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Mitten im Gesange brach sie ab, legte die Laute hin und rief: »Nun, Poet, ist's an Euch. Öffnet die berühmte Brieftasche und gebt uns was zu hören. Hierher, hierher muß man einen Dichter bringen, ob er die Probe hält.«

Heinrich, überrascht und verlegen, weigerte sich lang, aber sie behauptete ihr Herrscherrecht, und ungern zog er endlich ein Blatt hervor, das er im Dunkel fast ganz aus der Erinnerung lesen mußte. Es sprach die Klagen eines getäuschten Herzens aus, das, durch weibliche Falschheit verwundet, in der ganzen Welt umhersucht, um zuletzt, besänftigt, auf einem gemessenen Selbstgefühl auszuruhen. Sie ließ ihn zu Ende lesen, dann griff sie nach dem Blatt und warf es ins Wasser.

»Weg damit!« rief sie, »es wird kein Donnerwetter machen, denn es ist nicht schwer genug, zu den Geistern hinunterzusinken; der See spült es ruhig wieder ans Ufer aus. Was sind das für Poeten heutzutage, die überall ihren Jammer und ihre Jämmerlichkeit mit hinbringen! Solang ihr in der Natur bloß eure eigenen Lumpen abspiegelt, solang nicht Wald, Fels, Quell, Blumen und Wolken ihre Sprache bei euch finden, solang geb' ich euch kein dürres Laub für all euer Dichten und Trachten.«

»Ich bin kein Dichter,« sagte Heinrich, »und habe mich nie für einen ausgegeben.«

»Komm!« rief das wunderbare Mädchen und netzte ihm die Stirne leicht mit dem Wasser des Sees, »komm, ich will dich zum Dichter weihen! Schau in die Tiefe deiner Seele und finde dort die Sprache, die es ausspricht, was in mir träumt und wogt und mir das Herz zersprengen will. Ich weiß es nicht, ich kann's nicht sagen. Eine Verzauberte bin ich, die ihres Retters harrt. Ja, wenn er käme und spräche das Wort, das meine Rätsel löst, ich müßte mich ihm auf ewig zu eigen geben; wie sanft, wie fromm und stille wollte ich sein!«

Sie blickte schweigend in das Wasser; dann fuhr sie fort: »Meine Seele ist wie dieser See. Tief, tief hinab, aber undurchsichtig, alles dunkel! Unbekannte Wunder in schlummernden Gründen; kein Lichtstrahl dringt dahin, kein Auge wird sie schauen.«

Sie begann bitterlich zu weinen und legte das Haupt auf Tonys Schulter, während ihre Augen, ungetrübt durch den Strom von Tränen, mit einer Innigkeit auf Heinrich ruhten, daß er zu vergehen meinte. Die Jünglinge sahen sich an und wußten nicht, wie ihnen geschah. Das ungewisse Zwielicht machte diese Züge noch wunderbarer und gab ihnen einen herausfordernden Reiz. Tony ergriff eine von den schönen Locken und küßte sie mit glühender Inbrunst; Heinrich hatte eine ihrer Hände gefaßt.

Auf einmal fuhr sie empor, nahm beide an den Haaren und stieß ihnen, nicht eben sanft, die Köpfe zusammen. »Es gibt doch,« rief sie laut lachend, »nichts Plumperes und Täppischeres als die Männer! Ich möchte nur ein Student oder ein Offizier sein, wie artig wollte ich die Mädchen für'n Narren haben!«

Sie schaukelte den Nachen so heftig, daß selbst Tony ein wenig bangte. Er hielt sie fest und beschwor sie, ruhig zu sein. »Der See ist grundlos,« sagte er, »und hat seine Tücken.«

»Bin ich's nicht auch? Hab' ich's nicht auch?« sagte sie.

Heinrich und Tony, zum ersten Male einverstanden, winkten sich zu, ergriffen die Ruder, und bald landete der Nachen an der Feuerstelle, wo die anderen Zigeuner schon schliefen. Das Fräulein schlüpfte oberhalb derselben in eine Felsenwölbung, die gerade gegen den See herunterhing, um unter der Hut der Alten sich auf ein weiches Mooslager hinzustrecken. Heinrich fand noch einigen Raum in der Nähe der zusammensinkenden Gluten; er zog sein weites Gewand fest um sich und warf noch einen Blick auf das ungewohnte Schauspiel des Orts und seiner derzeitigen Bewohner. Unwillkürlich kamen ihm seine Kinderjahre in den Sinn; er dachte zurück, wie ihn seine Mutter immer so sorgfältig ins Bett einmachte und nicht verließ, bis er ihr das uralte Gebet um Schutz wider alle sichtbaren und unsichtbaren Feinde der Christenheit nachgesprochen hatte.

