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»Faule Schlingel!« rief er, sich unterbrechend, den Kellnern zu: »meint ihr, ich halte hier eine Vorlesung für euch? Aufgepaßt, frisch! die Tische gedeckt! Kaffeezeug weggeräumt! es gibt immer etwas zu tun.« – Mit diesen Worten trat er ans Fenster und trommelte einen Marsch. »Ja, ja,« sagte er, »mit unserem Militär sieht's zum Erbarmen aus.«

»Es ist mir gestern schon aufgefallen,« versetzte Heinrich, »die Soldaten, die ich gestern und heute zu Gesicht bekam, hatten ein miserables Aussehen, die blauen Röcke waren ihnen zu eng, große Stücke von anderem Tuch waren auf die zerrissene Uniform geflickt, die weißen Beinkleider gingen kaum bis aufs Schienbein herab – sie nahmen sich aus wie ruinierte Perückenmacher! Selbst die Schildwachen sahen mich so bescheiden an, daß ich kecklich den Hut vor ihnen sitzen ließ.«

»Was das letztere betrifft,« sagte der Wirt zum »Schwarzen Adler«, »so lassen Sie sich's nicht verdrießen und nehmen Sie den Hut lieber ein anderes Mal ab; Sie könnten leicht Ungelegenheiten haben, denn bei dem Rest des Militärs herrscht doch immer noch der strenge Dienst und auch der esprit du corps, namentlich bei den Offizieren. Ich will Ihnen geraten haben: wenn Sie gelegentlich Händel mit einem jungen Leutnant bekommen sollten, was ja dem Besten passieren kann, so machen Sie jeder Schildwache auf zehn Schritte die Reverenz, oder man kann nicht wissen, was geschieht. Es ist noch nicht allzulang her, daß ein Leutnant einem Kammerrat, der in diesem Punkte rebellisch war, seine Fünfundzwanzig aufmessen ließ und hernach mit einer sehr geringen Strafe davonkam.«

Heinrich dankte für den guten Rat und begab sich auf sein Zimmer, um die nötigen Vorbereitungen zur Visite zu machen. Zur schicklichen Besuchszeit erschien er wohlfrisiert wieder und verließ den »Adler«. Er ging über den Markt, dem großen Graben zu, wo er unter anderen stattlichen Gebäuden das Haus seines künftigen Schwagers, des Expeditionsrats, fand.

Er hatte Amalien noch nie gesehen; nur dunkel konnte er sich von seinen frühesten Besuchen in Illingen her besinnen, daß gelegentlich von einer älteren, nach Stuttgart verheirateten Tochter die Rede gewesen war; da über das Ereignis, das sie dorthin geführt, in der Gegend nichts verlautete, so ist es bei der Achtlosigkeit der Jugend begreiflich, daß keine Spur von ihrem Dasein in seiner Erinnerung zurückblieb, bis Lottchen seine Aufmerksamkeit und Teilnahme so schmerzlich auf sie lenkte. Wie begierig war er, die unglückliche Frau zu sehen, die, nach den Andeutungen ihrer Schwester zu urteilen, zu der schauerlichsten aller Einsamkeiten verdammt schien, sich der kranken, gepreßten Seele zu nähern und vielleicht ihr einen Trost zu bringen, den sie schon so lang entbehrt haben mochte.

Eine schweigsame Magd nahm ihm den Meldungsbrief ab und wies ihn in ein Zimmer, dessen Ausstattung man prächtig nennen durfte; Gemälde in reichvergoldeten Rahmen hingen an den Wänden umher; im ganzen Hause herrschte eine Totenstille. Heinrich betrachtete die Gemälde und blieb lang vor einer Madonna stehen; endlich vernahm er leise Tritte hinter sich und wandte sich um. Er erblickte eine Frau in den dreißigen, deren Schönheit nichts durch die Zeit verloren hatte; sie trat leise auf ihn zu, in ihren Bewegungen herrschte eine gewaltsame Ruhe, das Feuer ihrer Augen schien nicht erloschen, aber in die geheimsten Winkel der Seele zurückgedrängt, ihre dunkle Kleidung und die schwarzen Haare, welche vorn nicht aufgebunden waren, sondern in ungewöhnlichen Locken das bleiche Gesicht umringten, gaben der stillen Gestalt den Ausdruck einer starren geisterhaften Trauer.

»Sie bringen mir eine unerwartete Nachricht,« begann sie, »ich hoffe, meiner Schwester Glück wünschen zu dürfen.«

Es lag eine so abschreckende Kälte in dem Ton, womit sie diese Worte sprach, daß der junge Mann sich eines leisen Schauers nicht erwehren konnte. Nach einigen Erkundigungen sagte sie: »Sie erlauben, daß ich meinen Mann aus seinem Arbeitszimmer rufe.«

Sie verschwand, und gleich darauf erschien ein hagerer Mann mit einem Geschäftsgesichte voll Abgemessenheit und unendlich trockener Resignation, der ihn sehr förmlich bewillkommte und wohl eine Stunde lang, während welcher Amalie nicht mehr zum Vorschein kam, über die Einkünfte der Pfarrei Illingen und andere statistische Memorabilien unterhielt, ein Kapitel, worin unser Held ihm bescheidentlich das Wort überließ. Es wurde Mittag über der Unterredung, man lud ihn ein, und er blieb. Als Amalie zu Tische kam, glaubte er leichtgerötete Augen zu erblicken, aber ihr Benehmen hatte nichts, das diese Bemerkung bestätigen konnte, und sie sprach lange von gleichgültigen Dingen. Der Expeditionsrat fragte hierauf mit diplomatischer Ruhe nach seinem Schwiegervater, und Heinrich mußte allerlei erzählen. Er konnte aber nicht die rechte Stimmung finden, die Worte stockten ihm oft auf den Lippen, und es wollte ihm in dem behaglich eingerichteten Hause, an dem reichlichen Tische nicht wohl werden.

