hat nichts davon gewußt, so wenig als von seinem Regiment. Der eigentliche Kommandeur desselben war es, der gute freundliche Oberst Rau, der meine Meldung als krank annahm und mir vergnügte Reise wünschte. Nun denke dir, was geschieht. Es ist ein wahrer Roman. Vor einigen Tagen schickt mir Serenissimus ein Pferd aus dem Marstall, mit dem Befehl, sogleich zu ihm nach Hohenheim zu kommen und keinem Menschen etwas davon zu sagen. Wie verblüfft ich droben ankam, kannst du dir selbst ausmalen. Der Herzog aber empfängt mich wider alles Erwarten äußerst gnädig, behandelt mich ganz wie einen Gast, führt mich in seinen Anlagen herum –«

»Ei, gerade so hat er's mir auch gemacht!« unterbrach ihn Heinrich.

»Und bist dennoch hier!« lachte Schiller. »Auf einmal, wie ich mich am wenigsten versehe, bleibt er vor mir stehen und sagt: ›Er ist auch in Mannheim gewesen, ich weiß alles, ich sag', Sein Oberster weiß darum‹.«

»Tout comme chez nous!« rief Heinrich. »Und daß du in Ungnade fortgekommen bist, ungefähr wie ich am Wirtshaus zur Stadt Rom die Zeche zahlen mußte, versteht sich von selbst.«

»Bitten und Drohungen hat er an mich verschwendet,« sagte der Dichter. »›Ich lass' Ihn auf die Festung setzen, ich werde Seinen Vater vom Brot bringen!‹ Was blieb ihm zuletzt übrig als sein Leibsprüchlein: ›Geh' Er hin, es wird nachkommen!‹ Der Falbe, in der Tat ein treffliches Tier, blieb in Hohenheim zurück, und ich mußte per pedes Apostolorum heimwandern. Gleich bei der nächsten Parade fragte mich Augé, denn bei Paraden kommandiert er sein Regiment, höchst gestreng, warum ich nach Hohenheim gegangen sei, ohne mich bei ihm zu melden. Ad Mandatum Serenissimi specialissimum! erwidere ich, und der kleine Mann prallt zurück und sagt kein Wort mehr. Nun war aber die Geschichte gleich in ganz Stuttgart herum, und du kannst dir die Angst meines armen Obersten denken. Er getraute sich auf der Parade nicht, mit mir zu reden, und an jedem anderen Ort war es noch auffallender. Nun weißt du, daß am Seeltor ein Eingang in die Gärten hinter dem kleinen Graben ist, wo ich beim alten Balthasar wohne. Das Haugsche Haus aber steht durch einen Gang mit dem Elsäßerschen in Verbindung, in welchem, da es auf der Stadtmauer steht, gleichfalls eine Türe in die Gärten durchgebrochen ist. Den Schauplatz kennst du jetzt. Zeit der Handlung: Mitternacht zwischen gestern und heut. Dumpfes Rauschen des Nesenbachs durch sein Delta. Treten auf von verschiedenen Seiten: Oberst von Rau, ehrwürdiger Greis von achtzig Jahren mit Spuren von Feuer, und Räuber Moor, konfiszierter Mohrenkopf, etwas ins Blonde spielend –«

»Tollkopf!« unterbrach ihn Heinrich lachend.

»Nein, ich erzähl' dir's ein andermal vollständiger,« rief der Dichter, indem er sich wieder einschenkte. »Jetzt ist's an dir! ich bin gar zu egoistisch mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Nur heraus mit der Sprache! denn eine Liebschaft ist doch im Spiele, darauf geht das ganze Gemunkel hinaus.«

»Ich weiß nicht, ob das der rechte Name für die Sache ist,« versetzte Heinrich, »indessen kenn' ich die Welt zu gut, als daß ich mir's nicht gefallen lassen müßte. Aber sag mir, was denn eigentlich gemunkelt wird.«

»Nun, daß eine Dame aus der Ecole eine Zeitlang vermißt wurde, ist ziemlich allgemein bekannt; wo sie aber war, das weiß niemand so recht zu sagen. Ein Gerücht, daß sie sich unter den Zigeunern aufgehalten habe, klang gar zu unwahrscheinlich und ist bald wieder eingeschlafen; ein anderes hat ihre Flucht mit dir in Verbindung gebracht.«

»Das Unwahrscheinlichste ist diesmal, wie so oft, nicht eben das Unrichtigste gewesen,« erwiderte Heinrich und erzählte seine Abenteuer, während der Dichter behaglich ein Glas hinunterschlürfte. »Du mußt mir aber die tiefste Verschwiegenheit angeloben,« sagte er zum Schlusse.

