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»Euer Durchlaucht wissen bereits, daß ich wehrlos –«

»Seine Gefangennehmung? Still, ich will nichts davon hören! Das war eine abgekartete Komödie.«

»Dann bin ich freilich schuldig.«

Der Herzog sah ihm scharf in die Augen und sagte: »Das mein' ich auch, ja! Und wie hat Er die Maladresse begehen können, mir den nächsten besten Zigeuner als Vertrauten zuzuschicken? Daß der Bursche, abgesehen davon, daß er alle Schleichwege und den Aufenthalt des Gesindels kannte, ein kompletter Dummkopf war, das kommt Ihm noch einigermaßen zu gute. Wenn ich den Jungen wieder vor die Augen kriege, er gibt einen hübschen Soldaten.« – Er hatte die letzten Worte wie im Selbstgespräche hingeworfen, dann wandte er sich herum und sagte: »Nun?«

»Freund Tony hat seine Rolle nicht übel gespielt,« sagte Heinrich zu sich. »Wenn meine erste Angabe keinen Glauben findet,« erwiderte er laut, »so sind alle folgenden verdächtig. Was hilft mir's, wenn ich versichere, daß mir jene tumultuarische Botschaft von der äußersten, verzweifeltsten Not abgedrungen worden ist? Daß selbst mein Leben, das ich mit Freuden hinzuwerfen bereit war, das Ärgste nicht abgekauft haben würde! Ich darf voraussetzen, daß Euer Durchlaucht hinlänglich unterrichtet sind.«

Der Herzog ging schweigend durch die reizende Wildnis weiter, für welche jetzt keiner von beiden mehr ein Auge hatte. »Was ist die Ursache, daß sie meinen Grenadier ermordet haben?« frug er nach einer Weile, »es muß etwas Besonderes dahinter stecken.«

»Weiberaffären, Euer Durchlaucht, und – der berühmte Feuersegen, den er an einen großen Herrn verkauft haben soll und dessen Früchte sie ihm mißgönnten.«

Der Herzog brach in ein lustiges Gelächter aus und ging weiter. Als sie beim großen Schweizerhause aus den Gebüschen hervortraten, blieb er stehen und wandte sich mit aufgehobenem Finger, aber nicht unfreundlich, gegen den jungen Mann.

»Freund Philosoph,« sagte er, »jetzt nehm Er das Herz in die Hände und bekenn Er mir. Es liegt mir sehr viel daran, Sein Verhältnis zu dem Fräulein zu wissen. Erzähl Er mir aufrichtig, wie weit euer Komplott gegangen ist. Offenherzigkeit vermag viel über mich, daß Er's weiß!«

»Gnädigster Herr!« sagte Heinrich betreten, »ich muß mir diesen Argwohn gefallen lassen, aber, bei Gott, er ist grausam! Ja, und wenn er Grund hätte, nie würd' ich so schmählich handeln, eine Silbe davon über meine Lippen kommen zu lassen! Aber ich kann mit gutem Gewissen mein Ehrenwort geben: zwischen dem Fräulein und mir war nie ein Komplott, ich habe um diese Flucht –«

»Sein Ehrenwort! Seht nur, wie pochend! Wo hat Er denn Seine Ahnen, daß Er so mit den Sporen klirren kann?«

»Meine Ahnen, gnädigster Herr, waren einfache gediegene Ehrenleute, die in einer glücklicheren, weniger schlüpfrigen Sphäre lebten als ihr Abkömmling; aber auch dieser kann nicht ganz verächtlich sein, da er die Ehre hat, mit seinem Landesherrn über geheime Gegenstände zu sprechen, und da ihm die Ehre einer jungen Dame, mit schlechtem Glauben freilich, anvertraut worden ist.«

Der Herzog biß sich auf die Lippen und machte wieder einige Schritte. Dann blieb er stehen und fragte: »Was war der Zweck dieser wahnsinnigen Aventüre?«

»Euer Durchlaucht mögen mich foltern lassen,« rief Heinrich, »wenn ich einen Zweck zu nennen vermag! Es war die zweckloseste Laune, die es je in der Welt gegeben hat.«

»Hält Er mich für ein Kind? Ich lass' Ihn am nächsten Baum aufknüpfen, wenn Er so schamlos mit mir zu spielen wagt.«

Heinrich zuckte die Achseln und schwieg.

Der Herzog änderte seinen Ton. »Wir Fürsten,« begann er, »sind von den anderen Menschen durch eine Kluft abgesondert, über welche nichts hinüberreicht, als das Vertrauen und – der bewußte Blitz. Wir müssen blindlings an die Menschen glauben, weil wir nicht alle ihre Schritte prüfen können, wie ein Geschäftsfreund die Bücher des anderen. Was bleibt uns übrig, wenn sich ein Mensch unseres Vertrauens unwürdig gezeigt hat? Hat er nicht zugleich gegen alle seine Mitbrüder gesündigt, weil unser Mißtrauen nur zu bald auf allen lasten wird? Bedenke Er das, mein Freund, und lege Er eine aufrichtige Beichte ab, um das Vertrauen wiederherzustellen.«

Der arme Heinrich war außer stande, das zu bekennen, was der Herzog ihm nun mit klaren Worten vorschrieb, nämlich, daß des Fräuleins Flucht und alle daraus gefolgten Abenteuer nur Früchte einer geheimen einverstandenen Leidenschaft zwischen Lehrer und Schülerin gewesen seien, und daß das Spiel in guter Ruhe so lange fortgedauert habe, bis eine gewaltigere, rohere Macht dazwischen gekommen sei, worauf man ihn als heimlich verwünschten Deus ex machina, und zwar nicht ohne ihn zu kompromittieren, zu Hilfe gerufen habe. Er bat, drohte, versprach, alles, wie sich begreifen läßt, vergebens.

So waren sie unter lebhaftem Sprechen wieder auf einen freien Platz und zu einem noch nicht gesehenen Gebäude gekommen, welches, mit einem Schild versehen und an drei hohe Bögen, Überreste vom goldenen Hause des Nero, sich anlehnend, das Wirtshaus zur Stadt Rom hieß. Gegenüber in geringer Entfernung stand ein Portal, welches aus dem Garten auf die Landstraße führte. Einige fürstliche Bediente schienen bei der fiktiven Herberge ihres Herrn zu warten. Der Herzog winkte einen von ihnen herbei und sagte ihm einige Worte ins Ohr. Dann fuhr er fort: »Zum letzten Male eine gütliche Frage. Will Er bekennen?«

»Nein! Es ist die einzige Antwort, die ich geben kann. Mein Ehrenwort gilt nicht, und meine Rechtfertigung wird nicht angehört.«

»Er will sich also reinigen?«

»Ja.«

»Nur zu!« sagte der Herzog, indem er aus der Weste ein Schokoladetäfelchen nahm und ein Stück davon in den Mund steckte.

Heinrich holte aus, um eine Erzählung seiner Begebenheiten zu beginnen. – Der Herzog aber hörte ihm kaum zu, sondern rief, nachdem er ihn einige Worte hatte reden lassen: »Halt! wer war denn ein gewisser Kapuziner, der sich in jener verwünschten Nacht auf der Redoute befand?«

Unser unglücklicher Freund war wie vom Donner gerührt; an diese kleinste seiner Vergehungen hatte er schon längst nicht mehr gedacht und war nicht im geringsten vorbereitet, dieser so verfänglichen Frage zu begegnen. Mitten im Bewußtsein der Unschuld fand er sich auf einmal überwiesen, schuldig! Er schwieg und sah zu Boden.