»Haben Sie,« fragte Amalie, als der Nachtisch kam, »haben Sie schon Schritte getan, seit Sie hier sind?«

»Ein unerwartetes Schicksal hat meine Wünsche sogar bereits überboten,« versetzte Heinrich und erzählte sein abenteuerliches Zusammentreffen mit dem Herzog.

Amalie sah ihn scharf an und sagte: »Mich deucht, Sie haben nicht klug gehandelt, ein sicheres Glück von sich zu stoßen.«

»Ich muß meiner Frau beipflichten,« sagte der Expeditionsrat, »Sie hätten bei der Stange bleiben sollen; man muß sich auf solche fürstliche Einfälle nicht gar zu sehr verlassen. Über kurz oder lang denkt der Herzog nicht mehr daran, und Sie sind doppelt getäuscht.«

Heinrich fühlte sich von diesen Einwendungen sehr unangenehm berührt. Nichts kommt der Jugend unwillkommener in die Quere, als wenn man den stolzen Flug ihrer Hoffnungen mit einigen prosaischen Zweifeln durchkreuzt; und dann empfand er es bitter, daß diese Menschen, die er heute zum ersten Male als Verwandte begrüßte, schon Vormundschaft und Tadel gegen ihn geltend machen wollten; er bedachte nicht, daß es eben die Verwandtschaft war, die Amalien das Recht gab, dem Bräutigam ihrer Schwester ihre Meinung unumwunden zu sagen. »Wie ich die Sache ansehe,« erwiderte er etwas finster, »so hab' ich keine Schuld. Wenn der Herzog mir den erbetenen Dienst nicht geben will, so kann ich ihm doch nicht das Messer auf die Brust setzen.«

»Für einen Diener der Kirche,« sagte der Expeditionsrat scharf genug, »sind Sie dürftig im Kirchenrecht bewandert. Wenn das Konsistorium erführe, wie gering Sie seine Macht anschlagen, so könnten Sie lang auf eine Bedienstung warten, und der gute Vater in Illingen müßte alle seine Konnexionen aufbieten, um Sie aus der Klemme zu reißen. Haben Sie denn sonst keine Briefe mitbekommen?«

Heinrich hielt ihm mit verdrießlichem Schweigen seine übrigen Kreditive hin, und der Expeditionsrat rief: »Sehen Sie, das sind ja die Hauptbatterien, die Sie zuerst hätten spielen lassen sollen: das andere ist nur eine notwendige Formalität, und daß Seine Durchlaucht Ihnen ein Schreiben an das Konsistorium abzunehmen geruhen« – der Expeditionsrat sprach diese Worte mit ironischer Miene – »das heißt etwas extraordinär vom verfassungsmäßigen Geschäftsgang abweichen.«

»Davon war ich nicht unterrichtet,« sagte Heinrich.

»Muß denn die Ente der Ente sagen, wie sie schwimmen soll?« rief der Expeditionsrat lachend. »Kann man auch so aus dem Stift hervorgehen? Nein, mein Freund, Sie werden's nie zum Spezial bringen. Es ist unerhört, eine Pfarre zu suchen und Prälaten und Konsistorium dabei übergehen zu wollen!«

Heinrich suchte den Diskurs abzubrechen, der ihm peinlich war, weil es sich allzusehr verriet, wie träumerisch er die Jahre hingebracht hatte, in welchen er nicht nur seine Fachwissenschaft, sondern auch ihre äußerlichen Handhaben hätte studieren sollen. »Sie werden mir wenigstens zugeben,« sagte er, »daß der Herzog mich heute erwartet und daß ich also vorher keinen anderen Schritt zu tun im stande bin.«

»Überdies,« fiel Amalie ein, »will es mir nicht gefallen, daß Sie die Gewißheit einer Verbindung mit Ihrer Braut so leicht hinauszuschieben scheinen.«

Heinrich fühlte sich durch diesen unverdienten Vorwurf auf der empfindlichsten Seite angegriffen; er warf den Kopf in den Nacken und wollte eben eine Erwiderung geben, die vielleicht nur zu bitter ausgefallen wäre, als man die Treppen herauf Sporen klirren und eine Arie trällern hörte.

»Das ist der Baron,« sagte der Expeditionsrat, »er ist,« fuhr er, zu Heinrich gewendet, fort, »Kammerjunker und Regierungsassessor, also, wiewohl er sich nicht viel mit Geschäften zu quälen pflegt, gewissermaßen mein Untergebener, der mich aber mit seiner Protektion zu beehren die Gnade hat.«

Ein Bedienter riß die Türe auf, und hinter ihm trat der Gemeldete ein, ein junger hübscher Mann im Reitkleide: »Guten Morgen, guten Morgen! schon gespeist? Ich komme eben von meinem Spazierritt und will nur in der Eile sehen, ob Sie noch am Leben sind. Ach, meine schöne Rätin, ich küsse die Hand: waren Sie gestern in der Komödie? Nein, Sie gingen gewiß nicht hin, ich sage Ihnen, Ihr guter Genius hat Sie abgehalten, denn, auf Ehre, das Stück war epouvantable langweilig.« – Nun folgten einige Dutzend Kulissenanekdoten, begleitet von einer Fülle leeren Konversationsschwalls. Heinrich wunderte sich über die Zungengeläufigkeit, mit unsäglich vielen Worten nichts zu sagen, war aber gar nicht erbaut von der Welt, in die er eingetreten war. Er kannte sie vom Hörensagen, er wußte, daß der Adel eine gesellschaftliche Stellung besaß, die ihm ohne Rücksicht auf persönliche Bedeutung und Fähigkeit erlaubte, die bürgerlichen Kreise zu seinen Füßen hinabzudrücken, oder auch nach Belieben sich in dieselben einzuführen, so daß selbst dieser ernste Beamte, diese unzugängliche Frau nicht den Mut in sich fanden, einen faden Gecken, der übrigens gutmütig schien, zurückzuweisen, wenn er, der Subalterne, einmal die Gewogenheit haben wollte, ihr Hausfreund zu sein. Er wußte, daß ihn hier eine Welt der Verhältnisse und Rücksichten umgab, die nicht so leicht zu bekämpfen waren; aber es widerte ihn an, diese Welt, an welcher er bisher fremd vorübergegangen war, nun in der Nähe zu sehen und zu hören.

