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Verwundert und bang drückte Heinrich auf das Schloß und die Türe sprang auf. Eine erstickende Hitze drang ihm entgegen; er erblickte einige Männer von großem Wuchs, in schmutzigen Wämsern und grauen mit eisernen Haken vorgesteckten Schürzen; ihre rauhen Gesichter bekamen durch den Schein des Feuers einen wilden und beinahe furchtbaren Ausdruck, mit dem aber das Tun, in welchem der Fremde sie überraschte, einen seltsamen Widerspruch bildete: sie hatten die Hände, die in ungeheuren Handschuhen ruhten, andächtig ineinander gelegt und blickten wie in stillem Gebet vor sich nieder. Bei dem Eintritt des ungeladenen Zeugen wandten sich ihre Blicke finster und drohend gegen ihn, und Heinrich wollte schon verlegen zurücktreten, als die ihm zunächststehende Gestalt, die ihm bisher den Rücken gewandt hatte, sich gegen ihn kehrte: es war der Bürgermeister. Die Miene des wackeren Mannes nahm einen Ausdruck großer Überraschung an, und er war offenbar einen Augenblick unschlüssig, was er tun sollte; ehe er aber auf den Ankömmling zugehen konnte, legte dieser seine Hände ebenfalls zusammen und blieb unbeweglich an der Türe stehen. Der Bürgermeister nickte ihm sehr freundlich zu und behielt seine vorige Haltung.

Nun hatte unser Abenteurer Zeit zur Beobachtung; er gewahrte, daß die zyklopischen Männer um eine viereckige aus Backsteinen und großen Ziegeln fast bis an die Höhe des Gewölbes geführte Masse standen, durch deren Lücken der Schein eines mächtigen Feuers drang und aus der ein glühender Strom dampfend in den Boden schoß. Einer so großen Hitze ungewohnt, glaubte er sich in einem Vulkan zu befinden, er fühlte Flammen im Gesicht, und von seiner Stirne floß der Schweiß in dicken Tropfen herab. Endlich versiegte der Feuerstrom; die Gruppe der Betenden löste sich auf, und der Bürgermeister trat ihm mit einem herzlichen Willkommen entgegen. Heinrich bat um Entschuldigung, daß er ihn in einer, wie er sehe, jedenfalls wichtigen Beschäftigung gestört habe, und berichtete, wie er samt seinem Rosse durch den Torwart auf eine sehr umständliche Weise hier einquartiert worden sei. Der Bürgermeister bezeugte seine lebhafte Freude darüber und rief sogleich nach einer Magd, der er Befehl gab, das Pferd zu versorgen. »Man sagt zwar,« fügte er hinzu, »daß es Unheil bringe, wenn ein Fremder unerwartet zum Guß einer Glocke komme, aber es ist ein Aberglaube, und diesmal trifft's auf keinen Fall ein, denn ein Gesicht wie Ihr's kann kein Unheil bringen.« – Damit schüttelte er ihm kräftig die Hand.

»Wie? eine Glocke ist hier gegossen worden?« rief unser Freund neugierig und fragte sich im stillen, ob wohl diese Verrichtung zu den Prärogativen eines Reutlinger Amtsbürgermeisters gehören möge. »Das ist mir sehr merkwürdig, es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich so etwas sehe.«

»Das glaube ich gern!« sagte der Bürgermeister lachend, »es ist ein Zunftgeheimnis, zu welchem niemand zugelassen wird, und Sie verdanken dieses Recht nur dem Zufall, daß meine Gesellen die Türe offen gelassen haben; durchs Vorderhaus hätten Sie nicht hereinkommen können. Jetzt müssen Sie aber der jungen Glocke zu Gevatter stehen und eins auf ihre Gesundheit trinken! Eigentlich ist es mit dem Taufen nicht so ernsthaft gemeint, das ist längst aus der Mode gekommen, und wir halten nur noch einen Umtrunk, wenn wir mit dem Guß zu stande sind; doch haben die Gesellen diesmal zum Spaß der Glocke einen Namen gegeben – sie heißt Margareta, nach meiner Tochter. die soeben hier mit dem Weine kommt.«

Heinrich wandte sich schnell und begrüßte eine reichsstädtische Schönheit, die auch einer anderen Heimat Ehre gemacht haben würde und in ihrem knapp über der Brust anliegenden Wämschen, langen Rock, mit einem Häubchen, dessen Flor wie lange schwarze Wimpern über die Augen fiel, und einer Granatenschnur um den Hals ganz allerliebst vor ihm stand. »Gretle, bring's dem Herrn Vetter!« rief der Bürgermeister, das schöne Mädchen schenkte aus einer zinnernen Flasche einen Becher von gleichem Metall voll, setzte ihn einen Augenblick an die Lippen und reichte ihn dann mit einem verlegenen Knicks dem Fremden, von dem er durch die Hände des Bürgermeisters zu den Gesellen wanderte.

Als die Zeremonie zu Ende war, wurde der Gast zwei ziemlich steile und enge Treppen hinauf, über einen mit Ziegeln gepflasterten Estrich, in ein getäfeltes Zimmer geführt, wo über dem altväterischen Kachelofen, den eichenen Tischen und an der Wand festgenagelten Bänken die heimlichste Behaglichkeit wohnte. Auf einer dieser Bänke wurde unserem Helden sein Platz angewiesen. »Setzen Sie sich dort in die Ecke, in den Trutzwinkel,« sagte der Bürgermeister: »da kann man sich bequem anlehnen.« – Heinrich befolgte diesen Rat, und alsbald wurden Erfrischungen vor ihm aufgetragen, welche sehr einfach waren und bloß in Brot und dem eingekochten Saft von Birnen und Zwetschgen bestanden; das Geschirr war sämtlich von blankem Zinn. Die Gesellen kamen jetzt auch herauf, um den außergewöhnlichen Vespertrunk auf ihre anstrengende Arbeit fortzusetzen; sie nahmen nicht Platz, sondern schritten langsam und unbehilflich dem Ofen zu, wo sie, an Wandschränke angelehnt, stillschweigend den Becher unter sich kreisen ließen. Heinrich betrachtete erstaunt die herkulischen Gestalten. Mit besonderem Wohlgefallen aber verweilte er auf seinem Gastfreunde, den er daheim völlig verändert fand. So plump und eckig diese Gestalt in dem unpassenden Staatskleid erschienen war, so würdig nahm sie sich in der schlichten Handwerkstracht aus, und über dem bequemen Wams ruhte ein silberhaariger Greisenkopf, dessen edle unschuldige Züge an jene von der Frömmigkeit entworfenen Bilder der Erzväter mahnten.

Nicht lang, so wurde ein Glöckchen vor dem Fenster angezogen. »Ah, da kommt der Gevatter Syndikus!« sagte der Bürgermeister. »Sie werden es nicht übel aufnehmen, daß ich ihn gebeten habe, Ihnen Gesellschaft zu leisten; die gelehrten Herren werden sich unter uns unwissenden Leuten doch besser befinden, wenn sie zu zweien sind.«

Die Türe ging auf, und der Genannte trat ein, von einer Magd mit einer Laterne begleitet. Er war ein stattlicher Mann, den die Gelehrsamkeit nicht gehindert hatte, ziemlich beleibt zu werden, während sie sich mit ein paar tiefen Falten im Gesichte begnügt zu haben schien; Perücke und Degen gaben ihm einen feierlichen Anstand. Er wurde vom Bürgermeister als Herr Gevatter und von Gretchen als Herr »Döte« begrüßt, wandte sich jedoch sogleich zu dem Fremden und redete ihn lateinisch an. Heinrich rief zu den Geistern Ciceros und Quintilians, denn er sah, daß er von seinen Wirten neugierig beobachtet wurde. Der gute Bürgermeister aber hörte seelenvergnügt auf die gelehrte Spiegelfechterei, stieß ein Mal übers andere den jungen Gast an und flüsterte: »Er macht sein Sächlein gut, mein Gevatter; ja, der hat was gelernt.«

»Wisset Ihr eine Neuigkeit, Herr Gevatter?« begann der Syndikus deutsch. »Im Wildpark bei Urach sind vergangene Nacht zwölf Futterhütten auf einmal abgebrannt; es ist ein großer Lärm, aber der Täter hat keine Spur hinterlassen, und ich zweifle, ob man ihn entdecken wird.«

»Den verrät keiner!« sagte der Bürgermeister.