»Diese Frage wäre beantwortete sagte der Herzog. »Und wer war der Teufel, der Arm in Arm mit dem Kapuziner ging?«

Über diese zweite Frage, die einem ohnehin gefährdeten Freunde neues Unheil drohte, erschrak Heinrich noch weit mehr. Doch hatte sein geübtes Ohr aus dem allwissenden Tone die unsicher tastende Absicht herausgehört, und er raffte sich alsbald wieder auf. »Ich schwöre,« rief er, »daß ich mich mit keiner Seele verabredet hatte, daß ich ganz allein –«

»Still!« rief der Herzog. »Schon wieder verstockt!« – Er betrachtete ihn lange Zeit. »Wenn ich mir einen solchen Menschen ansehe,« sagte er endlich, »so ehrlich und so falsch, so einfältig und so gescheit, so zwecklos und so voll Berechnung, – so weiß ich, mit dem gemeinen Mann zu reden, weiß ich nicht, wo ich ihn hintun soll. Doch ja, ich weiß es, und das wird das Beste sein. Ich will Ihn wo hintun, wo mein Knecht, der Sulzer, nicht hinreicht, wenn Seine edlen Kameraden auf Ihn aussagen sollten. Er ist zwar ein hartgesottener Sünder; aber in Sulz wissen sie den Katechismus besser durchzufragen als ich, und ich muß dafür sorgen, daß Seine Dummheiten nicht ins Protokoll kommen. Ich will Ihm den rechten Frieden geben.«

Er winkte seinen Trabanten. Im Augenblick sah sich Heinrich umringt und mit unbegreiflicher Geschwindigkeit seiner Brieftasche beraubt. Er konnte seine Erbitterung nicht bezähmen. »In der Tat, gnädigster Herr,« rief er aus, »größere Virtuosen sah ich auf dem Schwarzwalde nicht.«

»Fort mit ihm!« rief der Herzog und wandte sich nach dem Garten zurück.

Gefangner Mann, ein armer Mann!
Ach, habt mit mir Erbarmen!

Schubart.

Rasch fuhr ein Wagen vor. Heinrich wurde einzusteigen bedeutet; ein fürstlicher Diener setzte sich zu ihm, der sorgfältig alle Öffnungen schloß; dann rollte der Wagen im schnellsten Trabe fort. Heinrich hatte keine Lust, sich mit seinem Begleiter in ein Gespräch einzulassen; er fuhr ruhig dahin und empfand eine gewisse Zufriedenheit, daß die Lenkung seines zwecklosen, unsteten Lebens nun in andere Hände gekommen war. Wie von diesen die Zügel gehandhabt werden würden, ob schlaff oder streng, kümmerte ihn in seiner gegenwärtigen Stimmung nicht.

Endlich wurde ihm die Schwüle im Wagen unerträglich; er stieß ein Fenster an seiner Seite auf, ohne zu fragen und ohne daß sein Begleiter Einsprache tat. Er sah, daß sie gen Stuttgart fuhren, und konnte sich nicht erklären, was dort mit ihm vorgenommen werden sollte. Mit halsbrechender Eile ging's die Steige hinab und dem Hauptstätter Tore zu.

Es war inzwischen dunkel geworden, und das wohlbekannte Fenster im Ochsen war schon erleuchtet. Es drängte ihn, Halt zu gebieten und zu den Freunden hinaufzuspringen. Der Wagen donnerte vorbei. Ein zweiter Blick zeigte ihm beim Licht der Laterne einen Straßenwanderer, der in straffer Haltung und mit schnellen Schritten an den Häusern heraufkam; es war Petersen, und dem rückkehrenden Freunde konnte es nicht verborgen sein, wohin er so unternehmend steuerte. Kaum hielt sich Heinrich, seinen Namen auszurufen; er unterdrückte einen Seufzer und lehnte sich schweigend in den Wagen zurück.

Dieser fuhr weiter und immer weiter, und endlich zur Stadt hinaus. Der Gefangene ahnte jetzt das Schicksal, das ihm bevorstand, und blieb still in der Ecke liegen, ohne sich weiter nach der Gegend umzusehen. Nach einer geraumen Fahrt ging es endlich in der Nacht steil bergan. Der Wagen hielt, und er mußte aussteigen. Er sah sich von Mauern und Wällen umgeben, und knarrend öffnete sich auf den herzoglichen Befehl das Tor von Hohenasperg. Er hatte den frei in der Landschaft stehenden Knirps von einem Berge mit seiner Festung schon manchmal von weitem gesehen und nicht geträumt, daß er ihn noch so genau kennen lernen sollte; aber was ist nicht möglich im Leben! Der Kommandant war schon zu Bette. Der Gefangene erfuhr jedoch aus den Unterhandlungen seines Begleiters mit der Wache, daß alles für ihn in Bereitschaft sei; man schien also mit ziemlicher Sicherheit auf ihn gerechnet zu haben.

Jener wandte sich, um den Rückweg anzutreten; er streckte dem Arrestanten die Hand hin und wünschte ihm treuherzig gute Nacht.

Heinrich nahm den Gruß gleichgültig auf; da aber der Laternenschimmer auf ein bekanntes Gesicht fiel, so sah er dasselbe schärfer an.

»Ich glaube, Sie kennen mich noch halb und halb,« sagte der andere, »wären Sie unterwegs nicht so trutzig gewesen und hätten mich ein einzig Mal angesehen, was gilt's? wir hätten uns ganz gut zusammen unterhalten.«

»Ich muß Sie schon einmal gesehen haben,« versetzte Heinrich; »ich kann mich aber nicht besinnen.«

»Ich bin der Kammertürke, der Sie vor einigen Jahren auf der Solitüde empfing. Jetzt bin ich aber bloß noch Trabant, weil – weil – Nun, es hat nichts zu sagen,« setzte er flüsternd hinzu; »ein gut Gewissen geht über alles. Aber nicht wahr? Man sagt doch mit Recht: Berg und Tal kommen nicht zusammen, aber die Menschen.«

»Ja, nur nicht immer auf dieselbe Weise,« erwiderte der Gefangene mit bitterem Lächeln, »damals sahen Sie mich in einer glänzenderen Rolle als heute.«

»O, das hab' ich schon mehr erlebt!« rief der ehrliche Mann. »Übrigens trösten Sie sich, ich glaube, man hat's nicht so arg mit Ihnen vor. In ein paar Wochen, denken Sie an mich, werden Sie keinen Vogel mehr zu beneiden haben. Indessen wünsche erträgliche Zeit.«

Er drückte ihm die Hand und war verschwunden. So gleichgültig Heinrich anfangs sein Schicksal hingenommen hatte, so erschütterte ihn doch der Abschied des einzigen Freundes, auf den er hier hoffen konnte, und er sah mit schmerzlichen Gefühlen, wie das Tor sich hinter ihm schloß.