»Sie haben Besuch?« unterbrach sich der Baron. »Scharmant! Aber Sie haben mir ja den Herrn noch gar nicht vorgestellt! Wollen Sie mir nicht die Ehre erweisen?«

Der Expeditionsrat übernahm diese Förmlichkeit, worauf sich der Baron zu Amalien wandte. »Wie, liebe Rätin,« rief er, »Sie haben eine Schwester, und ich weiß kein sterbliches Wort davon? Da sehe man wieder die Verschlossenheit der Frauen! Ist sie schön? O gewiß! sie müßte ja nicht Ihre Schwester sein! Kann man etwas für Sie tun?« fragte er eifrig zu dem Gaste gewendet, »zählen Sie darauf, daß ich meinen ganzen Einfluß aufbieten werde.« –

Heinrich dankte und erwiderte, daß er dem Ziele seiner Hoffnungen schon ziemlich nahe zu stehen glaube.

»In der Tat, lieber Freund,« nahm der Rat das Wort, »stehen Sie ihm näher, als Sie denken. Die Zeit ist vorgerückt, und Sie haben einen ziemlich weiten Weg vor sich; versäumen Sie, da es nun einmal sein soll, die rechte Stunde nicht.«

»Wieso?« rief der Baron, »Sie reden ja in Rätseln; wo wollen Sie denn unseren Freund hinschicken?«

»Er ist zur Audienz auf die Solitüde beschieden,« versetzte der Rat, »und wenn Sie es nicht ungnädig nehmen, so will ich ihn eine Strecke weit begleiten.«

»Gott bewahre!« rief der Baron lachend, »Sie sind ja Expeditionsrat! Expedieren Sie ihn in Gottes Namen!«

Er empfahl sich graziös und herablassend und schwebte wie ein Zephir von hinnen.

Auch Heinrich brach jetzt mit seinen neuen Verwandten auf. Sie verließen die Stadt und gingen der westlichen Hügelkette zu, unter Gesprächen, die unserem Freunde unerfreulich waren. Er konnte das Mißbehagen über den Gönner, der sich ihm aufgedrungen hatte, nicht verbergen und mußte es dafür dulden, daß er angesehen wurde wie einer, der aus dem Mond gefallen ist. Auch störte es ihn, Bürgerliche hier mit kalter Gleichgültigkeit von einer adeligen Bekanntschaft reden zu hören, während sie es doch nicht verhehlen konnten, daß sie innerlich davon geschmeichelt waren.

Sie bogen von der Straße ab und schlugen einen Fußpfad ein. Als dieser sich zu heben begann, trennten sich die beiden von Heinrich, nachdem der Expeditionsrat ihm seinen Weg genau beschrieben hatte.

»Bringen Sie gute Antwort zurück!« rief Amalie zum Abschied.

»Ja, und lassen Sie sich nicht irremachen,« sagte der Rat, indem er sich noch einmal umwandte. »Ihr Schicksal liegt jetzt in Ihrer Hand. Wenn Ihnen der Herzog nicht sehr glänzende Anerbietungen macht – und das wird er schwerlich tun – so halten Sie sich unverrückt auf der kirchlichen Straße und schlüpfen je eher je lieber wieder in den geistlichen Habit, ohne den Sie bei Ihren Hochwürden übel ankommen dürften.«

Heinrich versprach das Beste und eilte, von ihnen loszukommen. Erst jetzt, da er sich allein in freier Luft sah, war es ihm wieder frisch zu Mute. Der Weg, den er sich hatte weisen lassen, führte erst durch kahle Weinberge und später durch Buchenwälder, mit Eichen und immergrünen Tannen untermischt, auf moosigem Boden empor und oben gegen Nordwesten auf der Hochebene fort. Unser Freund schritt rüstig vorwärts. Nach einer Stunde sahen ihn Gipsstatuen zwischen den Bäumen an, der Jagdpark, neben dessen langen Schranken der Weg hinlief, ging zu Ende, in einiger Entfernung schimmerte das Kreuz einer Kirche hervor, und dicht am Saume des Waldes traf er auf die zerstreuten Gebäude der Solitüde.

In magna legatum quære popina.

Juvenal.

– – – Solch ein Mann hat mir
Schon längst gemangelt. Ihr seid gut und fröhlich,
– – – Drum hab' ich Euch gewählt. –
Geht, lieber Marquis, Ruhe meinem Herzen
Und meinen Nächten Schlaf zurückzubringen.

Schiller, Don Carlos.

Mit der Erbauung dieses Lustorts hatte der Herzog anfangs nur ein leichtes Landhaus beabsichtigt, aber sein rastloser, nach Vergrößerung und Erweiterung strebender Sinn machte bald eine kleine Pfalz daraus, deren heiteres und behagliches Aussehen freilich nichts von den Fronen und anderen harten Mitteln erzählte, durch welche es möglich geworden war, mit zauberhafter Schnelligkeit die düstere Einöde der fünf Eichen zu einem Tempel des Vergnügens und der Pracht umzuwandeln. Um das Schloß herum stand eine Menge verschiedener Gebäude, größere und kleinere Pavillons, darunter die Akademie, die ihre jungen Bewohner vor einigen Jahren nach Stuttgart entsandt hatte, ein Opernhaus, ein sehr langer Marstall und verlassene Kasernen für die Leibgarde des Herzogs.