»Hat man dort so große Ursachen zum Unwillen?« fragte Heinrich.

»Das will ich meinen!« erwiderte jener. »Zu Tausenden geht das Wild zwischen den Uracher Bergen herum und läßt keinen Halm aufkommen. Sie wagen sich auch auf unser Gebiet, aber wir schießen sie brav weg,« setzte er mit republikanischem Stolze hinzu.

Gretchen trat zu ihrem Vater und sagte ihm etwas ins Ohr. »Wenn's dem Herrn Vetter gefällig wäre,« unterbrach sich dieser, »das Essen ist fertig!« – Nun wurde schnell der Tisch gedeckt, der Syndikus nahm unter vielen Komplimenten und Weigerungen seinen Platz an Heinrichs Seite ein, die Gesellen und eine alte Magd gehörten ebenfalls zur Tischgenossenschaft und setzten sich herbei. Heinrich, dem schon zuvor jene vertrauliche Benennung aufgefallen war, wandte sich an das ihm so unvermutet zu teil gewordene Bäschen mit der Bitte, ihm zu erklären, wie er zu der Ehre komme, ihr Vetter zu sein. Gretchen sah ihren Vater verlegen lächelnd an, aber Heinrich hatte seine Frage bald zu bereuen, denn das rechtsgelehrte Mitglied des reichsstädtischen Magistrats nahm mit einem: »Das will ich Ihnen gleich sagen!« das Wort, erkundigte sich genau nach seinen Familienverhältnissen und entwickelte nun eine genealogische Abhandlung, so lang wie das Tischtuch, infolge deren unser Held erfuhr, daß er durch ein Glied dieser Familie, welches vor fünfzig Jahren im Auslande, das heißt in Württemberg, Pfarrer geworden war und eine Stieftochter hinterlassen hatte, die den Schwager eines Geschwisterkindes seiner Großmutter geheiratet, wirklich und förmlich ein Verwandter des Hauses geworden sei. Er mußte auf dieses freudige Ergebnis anstoßen; um die Unterhaltung auf einen anderen Punkt zu lenken, erteilte er dem Wein einige Lobsprüche, obgleich er ihn bis jetzt, ohne seinem Geschmack eine eigentliche Aufmerksamkeit zu erweisen, also, wie man sagt, ohne Verstand getrunken hatte; ein unglücklicher Einfall, der ihn vom Regen in die Traufe brachte.

»Sie finden also unseren Wein doch nicht so schlecht, wie man ihn in Stuttgart machen will?« rief der Bürgermeister.

»Ist es Reutlinger Wein?« fragte Heinrich und erwachte, indem er nach dem Glase griff, aus seiner Zerstreuung. »Wahrhaftig, ich habe ihn für Unterländer getrunken.«

Dem Bürgermeister tat dieser schmeichelhafte Ausspruch in allen Gliedern wohl. »Da sieht man doch, wer's mit der Wahrheit hält!« rief er triumphierend, indem er seinem Gaste das Glas bis an den Rand vollschenkte. »Sie haben gewiß keinen schlechten Geschmack und lassend doch gelten, daß an der Achalm auch mitunter ein gutes Tröpflein wächst.«

»Mehercle!« rief der Syndikus, der indessen dem Becher tüchtig zugesprochen hatte. »Es ist horribile dictu, welche calumniae über unsere Gottesgabe in Württemberg verbreitet werden, wo man sogar ohne zu erubescieren behauptet, bei unseren Herbstfestivitäten fallen viele calamitates vor, indem die unvorsichtige Jugend oft Traubenbeeren in die Pistolen lade und mit diesen ob eximiam duritiem gleichwie mit Kugeln einem und dem anderen Menschen letale Verletzungen beibringe.«

»Letzten Herbst,« nahm der Bürgermeister das Wort, »war einer von Stuttgart hier zu Besuch; der betrank sich dergestalt, daß er sich Nachts statt ins Bett über eine Truhe legte, auf welcher Trauben gespreitet waren. Der Unflat behauptete nachher, er habe blaue Mäler am ganzen Leibe bekommen und die Trauben seien hart geblieben; aber es ist nicht wahr; die Trauben waren alle zerquetscht, und der Saft schwamm auf dem Boden herum.«

»Das Ärgste,« sagte unser Freund unvorsichtig, »was der Volkswitz über Ihren Wein aufgebracht hat, ist die Geschichte vom Prinzen Eugen.«

»Die kenn' ich nicht!« versetzte der Bürgermeister.

»Ich bin begierig!« rief der Syndikus.

»Prinz Eugen soll nicht lang nach Beendigung seines türkischen Feldzuges eine Reise nach Süddeutschland gemacht haben und bei dieser Gelegenheit nach Reutlingen gekommen sein. Der Magistrat, um die glorreichen Verdienste des Helden zu feiern, sei ihm in Prozession entgegengezogen und habe ihm einen silbernen Becher voll Weins zum Willkomm geboten. Prinz Eugen habe einen guten Schluck davon genommen, ihn aber mit einem sauren Gesicht wieder abgesetzt und geschworen, lieber möchte er Belgrad noch einmal erobern, als einen ganzen Becher dieses Weins austrinken.«

Der junge Mann kannte die Luft nicht hinlänglich, in der er sich befand; diese Art, ein leichtes Spiel mit Lokalspäßen zu treiben und einen heiteren Witz selbst an dem Gegner anzuerkennen, fand hier keinen Anklang, und er bemerkte mit einigem Schrecken, daß er, wie man sagt, in ein Wespennest gestochen hatte. Es entstand eine Aufregung an dem Tische; die Gesellen murmelten drohend durcheinander, Jungfer Gretchen riß hastig ihre Florhaube herab und setzte sie langsam wieder auf; die beiden alten Herren schienen sich miteinander zu streiten, wer zuerst das Wort haben sollte, bis es dem Syndikus gelang, den sonnenklaren Beweis zu führen, daß besagtes Geschichtchen ein inane commentum, ein schlecht ersonnenes Machwerk sei, »sintemal und alldieweilen Eugenius princeps gar nie allhier gewesen, in welchem Fall,« fügte er hinzu, »doch auch unsere Annales eines so memorablen Ereignisses gedenken müßten, als welches sie jedoch unterlassen – silentium omnium scriptorum – wiewohlen der große Eugenius sich gar nicht hätte schämen dürfen, eine Stadt zu besuchen und ihre Hospitalität zu genießen, quam multi visere principes atque imperatores dignavere! Fürsten und Kaiser haben uns besucht, von den Hohenstaufen an, qui moenia nobis et civitatem dedere, bis auf den glorwürdigen Maximilianum herab, wie solches mein Vater selig in seiner umständlichen Relation de Reformatione der Stadt Reutlingen amplius berichtet.«