»Gewiß!« erwiderte Schiller, »aber einen prächtigen Spaß von deiner maurischen Prinzessin muß ich dir erzählen. Als sie wieder in die Ecole eingeliefert wurde, war Herr von Seeger zugegen und in seinem Gefolge unser alter edler Nies, unvergeßlichen Angedenkens. Der Intendant, der ihr vermutlich auf Pränumeration des herzoglichen Zornes die Hölle recht heiß machen wollte, sagte mit starrem Blick zu ihr: Tremblez, Madame! Die gutmütige Franzel aber erbarmte sich ihrer und nahm sie mit in ihre Zimmer, wo die Absolution bald genug erfolgt sein mag. Als sie nun abgegangen waren, wandte sich Nies zum Intendanten und sagte: Ew. Exzellenz haben ganz recht getan, sie eine Trampel zu heißen, denn das war doch in der Tat eine trampelmäßige Aufführung. – Nein, ich bitte dich, erstick' nicht! Aber es ist ein gutes Zeichen: wenn man dermaßen über eine so unidealische Bezeichnung einer ehemaligen Geliebten lachen kann, so muß der Paroxysmus ausgetobt haben.«

»Und was sagte der Herzog zu dieser Niesischen ›Anmerkung‹, die ihm natürlich brühwarm hinterbracht wurde?«

»Der Herzog hat sich vor Lachen geschüttelt, als er's erfuhr.«

»Weißt du nichts von ihr?«

»Gar nichts; doch scheint sie ganz wieder zu Gnaden angenommen zu sein. Ich wollte, ich könnte das auch von mir sagen; aber zwischen Serenissimo und mir ist eine Kluft entstanden, die nicht mehr größer werden kann. Daß ich meinen eigenen Weg gehen und meine Arbeiten nicht wie Schülerexerzitien von ihm korrigieren lassen will, daß ich die Räuber, mit Umgehung des Stuttgarter Theaters, das sie doch nicht angenommen hätte, in Mannheim aufführen ließ, daß ich endlich an meinem ehrlichen Obersten nicht zum Schelm werden mochte, das hat dem Faß endlich den Boden ausgestoßen. Und doch, wenn ich's recht bedenke, war mir die Suppe schon längst gekocht. Das hat in der Akademie schon mit Kleinigkeiten, Mißverständnissen, Zuträgereien angefangen. Es ist doch wunderlich, wie aus nichts endlich etwas werden kann.«

»Die Gegensätze,« bemerkte Heinrich, »waren eben schon von Anfang an vorhanden, und unter den gegebenen Verhältnissen ist es kein Wunder, daß sie sich jede kleinste Veranlassung zum Zündkraut des Explodierens herausfanden. Es hat seine schöne Seite, mit einem Fürsten so persönlich zu stehen, wie wir mit dem Herzog in der Akademie und zum Teil auch außerhalb derselben standen, aber kein menschlicher Verkehr hält sich auf die Länge ohne gleiches Maß und Gewicht. Wenn der Fürst, eh' man sich's versieht, den orientalischen Fürstenmantel über den Menschen werfen kann, so hätte man sich lieber gar nicht menschlich mit ihm eingelassen.«

»Gewiß!« rief Schiller. »Ein Fürst, den man nicht einmal geboren sein läßt wie andere Menschenkinder, sondern im Adreßkalender mit den Worten feiert: Seine Durchlaucht haben am 11. Februar 1728 die Zahl der Hohen in der Welt vermehrt! der muß manchmal Anwandlungen respektvollen Schauers vor sich selbst bekommen.«

» Impotens dominatio! Fürwahr, der Lateiner hat nicht so unrecht mit seinem Ausdruck.«

»Nun, in der Pfalz ist das anders bestellt; da hab' ich nichts dergleichen zu fürchten.«

»Wie so? Was willst du damit sagen?« fragte Heinrich verwundert.