Heinrich ging auf das Schloß zu, betrat die Freitreppe, die an der Vorderseite desselben emporführt, ergötzte sich an seiner leichten freundlichen Bauart und ließ das Auge über die herrliche Aussicht hinschweifen, die sich von jener Stelle in die Landschaft eröffnet. Unwillkürlich flog es zuerst nach Norden, obgleich er die Stätte seiner Wünsche und Hoffnungen nicht sehen konnte. Weit ins Land hinein tauchte dann sein Blick und glitt über Berge, Hügel und Ebenen hinweg: rechts, von Südwesten nach Osten, zog sich die Kette der Schwäbischen Alb, ihre Felsen und Vormauern von weichen Lichtern umspielt; die Landesfeste Neuffen trat vor allen scharf hervor, sie thronte luftig in stolzer Ruhe, und ihre Fenster blitzten im Sonnenschein so nahe, daß der Beobachter hineinsehen zu können meinte; links zog sich der Stromberg nach Nordosten und verschmolz in der Ferne mit den blauen Konturen der fränkischen Gebirge. Der Platz war passend gewählt für einen stolzen Fürsten, um aus den Fenstern des Schlosses fremden Gästen sein schönes Land zu zeigen. Das tempelartige Corps de Logis lag am Rande des Hügels; von hier aus führte eine Straße in unschöner, gerader Linie, ein Dorf entzweischneidend, über den Weg, den Heinrich gestern hergeritten war, nach Ludwigsburg, dessen Türme aus der Tiefe emporstrebten. Dicht daneben ragte die Festung Hohenasperg in die Höhe, so daß er von hier oben in die Wälle hineinschauen konnte; sie blinkten heiter im Sonnenlicht, aber er sah mit ernsten Blicken auf dieses Denkmal von Gewaltherrschaft und willkürlicher Grausamkeit, eine Grube, die schon oft die Opfer des fürstlichen Zorns, ungerichtet, den Landesgesetzen zum Trotz, verschlungen hatte. Hohenasperg, Hohenneuffen und Hohentwiel – drei Zwingfesten in einem so kleinen Fürstentum!

Ein Trompeterlied unterbrach den Fluß seiner Gedanken; es wurde lebendig auf dem Platze, und Heinrich las lächelnd die Inschrift, die er über sich erblickte: Tranquillitati sacrum voluit! eine Bestimmung, welcher das Schlößchen so untreu geworden war wie seinem Namen. Und doch war die rauschendste Zeit hier vorbei! Die lauten Feste, die Pracht des Hofes, das glänzende Gewimmel der Fremden, alles war verklungen und verschwunden, und die Solitüde konnte jetzt wenigstens mit größerem Recht so heißen als früher: sie war keine Stätte jubelnder Bacchanalien mehr, sie war nur noch eine belebte Einsamkeit.

Die Türe nach der Treppe öffnete sich, ein Hofbedienter, in Rot und Blau gekleidet, trat heraus und ziemlich barsch auf unseren Helden zu; als er ihn aber in der Nähe betrachtete, sagte er sehr höflich: »Ah, Sie sind wahrscheinlich Herr Roller?«

»Der bin ich. Und Sie?«

»Ich bin der Kammertürke Seiner Durchlaucht.«

»Für einen Türken,« sagte Heinrich lächelnd, »reden Sie schon recht fertig Deutsch.«

»Ich bin auch ein geborener Stuttgarter,« versetzte der Türke, – »der Herr ist jetzo ausgeritten; sowie er zurückkommt, werden Sie gerufen werden. Ist es Ihnen indessen gefällig, das Schloß zu betrachten?«

Wenn Heinrich die Meteorologie der Höfe gekannt hätte, so würde er aus diesem Empfang abgenommen haben, daß für ihn gutes Wetter im Anzug sei. Er folgte dem Kammertürken und beschaute den Saal, die Kabinette mit ihren tausend Bequemlichkeiten, mit den Polstern und Vorhängen von himmelblauer Seide, die der ganzen Umgebung einen Schein von feierlicher Heiterkeit gab, und bestieg die Kuppel, wo er die Aussicht noch reicher und ununterbrochener genoß. Hierauf zeigte ihm der christliche Muselmann den berühmten Lorbeersaal mit den Deckenstücken des gefeierten Malers Guibal und schloß ihm zuletzt den Garten auf, wo er ihn allein ließ, nachdem er ihm zu verstehen gegeben hatte, daß dies eine ganz besondere Vergünstigung sei. Heinrich wandelte gleichgültig in dem noch leblosen Raum umher, die Gewächshäuser mit ihren botanischen Seltenheiten zogen ihn wenig an, die verschnittenen Taxushecken sahen komisch steif aus und erinnerten ihn an die Soldaten in ihren abgetragenen Zwangsjacken, und die Dekorationen kamen ihm ebenfalls langweilig vor. Er verließ den Garten und ging in der Allee auf und ab; da erblickte er, zwischen den Bäumen durchschauend, eine Reiterstatue, die goldglänzend vor ihm emporstieg. An dem unbekümmerten Antlitz, der stracken Haltung erkannte er sogleich den Herzog, der sehr gut getroffen war: gerade so hatte er gestern, den Arm in die Seite gestemmt, vor ihm gehalten, so hatte er ihn angeblickt, als er fragte: »Wofür hält Er mich?« – Heinrich blieb lange vor dem Kunstwerk stehen und betrachtete nachdenklich die Züge des merkwürdigen Fürsten, mit welchem ihn ein unerwartetes und noch ungewisses Schicksal – aber heimlich mit seinen innersten Wünschen übereinstimmend – vielleicht auf lange Zeit verbinden sollte.