Eben begann der erste Schlummer seine Sinne gefangen zu nahmen, als ein Rascheln ihn aufstörte. Er sah eine Gestalt, die sich über ihn herabbeugen wollte, richtete sich schnell empor und erkannte bei dem Sternenlicht, das aus dem dunkeln Spiegel des Sees mit vermehrter Helle widerschien, seinen Nebenbuhler.

»Gut, daß Ihr noch wach seid,« sagte dieser ruhig, indem er sich neben ihm niederwarf, »ich habe vor Schlafengehen noch ein Wort mit Euch zu reden.«

»Nun?« sagte Heinrich.

»So darf es nicht fortgehen!« eiferte Tony leise, aber immer heftiger werdend, so daß seine Rede zuletzt einem seltsamen Sausen des Nachtwindes durch die Tannen glich. »Meint Ihr, ich hätt' Euch nicht gesehen, vorhin, da ich den Nachen richtete? Bei der Seele meines Vaters! Ich kenne sie schon so lang und bin niemals so frech gegen sie gewesen! Wenn Ihr darum zu uns gekommen seid, um unseren Schutz und unsere Gesellschaft zu mißbrauchen, so sagt's nur gleich. Soll Feindschaft zwischen uns sein, so bin ich auch nicht langsam.«

»Freund Tony vergißt,« erwiderte Heinrich, »daß ich nicht freiwillig hergekommen bin.«

»Ich wollte, Ihr wäret –«

»Ruhig, jetzt ist das Reden an mir! Ich bin ungefragt und mit Gewalt aus dem Bett gerissen worden; also von Schutz und sonstiger Ehre, sowie auch von Mißbrauch des Gastrechts kann zwischen uns die Rede nicht sein. Aber ihr seid die Mehrzahl und habt ein leichtes Spiel mit mir; tut also, was Euer unbändiges Herz Euch eingibt.«

»Still!« rief der junge Zigeuner und faßte ihn an der Schulter; »Tony denkt so rechtschaffen oder rechtschaffener als irgend ein vornehmer Herr. Auch hab' ich Eurem Freund mit einem heiligen Eid versprochen, daß Euch kein Leid geschehen solle, solang Ihr Frieden haltet. Aber heißt das Frieden halten? Das sag' ich Euch, Herr, auf diese Art hat die Freundschaft ein Ende.«

»Da ich ein paar Jahre älter bin,« sagte Heinrich, »so muß ich mein Übergewicht geltend machen. So höre denn, du leidenschaftlicher Sohn des Morgenlandes! Wenn du mich schrecken zu können glaubst, so bist du im Irrtum. Nie werd' ich ein Recht aufgeben! Aber wie? Sind wir denn Jäger, die sich um ein geschossenes Wild streiten? Liegt unsere Beute tot und willenlos zwischen uns? Du solltest es so gut erfahren haben als ich, daß sie nur gar zu viel Willen hat. Wenn du sie liebst, so wirst du ihrem Herzen nicht die Freiheit rauben wollen. Drückt dich die Ungewißheit, so ersuche sie, sich für einen von uns beiden zu erklären; der andere soll sich geduldig fügen. Wie aber, wenn sie vielleicht keinen von uns beiden wählte?« – Der junge Zigeuner sah ihn überrascht an und schwieg. Dann bot er ihm die Hand, sagte ihm gute Nacht und entschlief bald darauf an seiner Seite.

Du übst die alten Zauberlieder,
Du lockst ihn, der kaum ruhig war,
Zum Schaukelkahn der süßen Torheit wieder,
Erneut, verdoppelst die Gefahr.
– Was ich gesollt, hab' ich vollendet,
Durch mich sei dir von nun an nichts verwehrt.
Allein verzeih dem Freund, der sich nun von dir wendet
Und still in sich zurücke kehrt.

Goethe.