Während der Syndikus Atem schöpfte, brach nun auch der Bürgermeister los und sagte seine Meinung auf gut deutsch, so daß der betretene Gast, der sich halb als Mitschuldigen behandelt sah, nichts Besseres zu tun wußte, als dem Weine seines beleidigten Wirtes tätliche Abbitte zu leisten, was seine Freunde in kurzem vollkommen mit ihm aussöhnte. Aber je mehr er trank, desto mehr wurde ihm zugesprochen, und da er sich gegen diese Nötigungen bereitwillig erwies, so wird wohl von dem aufrichtigen Gemüte unseres Freundes angenommen werden dürfen, er habe dem Weine des Bürgermeisters nur Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Dieser, der schon einige Zeit mit einer Frage gekämpft hatte, sprach die Hoffnung aus, sein Gast werde ihm das Vergnügen auf mehrere Tage schenken. Heinrich erwiderte, seine Geschäfte versetzen ihn in die unerwünschte Notwendigkeit, schon morgen mit dem frühesten einem so gastfreundlichen Hause Valet zu sagen. Gegen diese Notwendigkeit wurden bescheidene Zweifel erhoben, bis der junge Mann endlich mit dem offenen Geständnis herausrückte, es sei ein Auftrag seines durchlauchtigsten Herzogs, der es ihm möglich gemacht habe, den versprochenen Besuch in Reutlingen so bald abzustatten, ihn aber zugleich zwinge, seine Reise schleunigst fortzusetzen. Als ihm der Bürgermeister mit einer liebenswürdigen Neugierde auf mancherlei Umwegen das Ziel dieser Reise abzufragen suchte, fügte er hinzu, sein Weg gehe zunächst über die Alb, und er werde bei dieser Gelegenheit Ulm berühren.

Ein Abgesandter des Herzogs von Württemberg! und gar vollends an eine Reichsstadt wie Ulm? – Seine republikanischen Freunde schauten hoch auf, und er mußte, um allen Mißverständnissen vorzubeugen, ausdrücklich versichern, daß der Auftrag des Herzogs nicht an den Rat von Ulm laute, während er innerlich darüber betreten war, etwas von seinem Geheimnis verraten zu haben.

»Ja, die Ulmer!« rief der Bürgermeister im Tone der Bewunderung.

»Possis nihil urbe Ulma
Visere majus!«

setzte der Syndikus hinzu.

»Das ist eine reiche, hoffärtige Stadt!« sagte der Bürgermeister, »die hat's weit gebracht. Wir leiden freilich immer noch unter den Nachwehen des schrecklichen Brandes, der uns vor fünfzig Jahren unsere Stadt in die Asche gelegt hat; aber mit Ulm haben wir uns doch nie messen können. Dort geht's vornehm her!«

»Und im Rat,« sagte der Syndikus, »sitzen lauter Patricii, lauter Studierte.«

»Nicht wahr, so sollt's hier auch sein?« rief der Bürgermeister lachend, »das will dem Herrn Gevatter nicht hinunter, daß er der einzige ist.«

»Im Gegenteil,« sagte Heinrich, »ich sollte denken, es wäre angenehm, keinen Nebenbuhler zu haben.«

»Meinen Sie wegen der gelehrten Pfiffe?« sagte der Konsul, »ja, was die betrifft, da wird er mit uns nicht fertig, mein Herr Gevatter! Wenn er aus seinem Korbsjuris etwas durchsetzen will, stoßt er manchmal an unserer Unwissenheit an, denn wir kümmern uns nicht um die Flausen, wir gehen den Weg, den unsere ungelehrten Väter vor uns gegangen sind, und das ist gewöhnlich der richtige.«

»Sachte, Herr Gevatter!« rief der Syndikus mit scherzhaftem Zorn, »wenn Ihr gegen mich rebelliert, so bringe ich die Sache vor den großen Rat – vota majora dolent!« setzte er lachend gegen Heinrich hinzu – »und wenn ich's da nicht durchfechte, so hetz' ich Euch eine Volksversammlung auf den Hals.«

»Gott bewahr' uns!« rief der Bürgermeister, mit den Händen abwehrend.

Unser Freund erhielt auf seine Fragen von dem Syndikus weitläufigen Bescheid über die Verfassung der freien Stadt, worin ihm ein seltenes Beispiel der reinsten Demokratie entgegentrat. Bei dieser Gelegenheit wurde ihm ein Rätsel gelöst; er erfuhr, sein regierender Gastfreund sei zugleich Glockengießermeister, und versäumte nicht, diesem alten ritterlichen Handwerk ein volles Glas darzubringen.

Die Uhr vom nahen Turme schlug mit mächtigen Tönen acht. Jetzt erhob sich der Syndikus und nahm einen umständlichen Abzug, der Bürgermeister begann nach einigen vergeblichen Gegenanstrengungen zu gähnen und ließ den Kopf sinken, und Heinrich sah diese Signale frühen Zubettegehens mit Grauen an. Die Gesellen hatten sich nach und nach entfernt, nur einer saß noch halbschlafend hinter dem Ofen. Gretchen war sitzen geblieben und hatte dem Gespräche aufmerksam zugehört; jetzt zündete sie eine Laterne an, nahm ein Spinnrädchen aus der Ecke und machte Anstalt, sich zu entfernen. »In den Karz,« erwiderte sie auf die Frage des Gastes.

»O, wer mitdürfte!« rief dieser.

»Wenn Sie mitgehen wollen,« sagte der Bürgermeister, sich ermunternd, »so werden Sie willkommen sein, meine Verwandten werden sich's zur Ehre schätzen; Gretle, nimm den Herrn Vetter mit.«

»Kommen Sie,« sagte Gretchen, »aber können Sie auch spinnen?«

»Nein!« rief Heinrich lachend, »aber ich will Ihnen das Rädchen tragen.«

»So kommen Sie in Gottes Namen! – Soll ich das Türle für Ihn offen lassen?« fragte sie den Gesellen, indem sie am Ofen vorbeistreifte.

»Wenn Sie so gut sein will, Jungfer.«

Gretchen ging voraus, und Heinrich mußte ihr durch die Scheune folgen. Er wollte ihr das Rädchen abnehmen, aber sie lachte und gab's nicht zu. Durch einen Knäuel von schmalen Winkelgäßchen gingen sie jetzt in die Kreuz und Quer, bis sie zur Stadtmauer gelangten und ein Haupttor mit hohem Turme vor sich sahen. Innerhalb des von außen geschlossenen Tores öffnete Gretchen eine Nebentüre, winkte ihrem Begleiter und stieg an seiner Seite eine Wendeltreppe hinauf; er folgte wie verzaubert in einer süßen abenteuerlichen Träumerei. Sie verließen die Treppe, die in den Turm emporführte, und betraten einige Seitenstufen, an deren Ende sie wieder auf eine Türe stießen, die nur angelehnt war. Sie gingen hindurch, und mit einem Ausruf der Verwunderung blieb Heinrich stehen; er sah sich in einem schmalen, ausgetretenen und unebenen Gang, der auf der einen Seite offen und mit einer hölzernen Brüstung versehen war. Die Laterne warf ein ungewisses Licht den Gang hinauf, aber in der Ferne waren einzelne erhellte Stellen zu sehen, wo der Mond durch die Luken hereinschien, die steinernen Platten des Bodens und die Brustwehr beleuchtend.

»Wir sind auf der Mauer,« sagte das Mädchen, »kommen Sie nur.«

Der Gang führte in regelmäßigen Strecken durch kleinere Türme und Türmchen, welche sich über die Mauer erhoben. Man sah, daß die Stadt in früheren Zeiten für wohlverwahrt hatte gelten dürfen; die kleinen Schießlöcher waren dicht aneinander gereiht und alle paar Schritte von einem größeren unterbrochen, das für Hakenbüchsen und ähnliche schwere Feuergewehre diente; an den Toren und in den Mauertürmen befanden sich große Öffnungen für das grobe Geschütz. Die Mauer war nicht nur zum Schutze der Verteidiger auf der Feldseite erhöht, sondern auch gegen Wind und Wetter mit einem Dach versehen, in dessen Sparrenwerk die Laterne seltsame Schlaglichter warf.