Nun wurde er von einer Ordonnanz mit einer Laterne über den Platz nach einem der im Viereck stehenden großen Gebäude und in ein geräumiges, an der Decke blockhausartig mit schwerfälligen Balken durchzogenes Zimmer geführt, dessen kahle, weißgetünchte Wände ihn wie die ewige Langeweile angähnten. Der Soldat zündete ihm ein Licht an und entfernte sich mit der barschen Weisung, es nicht länger als nötig brennen zu lassen. Heinrich ersah aus diesem Tone, daß er jetzt unter militärischem Kommando stand. Er löschte das Licht, setzte sich auf den Stuhl am Bett und hielt Rechnung über sein seltsames Schicksal. Kopfschüttelnd stand er wieder auf und legte sich in das Fenster; es ging auf den Festungsplatz. Der Mond stand am Himmel, groß und voll; es war derselbe, der vor kurzer Zeit an der gräßlichen Mordtat vorübergegangen war. Er lenkte sich jetzt hinter die Dächer und lächelte noch einmal auf den stillen Platz, über welchem der Atem des Friedens und der Sicherheit wehte. Nur unterbrach der einförmige Schritt und das Anrufen der Wachen von Viertelstunde zu Viertelstunde die schweigende Nacht. Dennoch kam eine innige Ruhe über das Herz des Gefangenen, es war ihm, als hätte er wieder eine Heimat, und er sehnte sich in diesem Augenblicke nicht einmal nach seiner Freiheit, die ihn in der letzten Zeit so müde gerüttelt hatte.

Hohenasperg.

Doch überkam ihn nur zu bald die Erinnerung, die ihm sagte, wo er sich befand, und wenn er auch für jetzt die Ruhe willkommen hieß, so konnte er doch darüber nicht vergessen, daß es eine Ruhe des Grabes war, worin Tausende vor ihm ihre Hoffnungen, ihr Lebensglück bestattet hatten. Er ging zu Bette und warf noch einen scheuen Blick im Zimmer umher. Wenn all das Unglück, das hier schon gehaust hat, plötzlich Gestalt annähme; wenn diese Wände alle die Seufzer, die sie seit Jahrhunderten eingesogen, in nächtlicher Stille wieder austönten! Nein, das wäre nicht zu ertragen! Das festeste Herz müßte darüber brechen, der derbste Verstand aus den Fugen gehen. Und wenn nun gar ein Unschuldiger diese Prüfung nicht aushielte, wie müßte den Urhebern solchen Jammers, solcher Verzweiflung zu Mute sein!

In diesem Augenblick erscholl ein Seufzer, laut und vernehmlich. Heinrich fuhr zusammen und richtete sich auf; sein Herz klopfte. Bald aber merkte er aus den Bewegungen eines im Bette sich hin und her werfenden Menschen, daß er einen Nachbar habe, von dem ihn nur eine dünne Wand zu scheiden schien.

Durch das unaufhörliche Wer da? aufs widrigste gestört, schlief unser Freund erst spät ein und erwachte mit dem Morgenlicht aus einem tiefen Schlummer und verworrenen Träumen. Es ist ein alter Glaube, daß die erste Nacht, die wir an einem neuen Aufenthaltsorte zubringen, ihre vorbedeutenden Träume habe. Schade nur, daß gerade diese es sind, die am seltensten beim Erwachen eine Erinnerung hinterlassen; es ist, als ob der Traumgeist, verschämt, sein Geheimnis verraten zu haben, das schon halb eingeprägte Bild mißgünstig wieder von der Seele weggehaucht hätte. Ein solches Schicksal hatte unser Gefangener; er konnte sich durchaus nicht besinnen, was er geträumt, obgleich eine unbeschreiblich liebliche Empfindung davon zurückgeblieben war, die ihn immer von neuem trieb, nach den Spuren ihres Ursprungs zu forschen. Vergebens! seine Gedanken, die er auf einen Punkt bannen wollte, schweiften in alle Welt hinaus. Aber wie erstaunt war er, als sie aus der Ferne mit einem Bilde zurückkamen, das seit gar zu langer Zeit in seiner Erinnerung versunken war! Hatte er von Lottchen geträumt? Er konnte keine Spur zusammenbringen. Oder war es ihr Andenken, das in jeder ruhigen und gleichmäßigen Stimmung wieder in dem schwankenden, irrenden, und doch heimlich getreuen Herzen auftauchte? Aber ach, er drängte es grollend wieder zurück. Unmutig stand er auf, trat ans Fenster und bot die Stirne den kühlenden Schwingen der Morgenluft.

Da klopfte es an der Türe. Heinrich rief, und ein Offizier trat herein, in dessen markiertem Gesicht und strenger Haltung sich Ernst und Entschiedenheit verkündigten. Seine lebhaften Augen ruhten durchbohrend auf unserem Freunde, der, verlegen über seinen nachlässigen Anzug, nicht wußte, wonach er zuerst greifen sollte.

»Man inkommodiere sich nicht, wir sind hier ganz entre nous,« sagte der andere, näher tretend. »Da sich mein Arrestant mir noch nicht vorgestellt hat, so muß ich ja wohl selber nach ihm sehen.«

An diesen Worten erkannte Heinrich seinen Mann und konnte sich nicht enthalten, ihn mit neugierigen Blicken zu mustern. Es war der Kommandant von Hohenasperg, der vielbesprochene Obrist Rieger. Er hatte ihn, wiewohl nur von ferne, in der Akademie gesehen, als der Herzog, nach langer Gefangenschaft und noch längerer Verbannung von seiner Unschuld überzeugt, sich mit ihm versöhnte und ihm diesen Ruheposten übertrug.

»Sie können guten Mutes sein,« fuhr der merkwürdige Mann fort. »Ich habe soviel als gar keine Instruktion Ihrethalben erhalten, und so dürfen Sie auf eine Behandlung rechnen, die ganz Ihrem Benehmen angemessen sein wird. Ihre Türe ist, wie Sie bemerkt haben werden, nicht geschlossen, und wenn Sie Ihr Wort geben, nichts Eigenmächtiges vorzunehmen, so sollen Sie unbeschränkte Festungsfreiheit genießen. Sie werden diese Gnade des Herzogs zu schätzen wissen.«

»Ihre Güte, Herr Kommandant, weiß ich hoch zu schätzen,« versetzte Heinrich; »von seiten des Herzogs wäre mir Gerechtigkeit lieber als Gnade. Was ich auch Ungeschicktes begangen haben mag, eines Verbrechens bin ich mir nicht bewußt, und die Strafe, die ich zu erstehen hier bin, ist mir ohne Recht und Urteil diktiert worden. Es möchte sich fragen, ob es nicht statt aller Kapitulationen besser wäre, die Garantien der Landesverfassung und der persönlichen Freiheit anzurufen.«

Herr von Rieger runzelte die Stirne. »Es steht Ihnen frei,« antwortete er mit einem scharfen Blick. Dann ging er ein paarmal rasch durch das Zimmer und trat dicht vor den Gefangenen. »Mein werter junger Mann,« sagte er, »Ihrer Gärung wird diese Diät zu gute kommen. Erwarten Sie hier mit Ruhe, ob die Landschaft um Ihretwillen von neuem Streit mit dem Herzog anfangen wird. Übrigens kann man nicht wissen – Sie haben vielleicht bedeutende Konnexionen und können die Herren für sich interessieren. Dann verspreche ich Ihnen im günstigsten Fall, daß man etwa zehn Jahre lang in Wien prozessieren wird, während welcher Zeit Sie in desto engerer Haft hier sitzen und auf den Erfolg harren können.«

Er bemerkte den Eindruck, den diese Worte auf den jungen Mann machten, und fuhr etwas freundlicher fort: »Schicken Sie sich in die Zeit, und Sie werden sicherlich gelinde durchkommen, Gedenken Sie fürs erste, daß Sie ein Mensch sind und menschliche Schicksale zu ertragen haben. Es ist das gar nichts Besonderes und schon ganz anderen Leuten widerfahren, die ihre Ungeduld auch beiseite gesetzt haben. Ich will nicht von mir reden, aber neben Moser werden Sie sich nicht zu stellen begehren. Ihr Schicksal ist eine Lustbarkeit gegen das seinige. Ich selbst saß zu Hohentwiel in einem Loche, daß die Phantasie erhitzter Romanenschreiber nichts Scheußlicheres auszubrüten vermag, und habe den Übergang von Ehre und Tätigkeit zur äußersten Inaktion und Schande überdauern können. Fremde Menschenfreunde haben um mich geweint; ihre Tränen sind im Sack Gottes gesammelt –«

Heinrich sah ihn bei diesen Worten betroffen an; er ahnte ein Geheimnis, das ihm sogleich klar werden sollte.