»Konfession gegen Konfession!« sagte der Dichter, »du mußt aber ebenfalls verschwiegen sein. Ich habe Hoffnung, als Theaterdichter in Mannheim angestellt zu werden. Meine Bekanntschaft mit Dalberg wird immer fruchtbarer. Das ist ein Mann! Den solltest du kennen.«

»Das wäre kein übler Tausch!« rief Heinrich. »Der Herzog hat den italienischen Hofpoeten von Mannheim schon so oft entlehnt, daß er wohl auch einmal einen Deutschen dagegen geben kann. Aber zum Glanz eines italienischen Poeten an einem deutschen Hof wird's mein armer Schiller niemals bringen, er müßte sich denn Sillieri oder Silleri oder dergleichen schreiben. Wie heißt der Mann Gottes in Mannheim?«

»Der Hofpoet? – Potz Element, ich weiß es nicht!«

»Ich auch nicht. Sieh' da, schon zwei deutsche Herzen, die ihn mit Vergessenheit bestrafen.«

»Ei, da fällt mir ein – du erinnerst dich, daß ich dir an jenem anthologischen Abend mein Fürstengedicht gab – hast du's nicht bei dir? Ich hab's einem von den Mannheimer Schauspielern versprochen, und mein Exemplar der Anthologie ist mir abhanden gekommen.«

Heinrich griff in die Brusttasche, zog aber die Hand zurück, als ob er dort eine Schlange berührt hätte. Er erbleichte: »Das hab' ich dir noch nicht gesagt,« rief er, »daß mir mein Portefeuille in Hohenheim auf Befehl des Herzogs, der wohl ein Versäumnis vom Schönbuch nachholen wollte, abgenommen worden ist. O Narrenspiel des Schicksals! So mußt' ich denn zum Verräter an dir werden, und in demselben Augenblicke – jetzt darf ich's dir wohl sagen – wo ich mit aller Freundeswärme für dich gesprochen hatte.«

Auch der Dichter war etwas bedenklich geworden. »Die Anthologie liest er nicht,« sagte er, »denn er liest nur Geschriebenes. Aber meine Handschrift ist ihm freilich sehr bekannt – gab es doch eine Zeit, wo er mir meine Gedankenstriche nachahmte. – Laß gut sein!« sagte er, wieder aufgeheitert, »es ist ein Fädelein mehr, das mir forthilft. Meine Rolle hier ist ohnehin ausgespielt, und wenn ich nicht in Güte abkommen kann, so werd' ich, und zwar in sehr kurzer Zeit – Doch du hast an deinen eigenen Angelegenheiten zu tragen; genug, daß du die meinigen jetzt im allgemeinen kennst. Wäre nur der Boden dem Fasse schon ganz ausgeschlagen! Es ist nicht das allein – ich tauge überhaupt nicht mehr – ich fühle mich nicht mehr heimisch – O diese sogenannte schwäbische Gemütlichkeit! Wenn ich mich nicht schon halb als Ausländer fühlte, ich würd' ein derbes Wort darüber reden. Petersen, der nach allen statistischen Kleinigkeiten stöbert, hat herausgebracht, daß der Zichorienkaffee eine Erfindung unserer landsmännischen Industrie ist; ich mußte gleich an die Gemütlichkeit denken, als er mir's neulich sagte.«

»Wir leiden beide an einem Übel, das sich nur durch Heimweh kurieren läßt,« versetzte Heinrich. »Aber gib acht! es wird dann vielleicht eine Zeit kommen, wo wir uns wieder nach unserem schwäbischen Hutzelbrote zurücksehnen.«

»Wie Gott will. Doch komm', wollen jetzt nach unserem eingesperrten Patrioten sehen.«

»Kannst du nicht warten, bis er seinen Spaziergang machen darf? Da könnten wir ihn zu einer Flasche Wein hierher schleppen. Gehen wir jetzt hin, so sind wir von offiziellen Gesichtern umgeben. In zwei Stunden finden wir ihn auf dem Wall.«

»Ich muß heut' abend wieder in Stuttgart sein,« versetzte Schiller. »Was macht er denn?«

»Ja, davon wäre viel zu sagen. Höre, was die unmittelbare Naturgabe betrifft, da können Sechse wie du nicht neben ihm bestehen! Das ist was Göttliches, nur den Mund auftun zu dürfen und die Geburt schlagfertig hervorspringen zu lassen, wie Minerven aus Jupiters Haupt.«

»Das ist's ja eben, was mich so an ihn fesselt!« rief Schiller lebhaft. »Dieses überlegene unbegreifliche Talent! Wie gar nichts sind wir andern, die wir erst mühsam durch einen künstlichen Prozeß zu einer schweren Zangengeburt kommen!«