Die wunderliche Gefangenschaft unseres Freundes, die zu sehr seinen eigenen Wünschen entsprach, als daß ihre leicht zerbrechliche Fessel ihn nicht manchmal mit Gewissensbissen hätte erfüllen sollen, war in den wenigen Wochen ihrer Dauer innerlich und äußerlich immer drückender geworden. Die Lage der Abenteurer, obgleich an dem zauberhaften, sagenreichen Mummelsee, in dem herrlichen Murgtal, in mancher düsteren, tiefen Schlucht, auf mancher frischgrünenden Aue zwischen hohen, dunklen Waldbergen, an manchem lieblichen Flüßchen, unter dem beständigen Wechsel reizender Szenen, hatte sich höchst bänglich gestaltet. Auf der einen Seite drohte das Gesetz, das, gewöhnlich zwar schlummernd, aber denn doch auch mitunter aufwachend, ihnen unter der Bezeichnung von Vaganten nichts zu schenken versprach, auf der anderen eine unwillkommene Verbrüderung mit echten Landstreichern, die ebenfalls keinen Unterschied und keine phantastische Ausnahme zu statuieren geneigt waren. Diese Begegnungen waren in dem mit Bettlern und Gaunern überladenen Lande häufig und unvermeidlich, so daß der wandernde Hof manchmal sein gebietendes Aussehen mit einem wankenden, kaum noch gastlich geduldeten vertauschen mußte. Tony besaß zwar unleugbare Achtung, die aber eben nur auf der Voraussetzung jener Gleichheit beruhte, und mehrmals war es nur noch Laura, die, wie ein kleiner Held, durch einen raschen Zug von Geistesgegenwart irgend einer schlimmen Wendung der Dinge vorzubeugen wußte. Dieses gefährliche Gehen auf einem unsicheren Boden schien nun aber gerade ganz nach ihrem Geschmack zu sein, und mit Warnungen war ihr nicht beizukommen. Desto sehnlicher begann Heinrich zu wünschen, es möchte ein mächtiger Arm von oben dreingreifen und dem wundersamen Unwesen ein Ende machen; er wußte aber wohl, daß der Herzog, abgesehen von anderen Rücksichten, viel zu sorgen gehabt hätte, wenn er das Schicksal aller, die ihn näher angingen, täglich und stündlich hätte überwachen wollen.

Wir finden unseren Freund auf einem Mauerstück eines verlassenen nach und nach zerfallenden Schlößchens, in der Nähe eines Weilers, wo der unstete Hof seit einigen Tagen sich gelagert hat, bei Tag unter einem gewölbten Torweg siedelnd und kochend, zur Schlafenszeit in einer mit Teppichen ausstaffierten Bauernscheune untergebracht. Seine Blässe läßt fürchten, daß seine Gesundheit noch immer nicht ganz zurückgekehrt sei, was auch bei dem freien obdachlosen Leben, im Wechsel von Sonne, Frost und Frühlingsschauern nicht zu verwundern ist. Der nüchterne Ausdruck seiner Augen verrät deutlich den Zustand seines Gemüts. Wie ihn die Träume, die ihn sonst nächtlich zu besuchen pflegten, auf den ungewohnten Nachtlagern ganz verlassen haben, so ist auch bei Tag der träumerische Duft, der ihm sonst die Bilder der Welt überhauchte, von seinen Augen verwischt.

Und doch hätte der enge Talgrund, den die Brustwehr des Gemäuers beherrschte, einen freundlicheren Blick verdient. In sanfter Biegung um den Vorsprung des Schlößchens sich windend, von mäßigen Tannenhügeln eingefaßt und mit einem Schritt beinahe zu durchmessen, atmete das Tälchen die heimlichste Einsamkeit und hatte nur eben noch Platz für ein Bächlein, das murmelnd über bunte Steine hüpfte. An die gegenüberliegende Anhöhe etwas rückwärts gelehnt und eben jetzt ins Gold der Abendsonne getaucht, lag ein stiller Hof, der Vorläufer von vielen anderen, die sich dort nach Süden zu auf der Hochebene versammelt haben.

Ein warmer Frühlingsabend, wohltätig und belebend für die alte Mutter Erde und ihre verstörten Kinder, brütete auf der Gegend. Heinrichs Auge, gleichgültig in Gesträuch und Mauertrümmern umherspähend, entdeckte ein paar Märzveilchen, welche schüchtern aus dem Schutt hervorlugten. Er betrachtete sie mit nachdenklichem Blick und dachte an einen Sonntagmorgen, an ein Wiesentälchen und an ein paar dieser Frühlingskinder, die dort für ihn gewachsen waren; an das Mädchen, das sie ihm gab, hätte er lieber nicht gedacht, aber er konnte es nicht verhindern. »Stünde noch alles wie damals,« sagte er, »es stünde doch besser! Aber es muß anders werden.«

Er war von einem weiten Gang durch Wald und Feld zurückgekommen und hatte einen Entschluß im Herzen mitgebracht.