»Aber sie hätten mich nicht beweinen, sie hätten sich mit allen Engeln freuen sollen,« fuhr der Kommandant fort, »denn der Arm Gottes hatte mich aus der babylonischen Gefangenschaft des Weltverderbens in die Wüste entrückt, um mich allda zu sich zu führen. Ich bekam nichts als eine kleine Bibel zur Gesellschaft. Da sagte die naseweise Vernunft; wie wird's dir gehen? bei deinem guten Gedächtnis wirst du sie bald auswendig wissen. Aber sie ist mir heute noch neu.«

»Ich begreife,« sagte Heinrich, »daß Ihr unverdientes hartes Schicksal Ihnen eine Sammlung verschafft hat, wozu das unruhige Welttreiben keine Gelegenheit bot.«

»Überhaupt,« fiel der lebhafte Mann ein, der in Ausdruck und Bewegung manches von seinem Fürsten angenommen zu haben schien, »überhaupt, wer es zu was Rechtem im Erkennen und Handeln bringen soll, der wird nicht auf breiten und ebenen Wegen dazu geführt. Wenn Gott etwas der Art mit Ihnen vorhat, so gratuliere ich zur Gefangenschaft und wünsche, daß sie nicht allzu kurz dauern möge.«

Unser Freund dankte lächelnd für den wohlgemeinten Wunsch, und der Oberst sagte: »Da wollen wir nun gleich beraten, womit Sie sich beschäftigen sollen, um diese unerwartete Muße nützlich und angenehm auszufüllen.«

Heinrich sprach von seinen Büchern, die er kommen lassen wollte, aber der Kommandant fiel ihm ungeduldig ins Wort: »Ich denke,« sagte er, »da der Arm Ihres Führers in diesen Tagen so sichtbar geworden ist, so täten Sie besser, auch einmal ein paar Wochen lang Ihm allein die Honneurs zu machen und sich mit geistlichen Dingen zu beschäftigen. Sie sind ja ein Gelehrter – nicht? Nun, da haben wir vielleicht interessante Studien für Sie. Doch wir wollen zuvor mit Freund Hahn darüber konferieren, der dieser Tage von seinem Kornwestheim zum Besuch heraufkommen wird. Den empfehle ich Ihnen als Seelenrat. Vielleicht läßt er sich bewegen, Ihnen eine geistliche Diät vorzuschreiben, wie unserem Schubart, den wir durch dieses Rüstzeug Gottes auch so ziemlich zurechtgebracht haben.«

»Schubart!« rief Heinrich lebhaft, »wie konnte ich ihn so vergessen! Er ist hier! Er ist noch hier?«

»Und nicht allzu weit von Ihnen,« versetzte der Kommandant lächelnd, »Sie werden ihn noch zu sehen bekommen, in den Stunden, wo er auf dem Walle spazieren gehen darf – oder essen Sie heute eine Suppe mit mir, und ich will ihn dazu einladen.«

Heinrich nahm das Erbieten dankbar an und fragte, wie es dem armen Manne gehe.

»Es geht ihm jetzt leidlich,« erwiderte Rieger, »er ist aus der engen Haft befreit, wohnt wie Sie, speist oft bei mir, wenn Fremde zugegen sind, und wäre vielleicht schon frei, wenn er seine Ungeduld bezähmen könnte. Aber wenn er durch ein ruhiges Benehmen, durch ein artiges poetisches Kompliment den Herrn günstig gestimmt hat, so löscht er diesen Eindruck bald wieder durch unartige Reden aus, und das wird alles hinterbracht. Wenn ich's verschweige, so verraten's andere, um mich in Verlegenheit zu bringen.«

»Welche eine saure Pflicht!« rief Heinrich aus.

»Die Fürsten,« sagte der Oberst ruhig, »sind von Gott eingesetzt, und was sie uns befehlen, das müssen wir tun; wir selbst sind nicht dafür verantwortlich.«

Er entfernte sich, indem er die Einladung wiederholte und ihn ermahnte, über die Winke, die er ihm gegeben habe, nachzudenken.

Heinrich dachte aber nicht über diese Winke nach, sondern über den seltsamen Charakter, der sich da vor ihm enthüllt hatte, und mit dem er nicht fertig zu werden wußte, als auf einmal eine Stimme vom Ofen her rief: »Herr Nachbar, auf ein Wort!«

Heinrich war betroffen. »Wer ist da?« rief er, auf den Ofen zugehend.

»Kennen Sie mich denn nicht? Ich habe einen Teil Ihrer Unterredung gehört und Sie gleich wieder erkannt.«

»Schubart!« rief Heinrich. »Sind Sie es oder nicht?«

»Freilich bin ich's!«

»Sie also waren das seufzende Gespenst, das mich vergangene Nacht erschreckt hat?«

»Habe ich geseufzt, ich Mann des Jammers, so hat der Schlaf mein gepreßtes Herz verraten. Legen Sie sich platt auf den Boden, da, wo Sie stehen, dann werden Sie unten eine Öffnung in der Wand finden, durch die wir uns unterreden können.«

Heinrich folgte der Aufforderung, obgleich die Lage, die er annehmen mußte, höchst unbequem war, und rief: »So erinnern Sie sich denn noch des jungen Abenteurers, der Ihnen damals gewiß in einem sehr zweideutigen Licht erschienen ist?«

»Ich gestehe,« war die Antwort, »daß ich nicht abgeneigt war, Sie für einen Adjutanten des Ischarioth zu halten, aber – nehmen Sie mir meine Offenherzigkeit nicht übel – ich hatte nachher so viel Veranlassung, mich mit mir selbst zu beschäftigen, daß ich erst diesen Morgen wieder an Sie erinnert worden bin. Auch Sie werden nicht allzu viel an mich gedacht haben. Wo sind Sie denn inzwischen herumgekommen? Ihre Nachbarschaft beweist mir, daß wenigstens kein Tyrannenscherge aus Ihnen geworden ist.«

Unserem Freunde gereichte es zur großen Erleichterung, dem mißhandelten Manne seine Unschuld an jenem Verrat auseinanderzusetzen. »Fast,« sagte er, »möchte ich diese meine Gefangenschaft segnen, die mir vergönnt, mich in Ihren Augen zu rechtfertigen.«

»Lassen Sie sich's nicht leid sein,« versetzte Schubart, »mir ein paar Wochen Gesellschaft zu leisten; es ist ein Gottesdienst, einen Unglücklichen zu trösten. Ihre Lage ist wohl beschwerlich? Ich hör' es an Ihren Bewegungen. Ihr Vorgänger, Herr von Scheidlin, hat sich trefflich daran gewöhnt, er hat in dieser Stellung meine ganze Lebensgeschichte geschrieben, die ich ihm, da man mir die Schreibmaterialien weggenommen hatte, in die Feder diktieren mußte.«