»Dafür ist er aber auch ein Naturalist im schlimmsten Sinn des Worts, der nicht die entfernteste Idee von einer künstlerischen Durchbildung hat. Er vertraute mir, er habe einmal einen Roman schreiben wollen, die ›Geschichte eines Genies‹. Hätt' er's doch getan! Es wäre ihm ein gutes Mittel gewesen, über sich selbst klar zu werden; denn an ihm hab' ich gesehen, daß die geöffnete Lippe, die gelöste Zunge noch nicht den Dichter macht. Nun, wer kann's ihm übel nehmen, daß sein verkrüppeltes Schicksal auch seine Muse in die Tiefe mitgerissen hat! Und was er macht? das gäbe Rubriken! Das eine Mal köstliche Volkslieder, die man nach Jahrhunderten noch singen wird, als wären sie eben frisch entstanden –«

»Ist das nicht genug für einen Dichter?«

»Das andere Mal allegorische Schau- und Singspiele, durch Langeweile tötend, zu Ehren seiner gestrengen Gönner. Ich habe schon gedacht, ob sie nicht als heimliche Mordattentate anzusehen seien.«

»Freiheit! Was tut man nicht um der Freiheit willen! Die falsche Münze läßt sich ja nachher ausmerzen.«

»Du bist gegen andere liberaler, als gegen dich selbst.«

»Und weiter?«

»Dann macht er Gassenhauer für die Soldaten, die an Ungezogenheit ihresgleichen suchen, und daneben wieder geistliche Lieder, die wie Anatheme dagegen klingen.«

»Das sind ein paar Musen über die Neunzahl.«

»Neulich machte er ein Gedicht auf den Abzug des Pfarrers von Kornwestheim, worin der Vers vorkommt:

Christi Füße, gleich wie Messing,
Treten mehr als einen Lessing,
treten Teufel selbst in Kot.«

Schiller lachte laut auf. »Armer Lessing! Aber ein kostbarer Reim, wie mit dem Hammer geschmiedet!«

»Cyklopische Arbeit!« lachte Heinrich.

»Ja,« sagte der Dichter, »in Namenreimen ist er stark.«

Heinrich rezitierte weiter:

»Engel, die Befehle bringen,
Rufen dich nach Echterdingen. –
Geh und lasse dein Kornwesten,
Sag es auch zu andern Gästen,
Kommt, denn alles ist bereit.«

»Da kannst du's selber lesen; es ist als fliegendes Blatt gedruckt worden, und ich habe es eben bei mir.«

Schiller las murmelnd. »Ganz der fertige Improvisator!« rief er, »die Verse laufen, daß es eine Lust ist. Aber sieh' nur, da haben sie beim Lessing mitten im Text die Bezeichnung ›Irrlehrer‹ in Klammern beigesetzt, damit die Schafe gleich mit der Nase auf den Wolf gestoßen werden.«

»Ja, da ist irgend ein gemeinnütziger Scholiast drüber gekommen.«

»Messingfüße,« wiederholte der Dichter und wollte nicht aus dem Lachen kommen. »Ein schlechtes Pedal übrigens, das man weder am Helikon noch im Himmelreich dulden sollte. Und das pauvre Metall ist eine Blamage für unser reiches württembergisches Kirchengut.«

»Hierin möchtest du ihm wohl unrecht tun,« bemerkte Heinrich. »Du weißt, er liebt, sich altertümlich auszudrücken, und das Wort ist älter als die moderne Komposition, für die es jetzt gebraucht wird. Früher aber bezeichnete es ein Metall, das theologisch wie ästhetisch zugelassen ist, nämlich das Erz.«

»Das hätte der dienstfertige Scholiast auch beisetzen dürfen. Indessen hab' ich jetzt doch wieder was gelernt, und diese eure Erdwarze ist mir somit nicht bloß zum Gradus ad Parnassum, sondern sogar zur – Akademie geworden.«

Er verbeugte sich feierlich gegen seinen vormaligen Lehrer.

»Spotte nur!« versetzte dieser, »aber wenn man solange nicht auf dem Katheder gewesen ist, so mag man wohl einmal von der Lehrwut befallen werden. Doch du kannst ruhig sein, du findest bei mir weder Akademie noch Stoa, letztere freilich so wenig, daß du wohl tun würdest, statt des Schülers den Lehrer zu machen und mir eine Bergpredigt über Sanftmut, Friedfertigkeit und Geduld zu halten. Aber ich will dir nicht mit meinen Klagliedern beschwerlich fallen, da du an deinen eigenen Sorgen genug haben wirst.«

»Laß mich nur erst in Mannheim sein und festsitzen!« rief der Dichter. »Ich will dir schon einen Boden bereiten, und dem Schubart auch. Wenn ihr nicht bald los werdet, so befrei' ich euch. Ja, sieh' mich nur an! Unter den Pfälzern weiß ich lustige Herzen, die wohl ein gutes Werk wagen um Mitternacht. Das muß sich alles geben. Komm'! Es wird sonst zu spät für mich.« – Sie gingen zu Schubart. Da aber General Rieger bei dieser Unterredung der beiden Dichter von Anfang bis zu Ende anwesend blieb, so fiel dieselbe steif und frostig aus.