»Hier können Sie beide Augen voll nehmen!« rief das Mädchen dem Jüngling zu, der schon mehrmals durch die Luken hinauszuspähen versucht hatte, und führte ihn vor eine weite Schießscharte, vor welcher eine alte Feldschlange lag. Die Öffnung war so tief, daß er mit halbem Leib hineinschlüpfen mußte. Aber er fand sich reichlich für seine Mühe belohnt; im klarsten Mondlicht, in nächster Nähe, wie in einem engen Rahmen, lag das Gebirge vor ihm, von einem Berg, von einer Felsplatte zur anderen konnte er mit dem Auge springen und trunken auf den Höhen verweilen, wo jetzt die Geister der Nacht in kühler Ruhe sich ergehen mochten.

»Wie heißt der schöne Berg mit dem zerfallenen Turm, der da gerade vor mir liegt? Ach, ich weiß schon, es ist ja die Achalm!«

»Die ist es,« sagte Gretchen, durch eine andere Luke schauend.

»Heran! sie kommen, die Grafen und Ritter!« rief der Jüngling mit dichterischem Feuer, »Fahnen, Speere und Helmbüsche schwanken aus dem Schloßtor und neigen sich den Berg herab. Hört ihr die Trompeten klingen, die Rosse wiehern? Sie stürmen an, Mut, ihr tapferen Bürger, werft die Leitern um, wehrt ab, jeder Pfeil einen Mann! Seht ihr? sie stürzen, sie weichen! fallt aus, stürmt nach! Sieg ist die Losung, Sieg und der Kaiser!«

Er sah nach der Jungfrau zurück, die sich mit scheuem Lächeln auf ihr Spinngerät lehnte. »Haben Sie Furcht?« fragte er, indem er auf den Boden sprang und ihr die Hand entgegenstreckte. »Ruhig! ich biete Frieden im Namen Württembergs.«

Sie hob schnell eine Falltüre auf und stieg eine morsche Treppe hinab; er konnte ihr kaum folgen. Unten war wieder eine Türe, die sie mit einem großen Schlüssel öffnete. Sie traten hinaus und waren außerhalb der Stadt. Der Turm, aus dem sie kamen, tauchte sich unmittelbar, den Zwinger unterbrechend, in den Wassergraben, der die Ringmauer umgab; ein schmaler Steg, von zwei Balken gebildet und ohne Geländer, führte hinüber. »Das ist unser Weg, wenn wir bei Nacht aus der Stadt gehen,« sagte Gretchen, »wir haben den einzigen Schlüssel dazu. Durch diese Ausfallpforte,« fuhr sie fort, indem sie die Türe vorsichtig anlehnte, »haben einmal die Bürger einen Ausfall gemacht und den Herzog Ulrich bei St. Leonhard draußen geschlagen.«

»Den Grafen Ulrich!« rief der junge Mann lachend, »das ist ein Irrtum, gutes Kind, der Herzog war es vielmehr, der euch diese Schlappe wieder heimgab und die Stadt auf ein paar Monate gut württembergisch machte.«

Gretchen ging voran, ohne zu antworten; die schlanke Gestalt schwebte luftig über dem Graben, wo zwischen Schilf und grünen Wasserpflanzen das Mondlicht auf dem halbversteckten Spiegel blinkte. Als Heinrich bis in die Mitte der unzuverlässigen Brücke gekommen war, fing diese heftig an zu schwanken.

»O weh, was ist das?« rief er aus.

»Haben Sie Angst?« fragte Gretchen, ohne den Kopf umzuwenden.

Er lachte und fing nun seinerseits ebenfalls aus Leibeskräften zu schwanken an.

Das Mädchen tat einen Schrei und eilte leichtfüßig hinüber. »Jetzt ist der Herzog von Württemberg in der Klemme!« rief sie drüben mit hellem Lachen.

Heinrich, der beinahe das Gleichgewicht verloren hätte, nahm sich zusammen und kam glücklich hinüber; der Steg endete an einer Treppe, die über die Grabenmauer ins Freie führte. Gretchen war schelmisch entflohen, und er eilte ihr längs der Mauerbrüstung nach.

»Still! Was rauscht so?« fragte er.

»Das ist die Echaz, die dort hinten vorüberfließt.«

Sie gingen auf ein Gartentor zu, durch welches sie in ein stattliches Haus gelangten. Die Treppe war durch viele Fenster hell vom Mond beschienen, der Estrich mit bunten Ziegeln ausgepflastert. Gretchen wies auf eine Türe, Heinrich trat vor und klopfte an.

»Jesus!« rief das Mädchen, »was machen Sie?«

»Was ist es denn?« fragte er erschrocken.

»Wer wird denn anklopfen? Bei Nacht klopfen nur die Hexen an!«

Er blieb verlegen stehen, denn er hörte ein ängstliches Geflüster im Zimmer; endlich öffnete er die Türe und schob das zaudernde Mädchen rasch hinein.

»Du bist's, Gretle? Was machst du denn für Dummheiten?« riefen einige Stimmen durcheinander, welche bei dem Anblick des Fremden schreckenvoll verstummten.

Gretchen lief auf zwei blonde Mädchen zu, welche an ihren Spinnrädern saßen, und unterhandelte flüsternd mit ihnen; den Inhalt des Gesprächs konnte Heinrich aus ihrem lebhaften Kichern erraten. Es dauerte einige Zeit, bis auf einen so verwirrenden Eintritt eine gesellige Unterhaltung zu stande kam; ein alter »Herr Vetter«, ein vielgereister und witziger Kopf, der bald nach den beiden eingetreten war (denn die Gesellschaft vermehrte sich allmählich), trug am meisten dazu bei, ein zusammenhängendes Gespräch in Gang zu bringen und dem Gaste die Honneurs zu machen. Diesem wurde mit so gastfreundlichem Eifer zugesprochen, daß er sich ordentlich seines Leibes und Lebens wehren mußte. Zuletzt kam noch der junge Gesell, für welchen Gretchen die Ausfallpforte offen gelassen, und Heinrich erriet aus den Neckereien, die sich die ganze Spinnstube gegen das Pärchen erlaubte, ein öffentliches Geheimnis, wodurch er erst recht behaglich gestimmt wurde, indem er sein eigenes Glück an den Strahlen des fremden sonnte. Die Unterhaltung wurde sehr lebhaft, ein Scherz folgte auf den anderen. Gretchen ersann für ihren Gast einen solchen in Bezug auf seine bevorstehende Reise und gab ihm auf, die Worte: »'s liegt e Klötzle Blei glei bei Blaubeuren,« und »Auf der Ulmer Bruck' liegt e blauer Ulmer Ärmel« in schneller Wiederholung herzusagen, welches Pensum, da er sich jedesmal in den Buchstaben verwirrte und stecken blieb, der Gesellschaft und ihm selbst großen Spaß machte. Er fand übrigens die Mädchen reichlich mit Mutterwitz begabt; dabei hatte er auf ihre Sprache acht und überzeugte sich, daß jene in Stuttgart gegen den Bürgermeister gerichtete Neckerei ihren guten Grund hatte; sie sprachen wirklich das R vor gewissen Konsonanten nicht aus, während sie es vor anderen scharf und hell hören ließen. Die eigensinnige Assimilation wurde zu seiner Belustigung mehrmals an Gretchens »Latännle« ausgeübt.

Inzwischen nahm das Gespräch eine Wendung, welche von dem abenteuerlichen Eintreten unseres Helden herrührte; es wurden Hexengeschichten erzählt, und er erfuhr aus dem Zusammenhang, daß in Reutlingen kein sittlicher Mensch Abends an die Türen klopfe. Nach diesen Erzählungen zu urteilen, mußte das ganze Weichbild der guten Stadt voll von Hexen und Teufelsbannern sein.