»Dazu hätt' ich mich,« sagte Heinrich, »so bereitwillig hergegeben wie damals in Ulm zum Memento mori. Wollten Sie mir nicht eine kleine Nachlese gönnen?«

»Das Manuskript,« erwiderte der Dichter, »ist heimlich fortgeschafft worden und wird hoffentlich bald unter die Presse kommen. Indessen will ich Ihnen gerne, wenn Sie sich dann und wann zu der Ofenlücke bequemen wollen, einen Vorschmack davon geben.«

»Fürchten Sie von der Veröffentlichung des Buches keine üblen Folgen?« fragte sein Leidensgenosse. »Der Herzog wird eben nicht die glänzendste Rolle darin spielen.«

»Der Herzog macht sich nicht viel aus Gedrucktem,« war die Antwort, »und wenn man ihn nicht geradezu schimpft und gewisse reizbare Seiten schont, so kann man sich im übrigen ziemlich gehen lassen. Man muß gestehen, in diesem Punkt ist er liberal.«

Heinrich erinnerte sich, daß auch Moser seine Lebensbeschreibung in Stuttgart herausgeben durfte, und sagte: »Es ist wahr, in solchen Dingen ist mit dem Herzog selbst oft besser auszukommen als mit den Gewaltigen, die ihm untergeben sind.«

»Ja freilich!« rief Schubart, »je kleiner ein Tyrann ist, desto schlimmer ist er, weil er sich mit dem Abhub der Macht begnügen muß. – Im Vertrauen gesagt – ich will von unserem Kommandanten nicht übel reden, er hat seine guten Seiten – aber seien Sie nicht ganz gleichgültig gegen seine Grillen. Ich habe vorhin bemerkt, daß er bereits an Ihrer Bekehrung zu arbeiten angefangen hat; wenn Sie ihn einigen Erfolg verspüren lassen, so wird das sehr zur Erleichterung Ihrer Lage dienen. Er ist noch ganz der alte Werber, nur daß er jetzt Rekruten für die himmlischen Heerscharen zusammenzutreiben suchte

Heinrich lachte. »Es würde mir schwer fallen,« sagte er, »mich zur Heuchelei zu entschließen.«

»Braucht's denn Heuchelei?« rief der Dichter mit kläglichem Tone. »Ich meine ja nur, daß man das Herz dann und wann ein wenig in des Herrn von Riegers Montur kleiden solle. Denn daß dieses Herz von Grund aus verderbt und der Gnade bedürftig ist, das werden Sie so gut einsehen, wie ich, oder werden es noch einsehen lernen.« – Mit diesen Worten geriet er in eine solche geistliche Salbung, daß Heinrich lange Zeit ungewiß war, ob er ihm nicht eine lustige Kapuzinade zu vernehmen gebe, womit der fromme Oberst persifliert werden sollte, bis er endlich den Dichter weinen und schluchzen hörte.

»Ihr Unglück,« sagte er mild, »hat diese Stimmung, die ich begreifen kann, in Ihnen erzeugt.«

»Warten Sie nur ab,« rief Schubart, »was das Unglück bei Ihnen erzeugen wird. Ich saß in meinem anfänglichen finsteren Loche, von Gott und Menschen verlassen, wie der Mensch im Gefängnis der Sünde sitzt. Mein Herz war verdorrt, mein Auge vertrocknet; ich war wie eine Wolke, die kein Wasser gibt. Da schickte mir der Herr, dessen Barmherzigkeit nimmer von uns weicht, seinen Propheten, den Mann mit der Lichtgebärde, der wie ein Stern in mein Dunkel schien, seinen Hahn, dessen Morgenstimme mich aus der dumpfen Nacht erweckte. O das ist ein Mann! Ich weiß nicht, was ich geworden wäre ohne ihn. Ein tiefer Geist, der mit dem Feuereifer und der Geduld eines Apostels dem Unglauben und Irrtum entgegenkämpft. Der hat keine Montur, der wandelt in einem hochzeitlichen Kleide. Freuen Sie sich darauf, seine Bekanntschaft zu machen! Er wird Sie gewaltig ergreifen und mit Ihnen ringen, denn er ist seiner Sache so gewiß, daß ihm niemand widerstehen kann.« – Der begeisterte Dichter hätte noch lange fortgesprochen, aber sein Zuhörer sprang unwillig vom Boden auf, entschuldigte sich mit der ungewohnten Lage, die er nicht länger aushalten könne, kleidete sich hastig an und verließ das Zimmer.

                              Wohlan,
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag
Zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf'!

Lessing, Nathan der Weise.

»Wo bin ich hingeraten!« rief er zornig, indem er auf den die Rückseite der Festungsgebäude umschließenden Wall hinausging; »in welches Tollhaus zudringlicher Proselytenmacherei! Ich sehe sie schon auf mich einstürmen, enger und enger, leis' und heftig, zärtlich und ergrimmt. Säß' ich doch lieber im tiefsten Loche und hätte die Freiheit, meinem Zuchtmeister auf sein Brummen die Antwort schuldig zu bleiben! Das fehlte mir noch, ein Pietist zu werden!« – Er mußte laut lachen und sagte zu sich: »Nun, nun, sei nicht gar zu ungeduldig, es sieht ja sonst aus, als fürchtest du, sie möchten dich unterkriegen. Das hat nun zwar keine Gefahr, aber verdrießliche Auftritte wird's geben. – Wie, und darüber beklagst du dich? Solltest du nicht froh sein, daß in das einförmige Leben, zu dem du verdammt bist, einige Spannung und Lebhaftigkeit zu kommen droht? Nur ruhig, Herz! Sie werden dich warm halten. Wenn sie dir eine Komödie vorspielen, die du nicht bestellt hast, kannst du dich nicht mit um so besserem Gewissen daran belustigen?«

Nach diesen Worten ging er beruhigt längs des Walles im Kreis umher und sah in die Landschaft hinaus. Die milde Luft und der warme Sonnenschein erheiterten sein Gemüt, und er gestand sich endlich, daß es doch immer besser sei, in die Hände dieser wunderlichen Christen zu geraten, als mit Hannikel und seinen Gesellen umherzuziehen.