Manches hatte sich geändert seit der Fahrt auf dem Mummelsee. Unser Freund, weder für das Zigeunerleben, noch für Laurens stets bewegliches, quecksilberiges Gemüt geschaffen, stand seinem braunen, gewandten Nebenbuhler an erfinderischen Einfällen, an ewig reger Unterhaltung, wenn auch oft nur durch Taschenspielerkünste, nach; er hatte sich in einen ungleichen Kampf auf ungeeignetem Boden eingelassen und mußte es mit ansehen, wie die Wage sich immer mehr auf Tonys Seite neigte. Fürwahr ein Höllenzustand bei so engem, beständigem Zusammensein; auch vermochte er seine Gefühle nicht immer zu verbergen, und dies trug ihm gleichfalls keinen Gewinn. Die wenigsten Rosen aber brachte ihm die aufgedrungene Rolle, deren Pflichten er treulich erfüllte; denn im Rate der verwegenen Torheit den Warner und vorsichtigen Kanzler zu machen, ist zwar immer rühmlich, nie aber sehr dankbar gewesen. Ob nicht Eifersucht und eine unbequeme, oft verwünschte Lebensart dazu beitrugen, sein Pflichtgefühl lebendig zu erhalten, mag dahingestellt bleiben; aber gewiß ist es, daß seine Warnung immer stärker, seine Widerrede von Tag zu Tag schneidender wurde. Es fehlte nicht an Veranlassungen dazu, denn nicht nur die Begegnung mit anderen Banden war gefahrvoll, sondern auch in der eigenen kleinen Truppe wurden die Verhältnisse locker und schwierig. Tony hatte von seinem ganzen Anhang nur die Alte und Feddricho, eines der Mädchen, zuverlässig an seine Gebieterin fesseln können; bei den anderen war der erste Reiz der Neuheit bald vorüber, sie gingen ab und zu, und niemand durfte sie fragen. Wie sie ihren Unterhalt erwarben, war kaum zweifelhaft und stand in einem übeln Gegensatze zu dem stolzen Hofhalt, an welchem Tony das Amt eines Schatzmeisters ehrenhaft verwaltete; und als dieser einst, erbittert durch eine gegründete Bemerkung Heinrichs, jenen stämmigen Zigeuner, der unserem Freunde in der Felsenschlucht Beistand geleistet hatte, scharf zurechtwies, so zeigte es sich, daß sein Ansehen keineswegs so unumstößlich war, als er wohl selbst geglaubt haben mochte. Auf eine trotzige Antwort seines Vasallen rief der junge Häuptling zornig: »Weißt du nicht, Duly, daß du mir zu gehorchen hast?« – »Es ist eine schlechte Erfindung,« erwiderte Duly, »wenn man zwei Herren hat; ich kenne nur einen, dem ich gehorche.« – Auf dieses war er fortgelaufen und hatte sich erst nach mehreren Tagen, scheinbar versöhnt, wieder blicken lassen. Da nun eben um diese Zeit der bare Geldvorrat auf die Neige ging und just kein anderer Unterhändler in der Nähe war, so vertraute ihm Tony eine von Lauras Schmucksachen, mit dem Auftrag, sie in den Weingegenden zu verhandeln und das gelöste Geld alsbald zurückzubringen. Zugleich schlug er, das Mißliche seiner Lage fühlend, dem Fräulein vor, in ein anderes Land zu gehen und dadurch alle dergleichen Gefahren und Verlegenheiten abzuschneiden. Laura ergriff diesen Gedanken mit Freuden, fügte aber die sehr unerwartete Bedingung hinzu, daß Heinrich mitgehen müsse. Dieser, so freundlich ihn eine solche Aufforderung hätte überraschen sollen, antwortete mit einem unumwundenen Nein! Er mochte lebhafter als jemals empfinden, daß ihr Herz gegen beide schwieg und daß sie darum keinen von beiden, eben um des anderen willen, entbehren konnte; auch sah er durch eine solche Flucht die ohnehin nachgerade schmal gewordene Grenze überschritten, welche Ehre und Gewissen ihm vorschrieben. Die Gründe seiner Weigerung, sagte er kurzweg, lägen so offen am Tage, daß er sich die Mühe ersparen könne, sie auseinander zu setzen. Diese Erklärung wurde sehr übel aufgenommen und brachte das seltsame Kleeblatt in ein noch seltsameres Verhältnis als je zuvor. Tony hätte sich freuen sollen, seinen Nebenbuhler zurückzulassen, und statt dessen war er genötigt, alles Ernstes mit Bitten in ihn zu dringen, da er sich immer mehr zu verwickeln fürchtete. Heinrich konnte seine Warnungen und Strafpredigten nicht mehr auf die gewöhnliche Weise schließen, da er das einzige Mittel sie zu befolgen, das den beiden anderen gut schien, nicht zu ergreifen vermochte. Laura schmollte und widersetzte sich wie ein verzogenes Kind der herben Arznei, die er ihr bot. Sie quälte ihn offen und grausam, indem sie Tony mit Liebkosungen überhäufte, und doch konnte dieser es nicht erlangen, daß sie allein mit ihm weitergeflohen wäre. Die beiden Nebenbuhler standen sich wie gefesselt gegenüber und schoben sich gegenseitig die Schuld der verworrenen Umstände zu. Als nun Duly nicht zurückkehrte und die Verlegenheit stieg, so brach eines Abends in Lauras Abwesenheit ein heftiger Wortwechsel zwischen ihnen aus. Heinrich warf seinem Gegner die Unbesonnenheit, einem so zweideutigen Menschen zu trauen, den unverantwortlichen Leichtsinn seines ganzen Unternehmens vor, und das umso schneidender, je mehr es ihm schien, als ob jener auf eine unedle Weise seinen Vorteil gegen ihn mißbrauchte. Tony war umso bitterer, je mehr er fühlte, daß die Anklage gegründet sei. Keiner blieb dem anderen etwas schuldig, und am Ende erklärte Tony, mit der Gefangenschaft sei es nicht so ernstlich gemeint, und wenn es ihm hier mißfalle, so werde man ihn nicht am Davonlaufen verhindern. – »Wenn der vermaledeite Narrenmantel nicht wäre,« rief Heinrich zornig, »so fiele ich euch schon längst nicht mehr zur Last!« – »Weiter nichts als das?« sagte Tony und war verschwunden.