Von den Hexen kam man auf die Geister, und Gretchen wurde aufgefordert, dem Vetter eine Sage von dem benachbarten Ursulenberge zum besten zu geben. Sie sträubte sich einige Zeit; endlich gab sie nach, vielfach errötend und stockend, aber allmählich geriet sie in einen herzhaften Redefluß.

Als der Frieder eines Abends Holz fällte allein auf dem Berge, trat ein Fräulein zu ihm von seltsamer Schönheit.

»Es werden nicht ganz hundert Jahre sein,« begann sie, »daß in Pfullingen droben ein junger Bursche lebte, hübsch, wie Milch und Blut, und von Betragen nicht wie die anderen seines Alters, sondern still und sonderlich. Den Mädchen gefiel er umsomehr, je weniger er mit ihnen machte, und manche nahm ihren Weg so, daß sie ihm begegnete. Inzwischen gedachte ihn seine Mutter – hätt' fast gesagt, unter die Haube zu bringen, und wählte ihm eine aus, die weder gut noch schlimm, weder warm noch kalt war; die anderen hießen sie die langweilige Lise. Der Frieder aber nahm das so hin und verzog das Gesicht nicht dabei, hätt' auch wahrscheinlich einträglich mit ihr gehaust bis an sein seliges Ende, wenn nicht unvermutet etwas dazwischen gekommen wäre. Denn als er eines Abends Holz fällte allein auf dem Berge, da trat ein Fräulein zu ihm von seltsamer Schönheit, daß ihm's ganz anders wurde; sie sah freilich nicht aus wie seine Lise, noch wie eines der Mädchen im Dorf. Die sprach zu ihm, sie sei das Bergfräulein, und der Berg sei nach ihrem Namen geheißen, er solle sich nicht fürchten und mit ihr kommen. Der Frieder faßt sich ein Herz, und so führt sie ihn durch den Schacht, den man heut noch sehen kann, tief in den Berg hinein. Da war eine Herrlichkeit, lauter Kristall, Gold und Edelsteine. Drauf gab sie ihm zu essen und zu trinken, setzte sich zu ihm und hub an zu erzählen. Sie sei ein verwünschter Geist, sagte sie, aber er solle nichts Böses von ihr denken. Vor mehr als tausend Jahren sei hier ein großes Schloß gestanden, und darin habe sie geherrscht als der einzige Sproß von einem alten Königshause. Da seien ihre bösen Vettern gekommen und haben sie verzaubert und verwünscht, das Schloß sei versunken in den Berg, und in diesem Augenblick habe sie nur noch Zeit gehabt, eine Eichel in den Boden zu treten und ihren Segen darüber zu murmeln. Und diese Eichel, sprach sie weiter, wuchs nach und nach auf und ward zur großen Eiche, und ich beschützte sie, daß jeder, der ihr nahe kam, ein wunderbares Grausen fühlte. Der Baum war uralt, und ich war müde, da hab' ich's deinem Vater verstattet, daß er ihn umhieb (denn der Mann gefiel mir) und zur Wiege für dich machte. Du bist in meinem Baume gewiegt worden und hast die Kraft überkommen, mich zu erlösen; das versprich mir. – Der Frieder aber, als er ihr einmal in die Augen geguckt hatte, da mußte er ja sagen, und wenn's um seine Seele gegangen wäre. Nun unterwies sie ihn: dreimal müsse er zu ihr in den Berg kommen, um sie zu küssen, und jedesmal werde sie ihm in einer schrecklicheren Gestalt erscheinen, absonderlich das dritte Mal; aber er solle sich nicht entsetzen, es werde ihm kein Leid geschehen, und gleich nach dem Kusse werde sie ihr menschlich Wesen wieder haben. Inzwischen solle er sich bedenken, bis es an der Zeit sei, und häufig bei ihr einsprechen. Damit nannte sie ihm die Tage, wo sie in ihrer menschlichen Gestalt zu sehen sei, und geleitete ihn aus dem Berg. Beim Abschied sah sie ihm liebreich ins Auge, legte die Hand auf sein Haupt und sprach: Noch eins muß ich dir sagen, das ich dir lieber verschwiege, aber es ist nicht meine Schuld; darum, daß du mich gesehen hast, mußt du sterben über ein Jahr, ob du mich erlösest oder nicht; so laß nun diese Zeit, die du auf keine Weise verlängern kannst, zu meinem Heil gereichen. – Dabei bat sie ihn so beweglich, daß er ihr's mit Tränen in den Augen versprach. Der Frieder kam nach Hause, und war er vorher still gewesen, so war er jetzt ganz in sich gekehrt und sprach fast mit keinem Menschen mehr. Nach und nach fiel das den Leuten auf; noch mehr aber fiel es auf, daß er so oft allein auf dem Berge war. Wenn er aber mit den anderen Holz herunterführte, da war es wunderbar zu sehen, wie man die anderen Wagen an dem jähen Berge so mühselig sperren mußte, während der Frieder den seinen, der doch der schwerste war, ganz leicht herunterbrachte, ohne einen Radschuh einzulegen; ja, seine Tiere mußten noch ziehen, wenn die anderen kaum halten konnten, denn eine geheime Gewalt stellte ihm die Räder.

 

Nach und nach wurde die Sache ruchbar, und der Frieder selbst machte zuletzt kein Geheimnis mehr daraus; die anderen sahen's beim Herunterfahren oft mit an, wie sein Arm in der Luft lag, als ob er um einen Hals geschlungen wäre, und dabei konnte er ausrufen: Seht ihr denn nicht, wie schön sie ist? Auch hörten sie ihn mit ihr reden, und manche gab's, die schwuren Stein und Bein, sie hätten sie antworten hören; aber von keinem ward sie gesehen. Das Ding machte viel zu reden, so daß der Lise zuletzt die Langeweile verging; man sah sie mehr weinen als gähnen, und Frieders Mutter wurde ebenfalls voll Angst, umsomehr, als er mittlerweile zwei Küsse gewagt hatte, wobei ihm der Geist in gar zu ungeheurer Gestalt erschienen sein muß, denn er kam beidemal ganz verstört zurück. Als es nun zum dritten ging, da liefen die Weiber zum Pfarrer, und der ließ den Frieder kommen und vermahnte und bedräute ihn lange Zeit vergebens; als aber alle in ihn hineinredeten, da blieb er seiner zuletzt nicht Meister und versprach dem Pfarrer mit einem teuren Eid, er wolle nicht mehr hinaufgehen zum Fräulein. Die aber sah man von nun an jeden Abend auf dem Berge sitzen und mit einem weißen Schleier winken, bis daß der Tag vorüber war, an dem er den dritten Kuß hätte bestehen sollen; dann verschwand sie. Der Frieder aber war tiefsinnig und stumm, und die Reue wollt' ihm das Herz abdrücken, aber nun war's zu spät. Seine Mutter drang in ihn, mit der Lise Hochzeit zu machen, und er willigte ein und bestimmte mit einem traurigen Lächeln den Tag, wie er ihn von dem Fräulein wußte. Von Stunde zu Stunde nahm er ab und ward immer kränker; seine einzige Erquickung war, Abends am Fenster zu sitzen und nach dem Berge zu sehen, wenn der Mond dahinter hervorkam; hinauf ging er nicht mehr. Eh' man sich's versah, war er einsmals tot, und er wurde an dem Tag begraben, an dem er hätte Hochzeit halten sollen. Aber auf dem Kirchhof begab sich etwas Wunderliches, und das hat mir meine Großmutter, die selber beim Begräbnis war, erzählt. Wie man die Bahre ins Grab hinunterließ, da flog etwas Weißes, wie eine Taube oder ein großer Vogel, auf die Mauer und flatterte und klagte und winselte und wollte sich nicht zufrieden geben, und eher nicht, als bis die erste Scholle fiel, da ward es still; aber kein Auge hat gesehen, was es war.«