Der Wall bot ihm eine weite Aussicht in die Gegend. Wie mancher mochte hier schon in die Freiheit hinausgeseufzt haben, die sich rings um diesen schön gelegenen Berg so weit, so lockend ausbreitete, als wäre es eine ausgesuchte Erfindung der Tyrannei, ihre Opfer auf länderbeherrschenden Höhen, ewig den Anblick des Entbehrten vor dem Auge, einzuschließen. »Wie schön,« seufzte er, »wie rein hast du alles gemacht! Und wie elend pfuschen dir deine Menschen in dein Werk!«

Wohin das Auge reichte, traf es auf blühende Bäume, die in tausend Farben die Herrlichkeit der Schöpfung priesen und ihren begeisterten Atem mit jedem Lüftchen durch die Lande schickten. Rauch stieg aus den Dörfern auf; die Felder belebten sich mit Menschen. In den Lüften aber wirbelten die Lerchen, von fröhlicher Lust ergriffen, ihre unversiegbare Glückseligkeit aus und stiegen, mit jedem Ton an irdischem Gewicht verlierend, immer höher in den blauen Himmel empor. »Wer auch so grundlos vergnügt sein könnte!« klagte der Gefangene. »Mir ist, wo ich sein mag, ein verarmtes Dasein beschieden, und dieses einsame Herz, wenn es an vergangene Freuden und Leiden zurückdenkt, hat nur Irrtümer aus der Lebenschronik zu streichen. Auch Laura! Hinab, schönes Gestirn! Dein Glanz war Schein, bewegtem, trügerischem Dunst entflossen, der kernlos erblaßt und nicht heimisch wird in den Kreisen fester Himmelskörper. Lebe wohl, schönes Licht! Auch du warst nur ein Nebelstern.«

Die Glocke erinnerte ihn, er fragte sich bei den Schildwachen zurecht und ging nach der vom Wall in den Kommandantenbau führenden Türe. Auf dem Wege traf er eine Erscheinung, die ihm sonderbar in die Augen fiel. Ein Mann in einem altväterischen schwarzen Rocke lehnte an der Wallbrüstung, der Landschaft den Rücken kehrend und mit seinem Stock Figuren in den Sand zeichnend. Heinrich erkannte mathematische Linien und wollte ihn eben anreden, als der andere, der nachdenkend sein Kommen nicht gehört hatte, durch die nahen Tritte erschreckt, leicht zusammenfuhr; ein rascher Blick fiel auf den Begegnenden, als wollte er ihm die Störung vorwerfen, dann wandte er sich und ging, ohne zu grüßen, auf die Seite. Seine Zeichnung hatte er schnell mit dem Stock verwischt.

Ein Mann in einem altväterischen Rocke lehnte an der Wallbrüstung.

»Was soll ich hier nicht alles für Bekanntschaften machen!« sagte unser Freund zu sich. »Ist das vielleicht ein Pythagoras oder Galilei, den der Herzog wegen abweichender Theorien auf den Asperg gesetzt hat, um ihn zum rechten System zurückzubringen? Fürwahr ein pädagogischer Coup, den man ihm schon zutrauen könnte.«

Er fand bei Frau von Sieger eine sehr artige Aufnahme. Aber wie verwundert war er über Schubarts Aussehen, der ihm mit einem Freudenruf entgegentrat. Er war aufgedunsen, dick, schwerfällig, und eine Bleifarbe in seinem Gesichte zeugte von den Folgen der Einkerkerung. Auf seinen Geist schien diese weniger gewirkt zu haben; in seiner Unterhaltung mit der Dame war viel von seiner alten Liebenswürdigkeit und Laune, aber bald mußte unser Freund eine Beimischung von Unterwürfigkeit entdecken, die ihn wenig erbaute. Ach, er wußte nicht, daß man ihn kommen ließ, wenn man sich an seinen Talenten ergötzen wollte, und daß er im übrigen der arme Geächtete blieb, den man nach Gefallen bald so, bald anders behandelte.

Der Kommandant kam jetzt mit jenem Fremden herzu, den er seinem neuen Gast als den Pfarrer Hahn vorstellte. Derselbe begrüßte ihn mit gewinnender Einfachheit und sah ihn jetzt weit freundlicher an als zuvor. Dieser Blick aus tiefliegenden Augen, die sich unter einer gewölbten, mit schwarzem rundem Haar natürlich umlockten Stirne bargen, hatte etwas eigentümlich Herzliches, und Heinrich wollte ihn ebenso freundlich erwidern, als der Kommandant der Vorstellung einen Wink beifügte, der unseres Freundes Bitterkeit in so hohem Grad erregte, daß sein Gegengruß etwas geharnischt ausfiel: er wünschte bildsam genug zu sein, sagte er mit trotzigem Ton, um von dieser Bekanntschaft den gehörigen Nutzen ziehen zu können. Der Pfarrer sah ihn aus seinen durchdringenden Augen mit einer wehmütigen Freundlichkeit an, als wollte er sagen: »Was hab' ich denn getan oder gesprochen, das dich herausfordern könnte?« Heinrich entzog ihm sein Auge; doch hatte er diesen Blick, obgleich er ihn nicht Wurzel bei sich schlagen ließ, in der Seele empfunden.

Man setzte sich zu Tische, und die Unterhaltung, die besonders von dem Kommandanten lebhaft und bei allem Ernst nicht ohne Scharfsinn und Laune geführt wurde, drehte sich um verschiedene Gegenstände. Heinrich, der nicht wußte, wie weit die Gesellschaft von seinen Verhältnissen unterrichtet war, beobachtete eine scheue Zurückhaltung. Der arme Schubart gab von Zeit zu Zeit pflichtmäßig ein Bonmot zum besten.

Es wurde von Reisen gesprochen, und Herr von Rieger erzählte mit vieler Selbstgefälligkeit von seinem Aufenthalt bei dem Prinzen Louis, dem Bruder und künftigen Thronfolger des Herzogs. Dieser Herr pflegte den Männern, welche unter dem raschen Szepter seines Bruders gelitten hatten, auffallend mit seiner Gunst entgegenzukommen, und bei ihm hatte der Oberst die meiste Zeit nach seiner Befreiung von Hohentwiel zugebracht.

Er trank die Gesundheit des Herzogs und dann des Prinzen, wobei die Gesellschaft, durch sein Beispiel und noch mehr durch einen befehlenden Blick aufgefordert, sich erhob. – »Ich glaube, Sie zählen mir die Schlucke nach, die ich nehme,« wandte er sich plötzlich, nachdem er das Glas abgesetzt hatte, an seinen jüngeren Arrestanten.

Diese Frage, die gewiß geeignet war, einen Gast in peinliche Verlegenheit zu bringen, traf unseren Freund wohlvorbereitet; denn Schubart hatte ihn vorhin, in der Abwesenheit der Frau von Rieger, von dem Lieblingsthema des Obersten unterrichtet. »Ich bitte sehr um Verzeihung,« antwortete er dem frommen Manne mit der Schlauheit der Kinder dieser Welt, »ich habe sie nicht nachgezählt, aber es schien mir, Sie beobachten diese Regelmäßigkeit.«

»Sie haben ganz recht gesehen!« rief der Oberst sehr vergnügt: »ich habe meine Schlucke gezählt und pflege dies allemal zu tun. Fünfe! Keinen mehr und keinen weniger. Sie müssen wissen, daß fünf meine Leibzahl ist und eine große Bedeutung in meiner Lebensgeschichte hat. Es war an einem fünften Dezember, daß mich Serenissimus aus eigener Bewegung zum Major und geheimen Kriegsrat machten, mich von einer Ehrenstelle zur anderen erhoben und mit Gnade, Vertrauen, Ehre und Wohltaten überhäuften, die ich in unauslöschlicher Dankbarkeit behalten werde. Zehn Jahre später, wieder am fünften Dezember, wurde ich in das Gefängnis der Einmaurung niedergelegt, wo ich Gott kennen lernte. Fünf Jahre danach, abermals am fünften Dezember, hatte ich die Ehre, mit dem besten Kurfürsten des Reichs, Notabene nicht auf dem Lande, sondern in seiner Residenz zu Mainz, an seiner kurfürstlichen Tafel mit meinem lieben Prinzen zu speisen, wo der Herr den Kotstäubigen neben seine Fürsten gesetzt hat.«

Er erzählte hierauf ein langes und breites von jener Mahlzeit, während Heinrich im stillen seine Glossen machte. Der Pfarrer von Kornwestheim schwieg und sah vor sich hin. Schubart sprach, als er zu Worte kommen konnte, von merkwürdigen Führungen, wie sie sich selbst im Zusammentreffen einzelner Umstände, besonders gewisser Zahlen gezeigt, und führte Beispiele aus seinem eigenen Leben an. Zufällig kam er in seiner Auseinandersetzung auch auf die prophetischen Zahlen der Bibel zu sprechen, und der Kommandant ergriff dieses Stichwort mit vollem Eifer.