Unversehens klopfte ihn eine Hand auf die Schulter: »Worüber denkt Er nach?« fragte der Herzog, der in seinem grünen Röckchen von gestern hinter ihm stand.

Heinrich wandte sich schnell um und machte eine ziemlich verlegene Verbeugung.

»Da treffe ich ja zwei Statuen nebeneinander,« sagte der Herzog. »Gesteh Er mir offen: auf welchem Gedanken hab' ich Ihn ertappt?«

Unser junger Freund war noch voll von den Eindrücken, die er in der Kirche zu Illingen empfangen hatte, und die unerwartete Erscheinung des Fürsten trug dazu bei, die trunkene Stimmung, in der er sich befand, zu steigern. Er verbeugte sich tief: »Da Eure Durchlaucht mir zu reden befehlen,« erwiderte er freimütig, indem er auf die Statue zeigte, »so will ich meinen Gedanken sagen. Dieses gebietende Angesicht kommt mir noch viel edler vor, seit ich ein Bekenntnis darauf lese, das den Fürsten mit dem geringsten seiner Untertanen auf eine Linie stellt, ohne ihn doch herabzuwürdigen.«

»Und welches?« fragte der Herzog.

»Das Bekenntnis menschlicher Unvollkommenheit.«

Überrascht von dieser unerhörten Sprache, warf Karl einen scharfen Blick auf ihn; da er aber in dem seelenvollen Auge des Jünglings die reinste, hingebendste Treuherzigkeit las, so sagte er freundlich: »Er hat recht! Er hat ganz recht! Wir Gesalbten dieser Erde können ein solches Bekenntnis nicht oft und demütig genug wiederholen, denn auf der Schneelinie der Menschheit, wo wir stehen, weht eine feinere und difficilere Luft, und doch haben wir dieselben schwachen Organe dafür, wie die Leutchen im Tal. – Gehen wir ein wenig auf und ab! – Ja, was ich sagen wollte, wir Fürsten müssen die Nachsicht des Menschenkenners mehr in Anspruch nehmen, als irgend ein anderer Mensch. Was meint Er?«

»Eure Durchlaucht haben ein schönes Wort geredet,« versetzte Heinrich, der sich bei all' seinem Enthusiasmus doch weislich immer einen Schritt hinter dem Herzog hielt, »es ist eine schwere und gefährliche Aufgabe, den Donnerkeil Jupiters in der Hand zu halten, ohne dabei über das gemeine Los der menschlichen Natur erhaben zu sein, und doch! gibt es etwas Größeres, etwas, das den sterblichen Erdengott dem himmlischen näher rücken könnte, als wenn er die Macht, vor welcher ihm selbst oft bang werden muß, nicht zum eigenen Genuß anwendet, sondern zum Wohl derer, für die sie ihm gegeben ist?«

»Brav!« rief der Herzog, »weiter! Er wollte noch etwas sagen!«

»Darf ich noch eines hinzufügen, gnädigster Herr? mich deucht, dasjenige, wodurch diese Aufgabe so schwer wird, mache sie zugleich wieder einesteils leichter, nämlich der Abstand, die Schneelinie, um mich dieses Wortes zu bedienen. Ein leichtes Lächeln eines Fürsten wiegt hundertmal mehr als ein gewöhnliches Menschenantlitz mit dem vollsten Ausdruck des Wohlwollens, und das frohe Volk im Tale, das dem Los der menschlichen Schwachheit doppelt in diesem Zustand unterworfen ist, dankt nicht bloß für den warmen Regen, der seine Fluren befruchtet, es weiß auch, daß er anstatt des Blitzes gekommen ist, der drohend in den Wolken hing. O!« rief der junge Mann mit überströmendem Gefühl, »es muß ein göttliches Vergnügen sein, der Vater eines glücklichen Volkes zu heißen. Die schwerste Pflicht wird leicht, wenn sie herzlich ausgeübt und von treuen, wohlverstehenden Herzen aufgenommen wird: in diesem Sinne, durchlauchtigster Herr, erlauben Sie mir, als einzelner die frohen Gesinnungen Ihrer Untertanen bei Eurer Durchlaucht Geburtsfest auszusprechen!«

Der Herzog blieb stehen und wandte sich rasch zu ihm herum, indem er eine schnellende Handbewegung machte: »Mein lieber Magister,« versetzte er mit wohlwollendem Spott, »man sieht's Euch wohl an, daß Ihr noch auf keinem Thron gesessen seid. Das liebe Volk! Wer es kennt, denkt anders von ihm! Ich sehe nur undankbare Kinder, die ewig über die Rute schreien und mit keinem Bissen zufrieden sind, den ihnen der Vater mit saurer Mühe zugetragen hat. Seh Er um sich!« rief Karl mit stolzer Stimme, »Er kann nach keiner Seite in mein Land blicken, wo Er nicht Erweiterungen und Vergrößerungen antrifft! Ich habe zwanzig Herrschaften angekauft und württembergisch gemacht und gedenke es mit Gott vor meinem Absterben noch höher zu bringen, und dasselbe Land, das ich vermehrt und nach bestem Wissen und Willen in Aufnahme gebracht habe, klagt mich durch die Landschaft der Verschwendung an und will durch mich ruiniert worden sein. Sieht Er, mein Freund, das ist der Dank des Volkes!«

»Freilich kann man nicht leugnen,« versetzte Heinrich, »daß eine Verfassung den Plänen eines wohlgesinnten und kräftigen Regenten oft mehr Hindernis als Förderung darbietet, aber –«