Als Heinrich am folgenden Morgen erwachte, wunderte er sich nicht wenig, seinen wohlbekannten bläulichbraunen Rock neben sich zu finden. Er war aufs sauberste gebürstet, und unser Abenteurer begrüßte das Kleidungsstück wie einen längstentbehrten Freund; er zog es sogleich an, steckte die Brieftasche an den gewohnten Platz und warf den Talar weit von sich. Tony trat lachend zu ihm und machte sich über das neue Schloß an der Haustüre des Pfarrers lustig. – »Wie?« rief Heinrich, dem nun erst ein Licht aufging, »wohnt er denn so nahe?« – »Freilich!« versetzte Tony und beschrieb ihm deutlich Weg und Entfernung, mit einer Absicht, die jener nur zu wohl empfand. »Das Stückchen hat mich nicht viel mehr als eine halbe Nacht gekostet und ist gewiß der ehrlichste Diebstahl, den je ein Zigeuner beging!« fügte er hinzu, indem er ihm an eine seiner Taschen klopfte, wo es metallisch klang. – Heinrich zog seine Börse heraus und zählte auf der Stelle eine Summe, mehr als hinreichend für ein Kostgeld, ab. – »Ich würde es nicht nehmen,« sagte Tony ruhig, »wäre es nicht um des Fräuleins willen; aber Ihr wißt selbst, daß ihre Kleinodien für den Augenblick wenig helfen. Sie wird sich's nicht nehmen lassen, Euch das kleine Darlehen mit der Zeit wieder zu erstatten.« – Heinrich machte eine abwehrende Gebärde und ging. Laura schlief noch; er konnte es nicht über das Herz bringen, sie ohne Abschied zu verlassen, und schweifte indessen in Feldern und Wäldern umher, immer den Ort umkreisend, der denn doch seinen Magnet enthielt. Unterwegs reute es ihn, seinem Stolze nachgegeben und Mittel zu Zwecken dargeboten zu haben, die er ja auf jede Weise bekämpfen wollte; aber es war nicht mehr zu ändern. Nun besann er sich, was er unternehmen solle. Das Klügste schien ihm, zu Matthäus zurückzukehren, an den Herzog zu schreiben, ihm den Verlust seiner Vollmacht und seine bisherigen Schicksale zu berichten und um neue Vorschriften zu bitten, indessen aber abzuwarten, was die Gunst der Stunden ihm bringen würde. Mit wechselnden Gedanken hielt er sich den ganzen Tag in jenem Zauberkreise fest; das eine Mal sagte er sich vor, daß seinem widerspenstigen Schützling keine unmittelbare Gefahr drohe, daß er selbst vielleicht am unentbehrlichsten werde, wenn er sich eine Zeitlang vermissen lasse; dann aber malte er sich wieder ihre bedenkliche Lage aus und fragte sich, ob er es im Ernst wagen dürfe, ihr seine Begleitung zu entziehen. »Nur nicht zu rasch!« sagte er, indem er Abends zurückkehrte, »nur nicht empfindlich abgebrochen! Nur aus falschem Ehrgefühle nichts übereilt!«