»Ja, das war's,« rief er, »wovon ich schon längst reden wollte. Haben Sie,« wandte er sich zu Heinrich, »haben Sie die Offenbarung Johannis schon studiert?«

»Nein,« sagte dieser lächelnd, »ich muß das für einen ehemaligen Theologen demütigende Geständnis ablegen, daß ich mich nie in diese Rätsel eingelassen habe.«

»Was meinen Sie, Herr Pfarrer? Wäre das nicht das geeignetste Studium für unseren Freund? Ich habe gestern mit ihm nachgedacht, womit er sich in seiner Muße beschäftigen sollte.«

Der Pfarrer versetzte bescheiden, es sei das allerdings eine sehr würdige und den Geist tief ausfüllende Beschäftigung; indessen möchte er einem Gelehrten den Gegenstand seiner Studien nicht vorschreiben, sondern denselben ganz seinem eigenen Geschmack überlassen.

Diese Mäßigung hob ihn einige Stufen höher in dem Herzen des Gefangenen, der sich zusammennahm und erklärte, in seiner jetzigen Muße sei ihm die Beschäftigung mit den Hieroglyphen der Apokalypse, in die er bis jetzt nur dann und wann einen neugierigen Blick geworfen, ganz interessant und willkommen, umsomehr, als ihn seine hoffentlich baldige Befreiung doch wieder auf lang, wo nicht für immer denselben entführen werde.

Der Kommandant nahm diese Erklärung wohl auf und versprach, ihm gleich die nötigen Bücher zu verschaffen; doch setzte er mit einem ernsten Blick hinzu: »Sie werden diesen weltlichen Ton, womit Sie von den höchsten Dingen reden, bald genug aufgeben, wenn Sie tiefer in die Geheimnisse Gottes geschaut haben.«

Der Pfarrer sah ihn freundlich an und fragte, ob ihm Bengels apokalyptische Werke denn ganz unbekannt seien; auf der Universität freilich, setzte er hinzu, seien sie ganz und gar verpönt.

Heinrich gestand freimütig, daß er sich nie damit abgegeben habe; ob er übrigens bei der herrschenden Theologie Nahrung gefunden, könne man am besten daraus abnehmen, daß er ihrer Kost entlaufen sei.

Die schönen Augen des Pfarrers schlossen sich bei diesen Worten auf eine eigentümliche Art, und seine Miene drückte Beifall aus. »Ich will Ihnen nicht zureden,« sagte er. »Ihre Zeit auf die Schriften dieses verachteten Mannes zu wenden; aber Sie mögen ihm nun zustimmen oder nicht, bereuen werden Sie in keinem Falle, ihn gelesen zu haben. Mehr will ich nicht vorhersagen.«

»Die Offenbarung,« nahm Rieger das Wort, »ist für einen, der noch keine deutlichen Blicke ins Reich Gottes getan hat, der beste Anfang, und das ganze System, wie es sich ordnungsmäßig durch die heilige Schrift hindurchzieht, läßt sich geschickt daran anknüpfen.« – Er begann nun, dieses System von Erschaffung der Welt bis zum neuen Jerusalem auszuführen, und zeigte dabei eine unglaubliche, aber trockene Kenntnis der einzelnen Bibelstellen. Unser Freund vernahm aus dieser Unterredung die pietistische Lehre im Zusammenhang, er erfuhr, daß die Arbeit des göttlichen Geistes im Christentum, von partikularen Anfängen ausgehend, nach und nach die ganze Welt durchdringen und, das Weltliche aufzehrend, in einem wirklichen Königreich Christi ihre volle Darstellung haben werde; eine Lehre, welche in gewissem Sinne, wenn er sie nicht wörtlich, sondern symbolisch nehmen durfte, seiner eigenen Geistesrichtung entsprach. Er sah wohl, daß es sich diesen Männern gegenüber hauptsächlich um die Frage handle: Was ist weltlich, und was ist christlich? Gegen dasjenige weltliche Element, womit diese Sekte am meisten zu kämpfen hatte, konnte er leicht ihre Partei halten, denn es war ihm und seinen Geistesgenossen ebenso zuwider: dieser Feind war der seiner selbst und seiner Verwandtschaft mit allem Höheren vergessene Geist, der Geist des geringen und vornehmen Pöbels in Staat, Kirche und Gesellschaft, der nicht bloß den Christen, sondern auch den Künstler, den Denker, den Freund der Menschheit ans Kreuz schlägt. Aber er fand, daß ihnen noch gar vieles weltlich und widerchristlich hieß, was mit jenen abgefallenen Elementen keine Gemeinschaft hatte und ihnen nur darum feindselig schien, weil es sein Licht nicht an ihrer Lampe anzündete. »Ich kann es nicht ändern,« sagte er zu sich, »daß meine Richtung einen weiteren Bogen beschreibt, als die ihrige; aber wo wir einverstanden sein können, da will ich mich bereit und zuvorkommend beweisen.«

Die Reden von den letzten Dingen und der Weltherrschaft Christi, da sie einmal angeregt waren, strömten lebhaft fort, und Schubart teilte den Plan zu einem großartigen Gedicht mit, welches die Wiederkehr des ersten aller aufrührerischer Geister schildern sollte. Satan, war der Inhalt, verharrt, nachdem alles sich zu Gott gewendet hat, noch ein Jahrtausend einsam in der Öde, die er mit seinem Trotz und Elend bevölkert, bis auch ihm der stolze Mut endlich gebrochen ist; er erscheint bereuend vor dem Throne des Ewigen, empfängt Gnade, und alle Himmel feiern seine Versöhnung.

Heinrich erklärte diese Idee für höchst anziehend und zweifelte nur an der Möglichkeit der poetischen Ausführung. »Leichter,« sagte er, »würde es sein, das Prinzip des Bösen als den Sauerteig der Weltgeschichte darzustellen, der ein blindes und darum geduldetes Werkzeug in den Händen des allgebietenden Geistes ist. Bei einem solchen Gemälde wäre sogar der Humor erlaubt, als ein treffliches Ferment für dichterische Gestaltung.«

Der Kommandant widersetzte sich mit großer Heftigkeit der von Schubart beabsichtigten Begnadigung des Teufels und rief den Pfarrer zu Hilfe, der jedoch nicht undeutlich merken ließ, daß er unter der »Wiederbringung aller Dinge« auch etwas Ähnliches verstehe. Der humoristische Vorschlag unseres Helden war im Feuer des Gesprächs daneben gefallen, und zwar zu seinem größten Glücke; denn er wäre zweifelsohne mit der Rotte Korah und ähnlichem Gelichter zu einem Schicksal verdammt worden. Schubart aber wurde mit dem ganzen überlegenen Gewicht eines Kerkermeisters zurechtgewiesen, und Sieger verhielt sich gegen diese Teufelsfreundschaft, wie er's nannte, ganz als Soldat, der keinen Frieden mit dem Erb- und Nationalfeind gestattet. Überhaupt hatte seine Frömmigkeit durchaus die Färbung seines Standes, und man sah ihm an, er würde sich am seligsten fühlen, wenn er die gesamte Glaubensarmee in Reih' und Glied beisammen hätte, in feierlicher Parade vor den höchsten Personen das Gewehr präsentierend, von welchem Glanze dann auch wieder, wie sich von selbst versteht, auf die einzelnen Glieder des Korps, und besonders auf die Chargen, ein Strahl zurückgefallen wäre. Heinrich dachte dabei an den Herzog, der, wie bekannt war, von seinen Untertanen den Respekt vor den Schildwachen deshalb verlangte, weil eine solche die Person des höchsten Landesherrn selbst vorstelle.