– – Das ist des Sängers Fluch.

Uhland.

Wiederum war eine von den bangen, stillen, dumpfen Wochen abgelaufen, welche keine Fußstapfen in der Seele hinterlassen, als Heinrich eines Abends über den Platz gehend, an den erhellten Fenstern des Schulmeisters vorüberkam. Er hörte Gläser klirren, auf den Tisch schlagen und erkannte Schubarts Stimme, die in heftiger Bewegung redete.

In der Voraussetzung seines baldigen gänzlichen Freiwerdens, woran niemand zweifelte, hatte der Kommandant seine Kette verlängert, so daß er hie und da einen Abend außerhalb seiner Klause zubringen durfte. Ehe unser Freund zu einem rechten Entschluß gelangen konnte, war der Fuß dem Kopfe schon vorangeeilt, und er befand sich auf der Schwelle. Dort kam ihm der Schulmeister in der äußersten Bestürzung entgegen.

»Was gibt es?« rief Heinrich.

»Helfen Sie uns Herrn Schubart beruhigen! Er ist dahinter gekommen, daß man ihm die Freiheit trüglicherweise versprochen hat, und jetzt, da der Termin abgelaufen ist, tobt er und ist ganz außer sich. Er wird uns alle um den Hals reden.«

Unser Freund eilte hinein und erblickte zunächst einen Hauptmann, der beiden Arrestanten schon manche Stunde freundliche Gesellschaft geleistet hatte und dem Dichter besonders wohlwollte. Heute saß derselbe in nicht geringer Beklemmung da und hielt, unschlüssig, ob er gehen oder bleiben sollte, sein Glas in die Hand gepreßt. Er gab dem Ankömmling einen heimlichen Wink, und Heinrich eilte, Platz zu nehmen.

Oben am Tische saß Schubart mit brennendem, von Leidenschaft bewegtem Angesicht. Seine Augen glühten und starrten in die leere Luft. Er hatte den Eintritt des Freundes nicht bemerkt. Nun begann er mit einer Stimme, die zuerst wie das Murren eines erwachenden Löwen klang und dann zum Rollen des Donners sich steigerte: »Eine Zeit, und noch zwei Zeiten, und noch eine halbe Zeit! Harre hie, harre da! Warten, warten und immer warten aufs Bessere soll der Mensch. Im Grabe noch soll er auf den jüngsten Tag warten. Wenn ein Geist erlöst werden soll, so brüllt der Teufel: Hund, deine Zeit ist noch nicht! Wenn Leibeigene frei werden sollen, so schreit der Edelmann: das Volk ist noch nicht reif! Wenn Sklaven ledig werden sollen, krächzt ihr Barbar: man kann sie nicht freilassen, sie sind zur Sklaverei geboren!«

Er schlug auf den Tisch: »Eine Flasche Wein, sag' ich!«

Die Flasche wurde gebracht. Er goß sie auf einmal hinunter, daß der Schulmeister vor Grausen die Hände zusammenschlug. Dann stieß er sie auf den Tisch und rief, gen Himmel sehend: »Kannst du's denn noch länger dulden, wie deine Kreaturen dich behandeln? Deinen Purpur haben sie dir gestohlen und deine Majestät in Fetzen gerissen und sich darein gekleidet, und mit deinen Donnerkeilen pfuschen sie ein ärmlich Faschingswerk. Sie springen mit dir um, wie mit einem gichtbrüchigen alten Herrn, der kümmerlich von seinen Renten lebt. Wie? hast du keine Blitze mehr?«

»Gott sei bei uns!« rief der Schulmeister, »er redet Lästerungen.«

»Vornehmlich gegen diesen – diesen –«

Der Hauptmann war aufgesprungen und hielt sich die Ohren zu, um dieselben nicht zu kompromittieren. Jeden Augenblick konnten andere Offiziere in die Wirtschaft kommen. Heinrich faßte den Rasenden am Arm und zog ihn fort. »Nicht hier! Nur hier nicht!« rief er.