Die Mädchen, die während der Erzählung stillgestanden, begannen wieder zu schnurren, und der alte Vetter wendete sich zu dem jungen: »So viel ist Tatsache,« sprach er, »daß man Bergleute hat aus Sachsen kommen lassen, um den Schacht zu verschließen und dem Gerede ein Ende zu machen. Einer von ihnen soll sich hinabgelassen und bei seiner Rückkunft gesagt haben, schon habe er eine große Helle in dem Berg erblickt, da sei der Schacht immer enger geworden, so daß er zuletzt nicht hätte weiterkommen können. Dann trug man Steine herbei, und volle drei Tage dauerte die Arbeit, bis der Schacht so verschüttet war, wie man ihn jetzo sieht. Auch soll der älteste von den Bergleuten gesagt haben, es seien große Wasser in dem Berg verschlossen, und wenn diese einen Ausbruch gewännen, so würden sie die Ebene von Reutlingen weithin überschwemmen.«

Heinrich erhob sich, da er bemerkte, daß Gretchen Anstalten zum Gehen machte. Er wurde freundvetterlich beurlaubt und zum »Schiedweck« eingeladen, einem Abschiedsimbiß, mit welchem in wenigen Tagen die Lichtkärze zu Ende gehen sollten.

In Gretchens und ihres Liebhabers Gesellschaft ging er zur Stadt zurück. Die Ausfallpforte wurde sorgfältig geschlossen, dann öffnete Gretchen eine Türe gegenüber, und Heinrich fand sich innerhalb der Ringmauer. Der Gesell, der bei dieser Gelegenheit von dem romantischen Umweg über die Mauer hörte, machte ein saures Gesicht, worüber das Mädchen in ein Gelächter ausbrach.

Sie kamen stillschweigend vor das Haus, in der ganzen Straße brannte kein Licht mehr, der Wächter rief in der Ferne, und der Bach murmelte eintönig durch die stille Nacht. Oben zündete Gretchen ein Licht an, um ihrem Gast auf sein Zimmer zu leuchten, und nun hatte er Gelegenheit, die wunderliche Bauart des Hauses kennen zu lernen. Er wurde nämlich durch einen langen Gang geführt, wo an den Seiten verschiedene Verschläge mit Lattengittern voneinander abgesondert waren. Holzhaufen, Reisigbüschel, Feldgeräte und ähnliche Gegenstände kamen in flüchtiger Beleuchtung zum Vorschein; dann fiel das Licht auf ein viereckiges Loch, das ohne Einfriedigung im Boden angebracht war und zum Heraufziehen des Heues, Strohes und Holzes diente. »Da sind wir ja mitten in der Scheune!« dachte Heinrich kopfschüttelnd, »man wird mir doch mein Lager nicht auf einem Heuschober anweisen.« – Gretchen führte ihn der Wand zu, hob dort eine Türe im Boden auf und leuchtete eine schmale Treppe hinab; er gelangte in ein freundliches Zimmerchen, das man für ihn zubereitet hatte und dessen Fenster in den Hof ging.

Nachdem ihm Margarete gute Nacht gesagt, sah er sich in seinem wohnlichen Nestchen um. Sein sorglicher Wirt hatte eine große Zinnflasche auf den Tisch vors Bett setzen lassen; daneben lag ein Buch und einige Hefte. Der gute Syndikus hatte seine Merkwürdigkeiten noch herübergesandt. Es waren teils eigene Aufzeichnungen über geschichtliche und rechtliche Verhältnisse der Stadt, teils Schriften seines Vaters, darunter die von ihm erwähnte »umständliche Relation«. Heinrich blätterte in dem Buche, kleidete sich aus und legte sich zu Bett, wo er in der behaglichen Wärme die Reformationsgeschichte von Reutlingen zu lesen begann. Sie war mit gerechtem städtischem Selbstgefühl verfaßt, mit nicht minderem, als womit der Reutlinger Gesandte beim Augsburger Reichstag und dem Schmalkaldischen Bunde, Josua Weiß, in seinen hier enthaltenen Berichten zu schreiben liebte: »Kur- und Fürsten, Nürnberg und Ich haben beschlossen« u. s. w. – Er hatte mit Aufmerksamkeit fast bis in die Mitte des Buches gelesen, als er, zufällig aufblickend, aus dem gegenüberliegenden Fenster im Hause den Bürgermeister mit besorgter Miene herunterschauen sah. Er verstand das Anliegen des guten Alten, winkte ihm freundlich zu und löschte das Licht.

Was tritt da vor mein Bett zu Nacht
Duftneblige Gestalt?
Ich bin doch wahrlich ganz erwacht,
Ist das noch Traumsgewalt?

Doch nimmer weicht das dunkle Bild,
Scheint's gleich nur Duft und Schaum:
Es winkt so hastig, blickt so wild,
O nein, das ist kein Traum!

Schwab

Ein Gesang, den taktgemäße Hammerschläge begleiteten, erweckte den Gast am anderen Morgen ziemlich früh; er sah sich verwundert um und brauchte einige Zeit, sich auf sich selbst und den Ort seines Aufenthaltes zu besinnen. Dann horchte er auf das Lied, das von einer angenehmen Männerstimme gesungen wurde:

»E bissele Lieb und e bissele Treu
Und e bissele Falschheit ist allweil derbei,«

so lautete die wehmütig gedehnte Weise, und der Hammer pochte unmutig dazu. Heinrich warf sich in die Kleider und ging dem Gesange nach. Aus seinem Stübchen führte eine Türe in die Werkstatt, die mit Gießpfannen und kleinen Ambosen angefüllt war; ein mächtiges Handrad zur Bewegung verschiedenartiger Maschinen war an der Wand angebracht. Nicht weit davon saß der junge Gesell von gestern; er war beschäftigt, altes Messing zusammenzuklopfen, neben welchem sich ein paar neue Salzfässer von blankem Zinn sehr freundlich ausnahmen. Heinrich verweilte einen Augenblick bei ihm, neckte ihn wegen seiner Eifersucht und ergötzte sich an seiner Treuherzigkeit.

Nach der Morgensuppe folgte er dem Bürgermeister zum Syndikus, und nun boten ihm die beiden Freunde ein Vergnügen, welches ihre gastlichen Bemühungen, ihm keine Sehenswürdigkeit entgehen zu lassen, ganz und gar bezeichnete. Sie führten ihn in ihre schöne gotische Kirche und nötigten ihn, den Turm zu besteigen, bei welcher mühseligen Wanderung ihn der Stock des Bürgermeisters, ein uraltes Stück, dessen elfenbeinerner Kopf den Propheten Jonas im Rachen des Fisches vorstellte (der arme Prophet, der rücklings verschlungen wurde, hatte jedoch von dem aus dem Rachen hervorragenden Oberkörper den Kopf verloren), vorzüglich unterhielt. Im Hinaufsteigen sah er häufig durch die Öffnungen und betrachtete die kunstreichen und mitunter witzigen Zieraten, die in durchbrochener Arbeit außen am Turm angebracht waren; in der Hälfte der Höhe zeigten sie ihm die »Sommerlaube« und erzählten ihm eine Mär von einer Schlange, die einst hier gehaust haben soll und deren Spur das Volk in der schlangenförmig in den Boden gehauenen Wasserrinne findet; dann mußte er die Glocken betrachten und über dem Glockenstuhl die zwei steinernen Umläufe besteigen, welche an der Spitze des Turmes übereinander angebracht sind. Von dort aus zeigte ihm der Bürgermeister den goldenen Engel, der als Schutz- und Wetterzeichen mit seiner Fahne auf dem Turme steht.