»Und vollends,« unterbrach ihn der Herzog heftig, »eine solche wie die unserige! die, statt das Beste des Landes zu wahren, auf seine Kosten eine parlamentarische Dynastie heranzieht! eine Kaste voll Eigennutz und Vorurteil, weniger fürs Land bedacht, als der eigensüchtigste Tyrann! Ein Fürst steht anders da, sein Interesse geht mit dem des Landes Hand in Hand, das wird er bald genug fühlen; aber bei diesen Menschen ist es umgekehrt! sie haben eine widernatürliche Stellung, und nur durch widernatürliche Mittel können sie sich erhalten! Da muß widersprochen werden um jeden Preis, gemarktet muß um jeden Groschen werden, Beschränkung des Fürsten, das ist das einzige Register, aus dem sie ihre stilistischen Bravourarien aborgeln! Wie die Themis trägt ihre Weisheit eine Binde vor den Augen – freilich aber nicht zu demselben Zweck, denn ihre Vettern, die sie poussieren wollen, kennen sie instinktartig am Geruch! – Nein, aber den Handlungen, den Absichten des Regenten verschließen sie jedes Sehorgan, versagen sie jede prüfende Gerechtigkeit! Verderblich oder segensreich, allem wird derselbe Widerstand entgegengesetzt, jeder Schritt streitig gemacht, mit blödsinnigem Mißtrauen, wie es dem Ununterrichteten scheinen muß, aber in der Tat mit wohlberechneter Politik! denn das ist die Art, wie diese Bonzen und Paschas von so und so viel Gänsekielen sich am Ruder halten. Und das Land, dessen Deputierte sie sich schelten lassen! und die Wahlfreiheit! Ja, dafür ist seit Jahrhunderten gesorgt!«

Er tat einige Schritte, dann wandte er sich mit fragendem Blick zu seinem Begleiter herum. »Darf ich es wagen, Eure Durchlaucht,« sagte dieser, »meine Ansicht von Verfassung überhaupt auseinanderzusetzen? Verfassung ist toter Buchstabe, der seinen Wert nur durch die Interpretation erhalten kann. Die freisinnigste Verfassung ist eine nutzlose Hieroglyphe für ein Volk, das zur Freiheit nicht reif oder ihrer verlustig gegangen ist. Und die schlechteste ist gut genug für Männer! Seit Jahrhunderten haben sich die Württemberger dieses Namens nicht unwert gezeigt, wenn auch zu wünschen ist, daß unsere politische Bildung einen kräftigeren Aufschwung nehmen möchte. Nur in der Bildung ist Freiheit, nur über Freie zu herrschen, ist königlich; und könnte sich, gnädigster Herr, für einen deutschen Fürsten, der mit seiner Verfassung grollt, eine würdigere Aufgabe finden, als daß er sein Volk über diese Scheidewand hinweg in die Arme nimmt, seine Erziehung, seine Bildung vorbereitet und es leise der Mündigkeit und dem Genusse seiner Rechte entgegenführt?«

Dies war der Anfang einer ziemlich langen Stegreifrede, die dem Herzog mit leichter Beredsamkeit über die Lippen floß.

»Bildung! Erziehung!« rief der Herzog, das Stichwort rasch auffassend, »ja, das ist's! Ich sag's Ihm, Er ist auf dem rechten Wege! Erziehung ist das Mittel, und bei der Jugend muß man anfangen, die Alten taugen nichts mehr, die sind verdorben. Wollen sie mir ja doch sogar meine Akademie mißgönnen! Erziehung, und Erziehung der Jugend – das macht mich zum Vater meines Volkes. In jeden Menschen ist ein Keim gelegt, der gleich einer Pflanze der weiteren Bearbeitung überlassen bleibt. Eltern, Verwandte, Freunde sind selten zu dieser geschickt; ein Fremder ist immer ein Mietling. Glück, Unglück, Gelegenheit, oft Zufälle entscheiden. Der Glückliche findet Wege, der Unglückliche irrt meistens. Mangel an Willen, Ungewißheit, das ist der Irrweg, edle Standhaftigkeit ist der sichere Leitfaden. Es ist nicht wohl möglich, dem Großen standhaft entgegenzugehen, wenn nicht gute Erziehung den Weg dazu gebahnet hat.«

Dies war der Anfang einer ziemlich langen Stegreifrede, die dem Herzog mit leichter Beredsamkeit über die Lippen floß. Er wurde nicht müde, seinen Satz mit den verschiedensten Wendungen auszuführen, und als er geendet hatte, zog er die Schreibtafel hervor und notierte sich einige Hauptgedanken. Heinrich sah verwundert zu; er wußte nicht, daß der denkeifrige Fürst sich wachend und schlafend mit seiner Akademie beschäftigte, auch wohl gelegentlich zu den Reden, die er bei den öffentlichen Prüfungen hielt, auf solche Weise seine Reden konzipierte. Ja, wenn er geahnt hätte, daß er manches der hier gesprochenen Worte noch in dem vom Herzog mit Beiträgen beglückten »Schwäbischen Magazin« lesen würde, er wäre stolz auf seinen Hebammendienst bei dem fürstlichen Autor gewesen.

»Nun, da wir gerade von der Erziehung sprechen,« fuhr der Herzog gnädig lächelnd fort, indem er die Schreibtafel einsteckte, – »so erzähl Er mir etwas von der seinigen; zieh Er die Summe davon und taxier Er sich selbst, damit ich weiß, was ich mit einem solchen Hyperboreer anfangen soll.«

Heinrich mußte sich entschließen, die Antworten, die er dem Herzog schon gestern gegeben, noch einmal weitläufiger zu wiederholen. Hierauf erkundigte sich derselbe nach den Lebensplänen, womit der junge Mann sich bis jetzt beschäftigt, und dieser fand hier Gelegenheit, auf eine zarte Weise seiner Braut zu erwähnen, die ihm eine dauernde Versorgung jetzt wünschenswert und notwendig mache.