Und kaum hatte er dies gedacht, als der Kommandant einen neuen Zug militärischer Pedanterie zum besten gab. Es schien, er wollte eine Unterlassung rügen, denn er wandte sich mit der Bemerkung an ihn, daß es sich eigentlich für einen wahren Christen gebühre, bei Nennung des göttlichen Sohnes eine Verbeugung zu machen oder, wenn dies im Freien geschehe, den Hut abzuziehen. »Denn«, sagte er, »die Schrift gebeut, daß in seinem Namen sich beugen sollen und so weiter.«

»Ich kann damit ganz einverstanden sein,« versetzte Heinrich, über das abgebrochene Zitat lächelnd, »doch bin ich überzeugt, daß es eine innerliche Ehrfurcht gibt, welche jede äußere Respektsbezeigung übertrifft, und ich möchte die bescheidene Frage aufwerfen, ob man nicht dem Göttlichen nur eine halbe Ehre antue mit Salutationen, wie sie auch Menschen genießen.«

Der Pfarrer hatte wieder die Augen geschlossen, zum Zeichen, daß diese Meinung ganz nach seinem Herzen sei. Er nahm freundlich das Wort und sagte, es stehe auch in der Schrift, daß man den Sohn ehren solle wie den Vater, und doch nehme vor diesem nach den bestehenden Kirchengebräuchen niemand den Hut ab. Dies beweise, daß Ehrenbezeigungen solcher Art bloße Gewohnheitssache seien, bei welcher man Gefahr laufe, die wahre Ehrfurcht eher zu verlieren.

Er war unserem Freunde so zu rechter Zeit beigesprungen, daß Heinrich den Mann, der ihm und sogar dem Widersacher des menschlichen Geschlechts so große Duldung bewies, mit günstigeren Augen zu betrachten anfing. Er mußte sich gestehen, daß im Wesen dieses Mannes etwas Bedeutendes und Schönes liege. Selten hatte er so viel Zufriedenheit und Ruhe, selten einen solchen Ausdruck von Redlichkeit im Angesicht eines Menschen gefunden, und eben wollte er sich in ein vertraulicheres Gespräch mit ihm einlassen, als ein ärgerlicher Auftritt die ganze Unterhaltung auseinander riß.

Ein Soldat, der nach seinem trotzigen Aussehen nicht zur Glaubensarmee zu gehören schien, trat als Ordonnanz ins Zimmer und brachte dem Kommandanten eine Meldung von einem Subalternoffizier.

Der Oberst wurde blau im Gesicht und schlug auf den Tisch. »Der Schlag möchte mich rühren!« rief er; »kann man mir keinen anderen schicken als diesen Kerl, den ich nicht vor Augen leiden mag?« – Er wandte sich zu der Gesellschaft und sagte: »Das ist der dümmste, verstockteste und unbußfertigste Sünder, den ich in meiner ganzen Garnison habe. Ich kriege einen Schlag, wenn ich den Kerl nicht bald los werd. Seit den paar Monaten, daß er da ist, hat er schon mehr als einen Nagel zu meinem Sarge geschmiedet. Ich weiß nicht, ob er fünfe zählen kann, aber wenn er's kann, so gesteht er's gewiß nicht, so boshaft ist er. Sag einmal, du Hund, kannst du multiplizieren, als zweimal zwei ist vier und so fort? Dreimal drei – wieviel ist's?«

Der Mann, auf dessen wetterhartem finsteren Gesicht wohl ein Alter von fünfzig Jahren geschrieben schien, stand aufrecht da; er öffnete den Mund nicht und bewegte keinen Muskel.

»Wirst du mir sagen,« donnerte der Oberst, »wieviel dreimal drei ist?«

Der Soldat sah ihm starr ins Gesicht, etwas Unheimliches blitzte aus seinen Augen: »Dreimal sechs ist neunzehn,« sagte er kurz und trotzig.

»Was soll das heißen?« rief der Oberst verblüfft, und sein Staunen ging nach und nach in Wut über; »ist das Dummheit oder was anderes? Warum ists neunzehn?«

»Weiß nicht, Herr Oberst.«

»Kerl, wirst du wohl sagen, wieviel dreimal sechs ist!«

Der Soldat schwieg.

»Der Schlag möchte mich rühren! Wirst dus gleich sagen? Bringt mir doch meinen Stock! Ich will dreimal sechs aus dem Hund herausprügeln.« – Er konnte aber die Auflösung der arithmetischen Dissonanz nicht erwarten und rief: »Dreimal sechs ist achtzehn, du Esel, den Gott in seinem Zorn geschaffen hat. Weißt du es jetzt, wie?«

»Wenns der Herr Oberst befiehlt.«

Der Kommandant schnappte nach Luft. »Befehlen sagt man und nicht befiehlt!« rief er voll Unwillen und Verachtung, da ihm die Prärogative der majestätischen Mehrzahl ebenso sehr am Herzen lag, als das Hutabnehmen vor göttlichen Namen. »Befehlen sagt man, wenn man mit seinen Vorgesetzten spricht. Gleich sag's noch einmal!«

»Befehlen!« sagte der Soldat, statt die ganze Phrase zu wiederholen, und es schien, als ob ein höhnisches Lächeln um seine Mundwinkel spielte.

Der Oberst fuhr mit einem Schrei in die Höhe und stürzte auf ihn los. Alles sprang auf. Hahn suchte ihn zu halten; aber Frau von Rieger, die gleich zu Anfang dieses seltsamen Auftritts das Zimmer verlassen hatte und mit einer Schachtel zurückgekommen war, trat zwischen ihn und den Soldaten, eh' er sich an diesem vergreifen konnte. Sie riß einen langen Bart aus der Schachtel und rief: »Siehst du hier das Denkmal, bei dem du mir Geduld und Mäßigung gelobt hast? Siehst du den Bart, der dir auf Hohentwiel gewachsen ist?« – Mit diesen Worten hielt sie ihm die Reliquie dicht vor die Augen. Dieselbe tat Wunder. Der Wütende wandte sich ab und gab lautlos dem Soldaten ein Zeichen mit der Hand; die Gesellschaft rief ihm einstimmig zu, er solle sich fort machen. Der Oberst ließ sich wie ein Kind an die Tafel zurückführen, wo er gebrochen und abgespannt das Haupt auf den Arm stützte. Der Pfarrer von Kornwestheim benutzte diesen Augenblick der Niedergeschlagenheit und hielt ihm eine herzhafte Strafpredigt über seinen Jähzorn. »Wissen Sie auch,« sagte er, »daß Gott die Schwüre seiner Gläubigen erfüllt! Wenn Sie noch einmal sagen, der Schlag solle Sie rühren, wahrlich, wahrlich, so wird's geschehen!«


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