Er kam zum Schlößchen, ging durch die Ruine und setzte sich auf das vorspringende Mäuerchen, wo wir ihn bereits aufgesucht haben. Hier aber überfiel ihn die Erinnerung an alle seine vermeintlichen Kränkungen so lebhaft, daß er die soeben gefaßten Vorsätze wieder vergaß. »Nein!« rief er, »so darf es nicht bleiben. Solche Innigkeit und solche Falschheit, wie ist es möglich, daß sie in einem Wesen beisammen wohnen? Sie hat keine Seele! Was uns die Märchen von Eidechsen, von Schlangen erzählen, die ein vorübergehender Zauber in Menschen verwandelte, das paßt auf sie! Ein Tor, wer sich um ihretwillen verzehrt!«

Während er noch sprach, kam der Gegenstand seines schmerzlichen Zornes durch den Torweg langsam auf ihn zugeschritten. Das Fräulein trug noch immer die Knabentracht, die sie so wohl kleidete, und wenn auch ihre Toilette, dank den Bemühungen der beiden Zigeunerinnen, von der in der Ecole wie in der Akademie unerläßlichen »Propreté« weit abwich, so war sie doch geputzt wie ein Engel, und aus den bunten Lappen, womit sie launisch wechselte, aus dem phantastischen Haarbau trat immer das Adelige ihrer Erscheinung hervor. Sie setzte sich zu ihm, ohne ein Wort zu sagen, und blickte ihm ins Gesicht.

»Nein, Laura!« rief er heftig, »nicht diesen Ausdruck von Innigkeit! Ich verdiene ihn jetzt nicht, und er kann nur meine Flucht beschleunigen.«

Sie erbleichte. »Was soll das heißen?« rief sie. »Wie? Und dieses Kleid?«

»Ist mir von dem Treusten Ihrer Treuen übergeben worden, als Zeichen meiner Freiheit.«

»Das war eigenmächtig von Tony! Das hab' ich ihm nicht befohlen.«

»Gleichviel!« entgegnete er, »ich bin frei und darf nicht länger an diesem Possenspiele teilnehmen.«

»Mein Freund ist böse?« sagte sie und versuchte es mit einem Scherze, »ich bekenne, ich bin allzu rücksichtslos gegen Eure Poesie gewesen. Es war unzart von mir, so lang nicht danach zu fragen. Vergebt und lest mir zum Zeichen Eurer Versöhnung etwas vor.«

Er sprang tief gekränkt von dem Sitze auf. »Womit hab' ich diese Mißhandlung verdient?« rief er. »Doch nein, kein Spott soll mich abhalten, Sie in mein Herz blicken zu lassen, wie es früherer, schönerer Stunden gedenkt. Sie waren eine Weile so himmlisch gut. Das ist nun vorüber.«

»Nur heraus damit!« sagte sie unbefangen lächelnd.

»Es ist nichts zum Vorlesen. Wenn Sie dieses Blatt erhalten sollen, und Sie werden es bald erhalten, so dürfen wir nicht mehr beieinander sein; denken Sie dann während jeder Zeile, daß mein Fuß sich weiter von Ihnen entfernt.«

Sie schien seine Worte nicht recht zu hören oder nicht zu glauben und sah ihm unverwandt mit dem reizendsten Lächeln in die Augen.