»Alles gut und recht!« nahm zuletzt der Herzog das Wort, »aber sieht Er, an einem fehlt's euch Herren Stiftlern samt und sonders. Ihr seid unpraktische Köpfe, und das kann ich euch freilich nicht verargen, denn ihr erfahrt zu wenig von der Welt. Die Erziehung muß immer neben der Welt, mitten in der Welt stattfinden. Zum Exempel, wie alt ist Er jetzt?«

»Vierundzwanzig, Eure Durchlaucht.«

»Sieht Er, in diesem Alter hatt' ich schon acht Jahre lang regiert. Gelt, das klingt doch anders?«

»War aber auch nicht praktisch,« dachte Heinrich bei sich. Er versicherte den Herzog seines aufrichtigen Eifers, das Versäumte auf jede Weise nachzuholen, um sich des Vertrauens Seiner Durchlaucht würdig zu machen.

»Da können wir ja gleich eine Probe anstellen, die wenig Praxis verlangt,« sagte der Herzog. »Kennt Er den Schubart? – ich meine literarisch – was hält Er von ihm?«

»Ich kann,« versetzte Heinrich, »dem feurigen Schwung seiner Muse meine Bewunderung nicht versagen, aber er beleidigt mich vielfach dabei – mit einem Wort, es fehlt ihm an durchgreifender Bildung.«

»Nun, sieht Er?« rief der Herzog lebhaft, »da kommen wir schon wieder auf das Thema von der Erziehung! Allerdings fehlt es ihm daran, und zwar in mehr als einem Sinn; er ist ein unbändiger Mensch, der weder feine Sitten kennt noch Politik, und doch will er die letztere zu seinem Metier machen. Dieser vermaledeite Journalist, der kein gekröntes Haupt zu schonen weiß, wird sich noch um den Hals reden – ich sag' Ihm, er hat's auf der Nadel! nicht bei mir, obwohl er auch gegen mich sich schon versündigt hat. Ich mein' es aber gut mit ihm, und darum will ich ihn verwarnen lassen. Zu diesem Zweck hab' ich an Ihn gedacht, mein lieber Roller! Er hat ein heiteres treuherziges Benehmen, das die Leute ansprechen muß; gegen Ihn kann man kein Arg haben. Reis Er nach Ulm, such Er den Schubart ganz gelegentlich zu treffen und geb Er ihm eins und das andere zu verstehen, nicht in meinem Namen, hört Er wohl? sondern als ein wohlmeinender Freund, der übrigens unterrichtet ist und die Sachen von der Quelle hat. Sag Er ihm, er solle in Zukunft vorsichtig nach Osten blicken, wenn er schreibt, er solle Sordinen aufsetzen, er könne es nicht mehr lang so treiben, es sei eine große Frage, ob ihn die Ulmer gegen gewisse Anfechtungen schützen könnten –«

»Ah!« rief Heinrich etwas vorlaut, »die Jesuiten –«

»Still! laß Er mich reden! Ich habe schon längst ein Auge auf den Mann gehabt; es wäre schade, wenn ein so guter Kopf zu Grunde ginge. Aber er muß sich bessern, sich kultivieren, und dazu will ich ihm Gelegenheit geben. Ich gehe eben damit um, ein deutsches Theater zu errichten; wenn er in sich schlägt, so bin ich geneigt, ihn zum Direktor und Theaterdichter zu machen. Das braucht Er ihm aber nicht auf die Nase zu binden, versteht Er? sondern Er läßt ihm nur von fern ein Vögelein davon singen. Ich würde mich freuen, den Mann gerettet zu haben; wenn er bei mir ist, so kann ich ihn schützen und will ihn schützen.«

Ein zweites und mächtigeres Weimar tauchte vor den Augen unseres entzückten Neulings auf, ein philosophischer Staat, in welchen sich Talent und Freiheit aus ganz Deutschland flüchten und, ihrer Auswüchse beraubt, der Kunst, der Wissenschaft, dem Leben eine neue glänzende Entfaltung bringen sollten. »Wie stolz,« rief er, »macht mich Ihr Vertrauen, durchlauchtigster Herr! die schleunigste Eile –«

»Nichts da!« unterbrach ihn der Herzog, »gerade umgekehrt! Er macht eine kleine Lustreise von sechs bis acht Tagen, besucht einige Gegenden, daß Er davon reden kann – wohlverstanden? – und berührt bei dieser Gelegenheit Ulm. Kann Er reiten?«

»Wie ein unpraktischer Kopf, Eure Durchlaucht.«

»Ja so,« rief der Herzog lachend, »ich habe ja gestern Seinen ritterlichen Heroism bewundert. Ich will Ihm ein altes zahmes Tier geben, mit dem Er einen frommen Ritt machen kann. – Malschütz!« rief er dem in einiger Entfernung wartenden Kammertürken zu, »besorge sogleich, daß in Stuttgart dem jungen Manne hier der Mustapha auf einige Tage überantwortet wird; der alte Klepper soll noch einmal spazieren traben.«

Der Diener zeigte ein verwundertes Gesicht und eilte hinweg.

»Morgen früh kann Er das Pferd haben,« wandte sich der Herzog zu Heinrich. »Das übrige steht in Seinem Belieben. Nun adieu, glückliche Reise!« – Er reichte ihm die Hand, und der Jüngling brachte aus vollem Herzen seinem Fürsten die übliche Huldigung dar.

Durch alte Städte tät ich wallen
Und sah die hohen Münster an.

Uhland.