Die Gegend lag unter dem trüben, feuchtkalten Himmel eintönig und verstimmt umher; nur um das Tübinger Schloß glaubte man, flüchtige Sonnenschimmer zucken zu sehen. Dörfer waren reichlich nebeneinander gesäet, und der Bürgermeister konnte wie Polykrates dem Gaste sein ganzes Territorium zeigen, das aus fünfen derselben bestand. Der Syndikus aber wies ihm die Berge und erzählte die Sagen und Märchen, die wie grünes Moos auf dem alten Gesteine gewachsen sind, mit großem Behagen; doch salvierte er sein Gewissen dadurch, daß er immer hintendrein den Epilogus gab, es seien merae fabulae, Hirngespinste, dummes Zeug. Er deutete ihm den Weg an, den er über die Alb zu nehmen habe, und beschrieb ihn genau. Dann erzählte er von einer Reise, die er selbst vor einiger Zeit über dieses Gebirge unternommen. »Es diene Ihnen zu wissen,« hob er an, »daß ich allerorten Steine und Felsen genug wahrgenommen. Es däuchte mich, da ich solche Gegend übersah, als ob ich in ein Land gekommen sei, durch welches ehedessen der tapfere Perseus mit dem Kopf der Medusa durchgegangen und vermittels dieses Kopfes alles, was ihm vorgekommen, in Stein und Felsen metamorphosieret haben müßte! Inzwischen habe ich über diesen Anblick geurteilt, es müßte ein Land nicht vollkommen sein, wenn es nicht auch Steine hätte, zumal unser Schwaben; denn weil dieses Land alles im Überfluß haben sollte, so ist es nicht anders möglich, als daß es auch überflüssig mit Steinen und Felsen gesegnet worden ist.«

Unter dieser Reisebeschreibung, welche die Länge der sämtlichen Turmtreppen einnahm, waren sie wieder auf ebenem Boden angelangt. Heinrich bemerkte unterwegs, daß er von den Reutlingern auf der Straße und zu den Fenstern heraus angestaunt wurde wie ein fremder Vogel; alles steckte die Köpfe zusammen, und es mochten wunderbare Vermutungen über seine Person in Umlauf gebracht worden sein. Zuletzt mußte er in Gesellschaft des Syndikus noch ein Altertum an der Spitalkirche, ein Götzenbild aus unvordenklichen heidnischen Zeiten, besichtigen. Jetzt aber klärte sich der Himmel auf, und die Sonne trat lockend aus den Wolken hervor; die Reiselust erwachte in unserem Freund, und er ließ sich seinen Vorsatz nicht ausreden. Doch mußte er so weit nachgeben, das Mittagessen, das ohnehin nach alter Sitte auf elf Uhr bestimmt war, mit der Familie und dem Syndikus einzunehmen. Es kam ein saftiger Kalbsbraten auf den Tisch, von dem er im Verlauf der Unterhaltung durch den Syndikus erfuhr, daß es einer der seltensten Luxusartikel in der strengen Reichsstadt sei, die außer Rind- und Hammelfleisch kaum ein anderes kenne und nur bei Tauffeierlichkeiten sich mit Pasteten vom Fleische des Kalbes beschenke. Ja, er hatte große Mühe, den Bürgermeister und seine Tochter zur Teilnahme an der Speise zu bewegen, die auch der Syndikus nur mit scheuer Ehrerbietung berührte, und nichts als die Drohung, vom Tische aufzustehen, vermochte sie zu einiger Willfährigkeit. Umso herzhafter jedoch ließen sie sich den Zwiebelkuchen schmecken, der, ein stehender Artikel der Reutlinger Küche, zu Ehren des Gastes nicht fehlen durfte.

Mustapha war schwer aus dem Stall zu bringen, als es nun ernstlich zum Abschied kam, und auch unserem Freunde wurde es weich ums Herz, wie er diesen Leuten die Hand reichte, bei welchen er sich so heimisch gefühlt hatte, als ob er schon seit langen Jahren mit ihnen bekannt und verwandt gewesen wäre.

In der Vorstadt, die er zu durchreiten hatte, winkte unser Reisender noch einen Gruß nach dem Hause hinauf, das er gestern abend durch sein Anklopfen erschreckt hatte. Er begrüßte den Ursulenberg, während er der nahen Alb entgegenritt. »Wie manchem,« dachte er im Hinaufschauen, »hat die verschleierte Frau vom Berge gewinkt, und er ist nicht zu ihr hinaufgegangen und hat die langweilige Lise geheiratet.«

Dichte Wolken, von der Sonne gejagt, zogen niedrig über ihm hinweg, indem sie ihn mit einem leichten Sprühregen übergossen; eine Zeitlang war er ganz von ihnen eingehüllt, im nächsten Augenblick aber sah er sie als ernsthafte Hauben auf den Häuptern der Berge sitzen. Seine Straße konnte er immer nur auf kurze Strecken übersehen, sie schien sich in den Bergen zu verlaufen, die wie ein Geduldspiel ineinander geschoben waren und das enge Tälchen zu immer neuen Krümmungen nötigten. Endlich war er nahe am Schlusse desselben angelangt; links führte eine schmale Steige auf den Kontinent des Gebirges hinauf, rechts stieg der Lichtensteiner Fels schroff und einsam aus dem Tal empor. Zwischen hohen Felswänden sah er die Echaz hervorkommen; er war dem hellen eiligen Bache bei den Wendungen der Straße oft begegnet. Er stieg ab und schlürfte den kühlen Schaum, wo er über das reingewaschene Felsgestein perlte. »Wilde, frische Einsamkeit!« rief er mit Entzücken, »wie lieb, wie neu bist du mir! Für dich wollte ich, wie gerne! all den gelehrten Kram wegwerfen, an den ich die Hälfte meiner Jugend fern von dir verloren habe! Ja, hier Ewigkeiten zu verträumen, hingegeben, ein Teil der ewig schöpferischen Natur, dem träumerischen Verweilen der Stunde, und dann weg mit allen Philosophen und meinetwegen auch mit den Poeten, denn hier bin ich selbst einer!«

Er verlor sich in seinen Empfindungen, und beinahe war eine jener Ewigkeiten schon verstrichen, als er aufsprang. »Nur Lottchen dürfte mir auch hier nicht fehlen!« rief er. »Mein blondes Liebchen bannt mich in die Welt zurück. Vorwärts, Mustapha! Wir haben jeder noch eine Lektion zu bestehen.«

Er führte das Pferd die Bergsteige hinein, die schroff wie am Dach emporstieg. Der Tag täuschte ihn, der auf der Höhe länger verweilt; er ahnte nicht, wie viele Zeit er da unten verträumt hatte. Eine weite öde Bergfläche nahm ihn auf, er blickte in ein unabsehbares Land hinein, aufgetürmt über den vertrauten heimischen Ebenen. Er war noch gar nirgends gewesen als in den Klöstern und im Vaterhause; er war ein Fremder in der Heimat. Eine Wegspur, welche die Straße vorstellen sollte, führte mitten durch das Hochland, an spärlich gesäten Dörfchen und kümmerlichen, mit Steinen gegen den Wind beschwerten Äckern vorüber; rechts sah er in einiger Entfernung die Heidkapelle liegen, welche ihm der Syndikus als einen »Wegweiser und quasi Pharum« auf seiner Fahrt beschrieben hatte. In raschem Trabe trug ihn sein Pferd über die Heide weg, deren unheimlicher Einsamkeit er zu entkommen suchte. Schon war er weit vom Rande des Gebirgs entfernt, als er zu seiner Überraschung bemerkte, daß der Tag abnahm; er eilte einen Ort zu erreichen, aber plötzlich und fast durch keine Dämmerung angemeldet, kam die Nacht über ihn; der Weg, den er schon mehrmals, wo die Pfade sich kreuzten, auf zweideutige Zeichen hin gewechselt hatte, war nicht mehr zu erkennen, und nun ritt er auf gut Glück in die Finsternis hinein. »Der Mond muß ja endlich kommen,« dachte er, »und ich werde mich hinausfinden.« Bald aber roch er einen dichten feuchten Nebel, und nicht lang, so pfiff ihm ein schneidender Wind entgegen, der ihn bis aufs Mark durchschauerte.