»Fürchten Sie keine Klagen von mir hören zu müssen,« fuhr er fort, »aber lassen Sie auch jene Augensprache verstummen, die, übelberechnet, wenn Sie meiner Eitelkeit gelten soll, einen treuen Freund nur verwirren und verletzen kann. Sie haben mich manchmal ausbleiben sehen, tagelang, Sie wußten, daß Sie mich außer stande gesetzt hatten, zu Menschen zu gehen, daß ich einsam in dichten Wäldern blieb, und dennoch schienen Sie über meine frühe Rückkehr gleichsam verwundert zu sein. Werden Sie also, können Sie sich wundern, wenn ich einmal gehe und nicht wiederkomme?«

Die anmutige Leichtfertigkeit, welche sie nach schnell unterdrücktem Schrecken seinem Ernst entgegensetzen zu können gemeint hatte, wich einem zweifelnden Ausdrucke. »Sie werden doch« – begann sie.

»Nein, reden Sie nicht!« unterbrach er sie, »ich werde meine Pflichten gegen Sie nicht vergessen. Wenn Sie meiner benötigt sind, in dem Hause, aus dem Sie mich krank entführen ließen, werden Sie mich finden, gesund, voll guten Willens für Sie. Fragen Sie nicht, wann ich gehe, lassen Sie uns diesen Augenblick nicht länger durch unnützes Reden entweihen.«

Sie sprang auf und griff nach seiner Hand. Er drückte sie sanft auf den Sitz zurück, sah ihr noch einmal herzlich in die Augen und verließ den Ort mit raschen Schritten. Sie rief ihm nach, mit einem Ton, als ob sie erst jetzt an die Möglichkeit seines Entschlusses glaubte. Er hielt nicht an, auch ging er nicht langsamer, doch trat er leiser auf, um zu lauschen, ob sie ihm nicht folge, und zuletzt sah er, ohne stehen zu bleiben, flüchtig zurück. Sie kam nicht, und nun setzte er seinen Weg umso entschiedener fort.

Aus nahen und fernen Tälern dampften die Waldnebel empor. Die Sonne sank in trübe Wolken, die am westlichen Horizont heraufgestiegen kamen. In dem Weiler, durch den der Weg ihn führte, winkte er vom Fenster ein kleines Mädchen herab, welches gewöhnlich Milch und Lebensmittel nach der Ruine trug. Er schenkte ihr ein paar Münzen, gab ihr jenes versprochene Blatt für Lauren und verzeichnete eilig auf einem anderen den Weg nach dem Pfarrhause seines Freundes; hier, trug er dem Kinde auf, werde er zehn Tage auf die Befehle des Junkers warten. Er hieß sie den Auftrag sogleich ausrichten und ging weiter.

Eine Viertelstunde mochte er gegangen sein, als er in einiger Entfernung Tony erblickte, der an einer einzelnen, halbverdorrten Fichte lehnte und mit Bestürzung, ja mit Entsetzen seitwärts in die Gegend hinaussah. Heinrich wollte auf ihn zueilen, aber als er seinen Blicken folgte, unterließ er es. Er sah eine junge Dirne leicht und flink von einer Anhöhe herunterschreiten; sie schien hübsch zu sein, und helle Locken umflogen sie, obgleich sie die bunte Tracht der Zigeuner trug. Sie mußte Tony bemerkt haben und winkte schon von weitem. »Sonst nichts?« dachte Heinrich, »Freund Tony mag wohl ein Schätzchen verlassen haben, das ihm jetzt unversehens über den Hals kommt.« Einen Augenblick fiel es ihm ein, welche gute Gelegenheit das wäre, seinem Nebenbuhler das Feld abzugewinnen. »Nein,« rief er unwillig, »das steht mir nicht an! Fräulein Laura mag zusehen. Wenn sie hilflos ist, so weiß sie, wo sie Hilfe finden kann. Und ohne sich noch einmal umzusehen, beflügelte er seine Schritte.

Während aber, wie er sagte, sein Fuß sich immer weiter entfernt, kehren wir zurück, um das Fräulein zu belauschen, wie sie, den Kopf auf den Arm gestützt und die hellen Tränen in den Augen, jenes hinterlassene Denkmal eines treuen Herzens betrachtet.


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