»Schläfst du schon, Tyrann?«

Schubart ließ sich willenlos hinausführen. »Wenn du dich nicht rührst,« schrie er, »so will ich mich schon selbst von diesem Galiotenleben zu befreien wissen.«

»Nur still jetzt!« rief Heinrich, indem er ihn drückte und schüttelte, »Sie sollen und müssen sich Luft machen – aber nicht hier! Bedenken Sie die Gefahr, in welche Sie diesen treuen, anhänglichen Ehrenmann stürzen!«

Der Hauptmann, der sich an seiner anderen Seite hielt, tat ebenfalls sein möglichstes mit Zureden; beide sprachen zugleich in ihn hinein, so daß er nicht zu Worte kommen konnte.

So schleppten sie ihn nach dem Wall, wo sie ihn am sichersten von unberufenen Hörern ferne halten konnten. Er ließ sich ruhig führen und war ganz still geworden. Mit einer stummen Gebärde voll schwerer Anklage wies er auf den Turm, in welchem er so lang geschmachtet hatte. Dann ging er mit großen Schritten vor seinen Begleitern her. In der Dichtung gegen Stuttgart, das in der Ferne hinter seinen Hügeln verborgen lag, ragte eine alte Bastei mit hohem Rasenaufwurfe über den Wall. Mit einem Sprung hatte er sie erstiegen. Die beiden fürchteten, er wolle sich über die niedere Brustwehr in den Graben stürzen; sie eilten ihm nach und suchten sich seiner wieder zu bemächtigen; er aber riß sich los, daß beide zurücktaumelten, trat gegen den Rand vor und rief mit ausgestrecktem Arm in die Nacht hinaus: »Schläfst du schon, Tyrann? Du sollst nicht schlafen! Durch die schweigende Ferne dringe der Ton meines Fluchs zu dir! Pocht dir das Herz? Hörst du es rauschen in der Galerie? Siehst du, wie die Fenstervorhänge sich bewegen? Rufe deine Kämmerlinge und laß dir die Unruhe von der Seele wegschwatzen. Schicke die Bedienten mit Laternen auf die Felder und Hügel hinaus, ob ein Gewitter im Anzug sei. Umsonst, durch alles Geplauder, durch alles Getümmel deiner Hoflarven hindurch dringen die Seufzer derer, die du eingekerkert, die Schatten derer, die du elend gemacht hast.

»Oder wiegst du dich in den Armen feiler, bezahlter Liebe? Sie lohne dir, wie du anderen gelohnt! Die siedende Feuerpein dir in die Knochen, der du den Armen wegreißest aus den keuschen Umarmungen seines Weibes, von dem süßen Lallen seiner unmündigen Kinder! Der du ihn einlullst mit lockenden Versprechungen der Freiheit, und ihn mit teuflischem Hohn wieder hinunterschleuderst ins Kerkergewölbe.

»Nein, du hast kein Herz! Du hast meinen Sohn, dem du die Affenanstalt deiner Schulmeisterslaune öffnetest, du hast ihn in eine Abteilung mit dem Sohne meines Verräters zusammengesteckt, weil er von derselben Leibesgröße war. Du weißt nicht, daß Menschen menschlich empfinden! Weißt nicht, wie es der freigeborenen Seele des Dichters ist, wenn er im Käfig sitzt und die Vögel draußen vorüberfliegen sieht! Weißt nicht, was die verlassene Witwe fühlt, wenn sie ihr einsames Lager mit Tränen badet, während du den deutschen Voltaire, wie du ihn nennst, zum Christentum zurückführen willst, fratzenhafter Defensor du der Religion!

»Fluch dir, ewigen Fluch! Nimmer sterbend soll der Wurm an dir nagen, und dein Feuer soll nicht auslöschen! Sei einsam in deinem Alter, einsam in deiner letzten Stunde! Keinen Tropfen der Linderung flöße Liebe dir in die verdorrten Lippen, wenn der heiße Todesengel drauf sitzt; denn du hast keine Seele geliebt! Wie du die Menschen mißhandelt hast und nur zu Mitteln deiner Selbstsucht gemacht, so finde keinen, der's wohl mit dir meint! Falsche Zungen seien um dich, mit dem leeren Geplapper der Schmeichelei, das allein willkommen ist, Lobredner ins Gesicht und Fratzenschneider hinterm Rücken, aber keine Seele, die es treu mit dir meint! Fühle das in deiner Todesstunde! Übersieh, von einem Engel aufgedeckt, dein ganzes Leben! Empfinde heulend, wie reich es gewesen wäre, wenn du Herzen um dich versammelt hättest! Sieh' es noch mit an, wie sie ekel vor deinem absterbenden Leichnam fliehen, und erzähl' es deinem Hochmut, wie du vergessen bist, noch eh' du die Augen geschlossen hast!