Bis jetzt hatte ihm sein gutes Pferd den Mut erhalten, das ihn mit vorsichtig tastenden Schritten trug; nun aber, da der Wind immer heftiger herstieß, begann auch Mustapha ungewiß aufzutreten und blieb endlich geradezu stehen. Heinrich war schon entschlossen, hier den Morgen abzuwarten, aber die Kälte machte es ihm unmöglich, auf demselben Flecke zu bleiben, und der Wind, der nach und nach zum Sturme wurde, heulte so wild über die Heide einher, daß unser Held dem Roß auf einmal einen verzweifelten Druck mit den Sporen gab und rasch über den weichen Boden davoneilte. So ging es eine Weile fort, bis Mustapha gegen einen Stein stieß, und Heinrich den Sturz kaum noch abwenden konnte. Er ließ das Pferd wieder seinen geduldigen Schritt gehen, zumal der Weg sehr uneben wurde; eine seltsame Ruhe war über ihn gekommen, wie sie das Unvermeidliche über die biegsame Menschenseele bringt, er fühlte sich ganz der Naturgewalt und dem Willen des zuverlässigen Rosses überliefert. So ging es denn bergauf, bergab, aus der Nacht in die Nacht hinein, endlos fort; jede Zeitrechnung war ihm verschwunden, und er kam sich vor wie ein Gespenst, das in der Nacht durch Fels und Schlucht dahinstreicht, einem dumpfen Drange folgend, der es vorwärts und immer vorwärts treibt. Am Plätschern hörte er manchmal, daß er durch ein Wasser kam.

In dieser aufgegebenen Lage schien es unserem Freund auf einmal, als ob die Tritte des Pferdes sicherer würden, auch glaubte er, soviel sich in der Finsternis unterscheiden ließ, auf gebahnterem Wege zu sein, und siehe, Mustapha begann mit hellem Wiehern sich in einen munteren Trab zu setzen. Heinrich hoffte nach diesen Anzeichen vielleicht in wenigen Minuten einen Ort zu erreichen; allein auch dieser Weg schien kein Ende nehmen zu wollen, und als das Pferd zuletzt, häufig an Steine stoßend, eine steile Anhöhe erklomm, da wußte er nicht mehr, was er denken sollte. Auf einmal fand er sich von Gegenständen umgeben, die er in der Nacht nicht zu unterscheiden vermochte, und ein Echo trug ihm den Schall seiner Hufschläge entgegen. Das Roß machte halt, und in diesem Augenblick fiel ein Schimmer herab, der eine zerstreute Masse großer und kleiner Gebäude flüchtig beleuchtete. Heinrich sah auf und erblickte ein wehendes Licht, das gegenüber an einem Fenster erschien; eine Steinwand, die in seinem Scheine hervortrat, ließ ein Schloß erraten, dessen übrige Teile chaotisch in der Finsternis zerflossen. Er blickte noch einmal hin: ein Greis mit einem schwarzen Käppchen, worunter weiße Locken hervorquollen, hielt ihm jenes Licht entgegen, aber sowie derselbe sich näher leuchtend zum Fenster herausbog, blies der Wind die Kerze aus, und die ganze Erscheinung war verschwunden. Doch nicht lang, so vernahm Heinrich das Geräusch eines Kommenden, eine Türe wurde geöffnet, und der Alte stand mit einer wohlverschlossenen Laterne vor ihm. Er hielt sein schwarzes Käppchen in der Hand und bewillkommte ihn mit großer Rührung. »O Herr General!« rief er, »daß ich Sie noch einmal sehen soll in meinen alten Tagen, das hab' ich nimmermehr gehofft!«

Ehe Heinrich diese seltsame Begrüßung erwidern konnte, wandte Mustapha den Kopf zu dem Greis herum und wieherte laut und freudig. »Ich will nicht hoffen,« rief dieser, »daß das der Mustapha ist! Und doch!« fügte er bei näherer Besichtigung hinzu, denn der Reiter war inzwischen abgestiegen, »freilich ist er's! Komm her, alter Knabe, und laß dich herzen! Hast du denn den Weg noch gefunden?« – Und so ging es fort mit Liebkosungen, Ausrufen des Erstaunens und der Freude, Fragen nach dem Befinden des Herzogs und einer Menge Leute vom Hof- und Forstpersonal, wovon Heinrich, der nicht zum Worte kam, keine einzige zu beantworten gewußt hätte. Das Pferd war unterdessen einem aus dem Schlaf geweckten Diener mit den gemessensten Befehlen übergeben worden, und Heinrich, über das Schicksal des treuen Reisegefährten beruhigt, folgte seinem Führer, schwankend vor Müdigkeit, ins Schloß.

Er wurde in ein einfaches Zimmer geführt, das nichts enthielt als ein Feldbett in einer Ecke und am Fenster einen Tisch mit einem aufgeschlagenen Folianten; der halb weggerückte lederne Lehnstuhl ließ erraten, daß ihn der Alte soeben noch eingenommen hatte. Dieser unterbrach endlich den Strom seiner Erkundigungen und fragte, was er auftischen dürfe, indem er achselzuckend beifügte, es sei nicht viel vorhanden. Heinrich, der zu erschöpft war, um einen Bissen zu sich zu nehmen, bat um etwas Wein, den er in einem silbernen Becher erhielt, und erst nachdem er sich mit diesem Labsal gestärkt hatte, war er im stande, eine zusammenhängende Frage zu tun.

»Aber in aller Welt,« rief er, »sagen Sie mir, wo ich bin!«

»Wie?« sagte der Alte erstaunt, »wissen Sie es nicht? Haben Sie den Ort vergessen, wo Sie die fröhlichsten Stunden Ihres Lebens zugebracht haben?«

»Niemals war ich hier,« versetzte Heinrich, »es scheint, Sie sind über mich im Irrtum – aber sagen Sie mir nur, wo bin ich?«

»In Grafeneck!« erwiderte der Alte, »im herzoglichen Jagdschloß Grafeneck!« setzte er hinzu, als er sah, daß der Name nicht den erwarteten Eindruck auf seinen Gast machte. »Sind Sie denn nicht der Herr General von Wimpfen?«

»Nein,« sagte Heinrich lächelnd, »ich wüßte nicht, wie ich dazu kommen sollte, es zu sein.«

»Dann,« rief der Alte, »ist es wirklich zum Verwundern, denn Sie sehen ihm ähnlich wie kein Bruder dem anderen.«

»Das mag sein,« versetzte Heinrich, »aber – Sie sind gewiß der Kastellan des Schlosses?«

»Zu dienen,« war die Antwort.

»Nun so lassen Sie es gelten, daß mir der Zufall Einlaß hier verschafft hat,« fuhr der Jüngling fort, worauf er ihm auseinandersetzte, daß er im Auftrag des Herzogs reise, und ihm beschrieb, wie er in Nacht und Sturm hierher verschlagen worden sei.

»Die Hand der Vorsicht hat Sie sichtbarlich geführt!« rief der Kastellan. »Aber der alte Mustapha hat auch das Seinige dabei getan! der kennt hier weit herum jeden Schritt und Tritt, denn er war oft mit dem Herrn in Grafeneck. Sie sind wohl sehr müde?«


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