»Fluch dir, eitler Verderber! kindischer Peiniger! Was du am meisten fürchtest, das komme über dich! Sei lächerlich und ein Spottlied bei den Männern! Spurlos zerfallen die Gebilde deiner Eitelkeit, deine Schlösser, deine Gärten mit ihrer hohlen Pracht, und dein Stolz, das Spielzeug deiner Ruhmsucht, deine Affenschule werde nicht mehr gesehen! Dann möge ein Teufel deine Seele aus den tiefsten Klüften heraufreißen und zuhören lassen, wie die Nachwelt über deinen Trümmern – nicht schmäht, nicht flucht! Das wäre noch Nahrung für deinen Hochmut! Nein, wie sie mit einem geringschätzigen Lächeln von dir redet und unwillig zu einem anderen Gegenstande eilt. Dann zucke die Wut in deiner ohnmächtigen Faust! Dann lodere die alte Götterlaune, den Verwegenen zu zerschmettern! Vergebens, du bist ein jämmerlicher Schemen, nichtiger als die ärmste Kreatur, die über deinem Grabe Kehricht sammelt. Das sieh' mit an und laß es an dir fressen durch alle Ewigkeiten hindurch!«

Die beiden Zeugen dieses Fluches waren entsetzt zurückgetreten. Der Dichter wandte sich um, indem er die Hand gegen Stuttgart schüttelte.

»Schonen Sie sich doch!« wagte Heinrich endlich zu sagen, »solch' übertriebenes Stürmen muß Sie ja zu Grunde richten.«

»Im Gegenteil!« erwiderte Schubart ganz gleichmütig, während er den Arm an sich zog, »da hat sich meine Natur entladen, wie in einem Gewitter. Jetzt ist mir's wieder leicht, alles rein vom Herzen herunter; also muß es wohl dort drüben eingeschlagen haben. Übrigens still jetzt! Es geht mir etwas im Kopfe herum.«

Er stieg sinnend und murmelnd von dem Hügel wieder auf den Wall hinab; die beiden anderen folgten ihm besorgt.

»Ich hab's!« rief er endlich. »Kommt, trinken wir noch ein Glas, es gilt, eine Geburtstunde zu feiern.«

»Nein,« rief Heinrich, »Wein ist Gift für Sie. Keinen Tropfen mehr!«

Aber der unaufhaltsame Mann hatte sich schon losgerissen und stürmte auf dem kürzesten Wege zum Schulmeister zurück.

»Folgen Sie ihm,« sagte der Hauptmann, der bisher treulich ausgehalten, »ich will in aller Eile die Posten visitieren, ich bin bald wieder da. Gottlob nur, daß niemand in der Nähe war!«

Als Heinrich eintrat, fand er den Dichter zu seiner Verwunderung und Freude bei einem Glase Wasser. Er hielt es ihm lächelnd entgegen; der Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirne. »Setzt Euch!« rief er dem Eintretenden entgegen, »schreibt! Ihr wart ja schon einmal mein Amanuensis.«

Die Türe ging auf, und ein junger Mensch trat herein mit der Frage, ob Herr Schubart noch da sei.

»Bist du es, mein Söhnchen, mein Furierchen, mein kleiner St. Johannes? Du kommst eben recht: setz dich und schreib! Du bist doch der beste Sekretär, den ich finden kann. – Schreibzeug, Schulmeister! Und gebt ihm Wein! – Was bringst du denn da?«

»Das Schauspiel,« sagte der Furier, »das ich so schön für Sie abschreiben sollte. Sehen Sie, ob's gut geraten ist.«

»Wie?« rief der Dichter mit einem dämonischen Lächeln, »das Schauspiel auf den durchlauchtigsten Besuch? Den Panegyrikus? Das ist ja ganz einzig! Höre, den nimmst du zur Unterlage! So, und nun schreib!«

Da liegen sie, die stolzen Fürstentrümmer,
Ehmals die Götzen Ihrer Welt!

Der Furier schrieb, und in Hand und Gesicht drückte sich die krampfhafte Anstrengung aus, den sturmschnellen Worten des Dichters nachzukommen. Heinrich, der im Fenster lehnte, hob sich immer höher, wie von nächtlichen Gewitterwolken getragen. Der Hauptmann war inzwischen wieder eingetreten und hörte mit bedenklicher Miene zu, beständig nach der Türe sehend, ob keine gefährliche Zuhörerschaft anrücke.

Der Dichter schloß endlich:

Wo Todesengel nach Tyrannen greifen,
Wenn sie im Grimm der Richter weckt,
und ihre Gräu'l zu einem Berge häufen,
der flammend sie bedeckt.

»Hast du geschrieben, mein Söhnchen?« sagte er, während die Feder noch flog. »Nun sieh' einmal nach der Unterlage, ob's nicht durchgebrannt hat auf die untertänigen Krackelfüße drunter, ob nicht eine Durchlauchtigkeit die andere gefressen hat. – Mach' die Überschrift!« rief er ihn an, da der Furier in seinem ordonnanzmäßigen Gehorsam nach dem gefährdeten Schauspiel sehen wollte. Dieser warf geschwind die Papiere wieder zurecht und erhob die Feder, das Diktat erwartend.

»Die Fürstengruft!« rief Schubart nachdrucksvoll und sah sich mit großen Augen um. – »Ich habe das in mir herumgetragen,« sagte er nach einer Weile, »seit ich einmal in der fürstlichen Gruft zu München ein erschütterndes Requiem hörte. Nun werden die Toren sagen, es sei eine Elegie in einer Schloßkapelle. Ich weiß es besser – Wein her! – und will's euch ins Ohr vertrauen. Es ist von keiner Schloßkapelle – es ist von Deutschland die Rede – Wein her! – wenn das einmal eine Fürstengruft sein wird. Heran da! wir wollen inzwischen die Exequien halten. Deutschland eine Fürstengruft!«

Heinrich riß ihm die Flasche, die er schon zur Hälfte geleert hatte, aus der Hand, und die beiden Freunde mußten beinahe Gewalt anwenden, um ihn auf sein Zimmer zu bringen. Die Aufsicht war neuerdings etwas schlaffer geworden. Der Hauptmann gab der Schildwache, die ihnen aufschloß, einen bedeutsamen Wink, Heinrich drückte ihr ein Geldstück in die Hand. Schubart glühte wie im Fieber. Sie hatten unsägliche Mühe, bis sie ihn endlich im Bette sahen, und mußten ihn mehrmals am Aufstehen verhindern. Endlich schlief er ein.

»Wir gehen nicht weg,« sagte der Hauptmann.

Heinrich nickte.

So saßen sie neben seinem Lager und sah'n einander von Zeit zu Zeit mit stillem Kummer an.

»Und sollt' ich mein hundertstes Jahr erleben,« sagte endlich der Hauptmann mit einem scheuen Blick auf den Schläfer, »so wird es mich bei der Erinnerung an diesen Abend schaudern. Es war gräßlich! gräßlich! Und der Gedanke, Deutschland zu einer Fürstengruft zu machen! Hat sich Ihnen nicht das Haar gesträubt?«

»Mich überraschte dieser Gedanke nicht im mindesten,« versetzte sein Mitwächter ruhig, »denn sehen Sie, wenn man die Redner des Volks aufs äußerste reizt, so müssen sie zuletzt auf wilde Gedanken verfallen. Gemeiniglich aber, wenn den Menschen endlich etwas einzufallen beginnt, so fällt ihnen gleich gar viel auf einmal ein.«

Der Hauptmann deutete auf den Schlafenden. Der fieberhafte Sturm in Haupt und Brust hatte sich gelegt, und ein wehmütiges Lächeln trat auf seine Lippen.

»Jetzt träumt er wohl von Weib und Kindern,« sagte Heinrich und ging in eine Ecke, um sich die Tränen abzuwischen.

Da auch die längste Nacht ein Ende nimmt, so wurde es den guten Wächtern endlich Morgen. Mit dem ersten Strahl erwachte der Dichter ganz heiter und sah die beiden Zimmergenossen verwundert an. »Wie seid ihr schon so früh hereingekommen?« fragte er.

»Wir haben die ganze Nacht bei Ihnen gewacht,« erwiderte der Hauptmann.

»Was? ist es denn so schlimm gewesen? O ihr treuen Seelen, wie soll ich euch danken?«

»Ist Ihnen wohl?« fragte Heinrich.

»Ein ganz klein wenig flau; laßt mir doch Wasser kommen. Das macht die Gefangenschaft. Wenn ich frei wäre, wollte ich gewiß dreimal so viel vertragen. Hab' ich denn tolles Zeug ausgehen lassen? wie?«


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