Die Dunkelheit war schon stark hereingebrochen, als Heinrich von dem Herzog entlassen wurde. Er wählte die Fahrstraße zum Rückweg, mit elastischen Schritten trug ihn sein Fuß hinab. Dichte Wolkenstreifen zogen schwer und schwarz über den Himmel; wenn sie massenhafter gewesen wären, hätte man glauben können, es bilde sich, im Widerspruch mit der Jahreszeit, ein Gewitter; von Zeit zu Zeit brach der Mond, der mit ihnen kämpfte, durch den dünneren Rand hervor und goß ein zauberhaftes Licht auf den breiten Weg und leuchtete tief in den blätterlosen Buchenwald hinein. In der Seele des Wanderers war es freudenhell, und er eilte getrost durch die Schatten der Nacht hindurch. Als er nach Stuttgart kam, fand er noch alle Fenster im Adler erleuchtet, der Wirt kam ihm an der Treppe entgegen und rief: »Guten Abend, guten Abend! Ist alles glücklich abgelaufen? Haben Sie die Pfarrei bekommen? Ja, ja, ich gratuliere! Ich lese die Antwort schon auf Ihrem vergnügten Gesicht! Kommen Sie nur, es ist noch Gesellschaft da, die lustigen Vögel von gestern abend sitzen noch alle beisammen!« – Heinrich hatte Mühe, sich von ihm loszumachen, er lehnte die Einladung ab und ließ sich Erfrischungen aufs Zimmer bringen; dann bestellte er Papier und Schreibzeug und schrieb tief in die Nacht hinein einen langen Brief an Lottchen, worin gar hohe Dinge und geheimnisvolle Andeutungen konfus durcheinander liefen. Er erinnerte sie an alte Märchen, wo die einfache, in unscheinbarer Stille erzogene Unschuld plötzlich zu den höchsten Ehren gelangt, und wiederholte mehrmals, daß es keine weltliche Würde gebe, die ihrem inneren Werte gleichkommen könnte, Wendungen, welche vielleicht dazu dienen sollten, den Vater auf gewisse Ereignisse vorzubereiten, die ihm zu weit über seine Erwartungen hinaus gehen mochten, als daß sie ihm willkommen sein konnten.

Ein frischer, wenngleich nicht ganz heiterer Morgen begrüßte unseren Freund, als er das Gasthaus verließ, um in Mustaphas Gesellschaft seine Reise anzutreten, die er, der Vorschrift des Herzogs gemäß, auf Umwegen auszuführen gesonnen war. Der sanfte Schritt des alten Pferdes stellte dieselbe in einen behaglichen Gegensatz zu dem Ritt nach Stuttgart, und Nachmittags trabte der weiter fröhlich durch die Lustnauer Pappelallee in Tübingen ein, wo er sich's, nachdem er sein Pferd untergebracht hatte, zuerst angelegen sein ließ, ein Kneipchen aufzusuchen, das ihm freundliche Erinnerungen hinterlassen hatte. Von dort aus gedachte er ins »Stift« zu senden und seinen Freund Matthäus von seiner Anwesenheit benachrichtigen zu lassen, den einzigen seiner näheren Bekannten, den er noch in Tübingen zu finden hoffen konnte, einen alten Magister in den Dreißigen, der das Stipendium schon längst verlassen hatte und von einem Vikariat zum anderen herumgezogen, zuletzt aber, als er gerade keine Unterkunft finden konnte, nach alter löblicher Sitte in den Freihafen der Anstalt zurückgekehrt war, wo er unseren jungen Freund als Stubengenossen kennen lernte und die Seniorenrechte väterlich gegen ihn geltend machte. Da derselbe als Gast und Ehrenbürger den Hausgesetzen nicht mehr so streng unterworfen war, so konnte ihn Heinrich für den ganzen Abend in Beschlag nehmen. Eben wollte er, den Mühlweg heruntergekommen, um die Ecke biegen, als ihm in schwarzer Kutte eine große breitschultrige Gestalt mit gebietenden, fast wilden Zügen in den Weg trat; es war niemand anderes als der Gesuchte, der einen Spaziergang vors Neckartor zu beabsichtigen schien.

»Ehrwürdiger Senior, sei mir gegrüßt!« rief ihn Heinrich an.

»Guten Tag, Fuchs, wo kommst her?« versetzte Matthäus mit so wenig Überraschung, als ob sie sich noch vor einer Stunde auf ihrer Stube Eisleben im Stift gesehen hätten. Unser Freund, der seine Weise kannte, ließ sich durch diesen scheinbar gleichgültigen Empfang nicht aus der Fassung bringen.

»Wo wollen wir hinstreben?« fuhr der Senior in ruhigem Geschäftstone fort, indem er unter dem Ziel dieses fraglichen Strebens ein Wirtshaus verstand, »geh'n wir zur Frau? sie ist am nächsten.«

»Zu ihr wollt' ich dich zitieren.«

»Nun denn, vorwärts!«

Sie traten in das Haus, unser Freund begrüßte die »Frau«, wie man sie lakonisch betitelte, und wurde als alter Stammgast mit gemütlicher Anhänglichkeit aufgenommen, aber auch, wie dergleichen oft geschieht, mitten in der ersten Freude mit der Nachricht vom Tode eines hoffnungsvollen, eben erst der gelehrten Welt bekanntgewordenen Studiengenossen überrascht.

»Ach Gott! und was sagen denn Sie dazu?« rief sie. »So ein braver, solider, junger Mann! Der ist eben zu fleißig gewesen, was nicht gar oft vorkommt. Wie wird der Herr Lavater darüber betrübt sein! Ich kann ihn noch vor mir sehen.« fuhr sie fort, indem sie die Augen trocknete, »wie er oft so tiefsinnig am Tische saß, und wenn er wieder lustig wurde und sein Lied sang – kann ich mich doch nicht darauf besinnen, wie hieß es nur?«

»Catone, Catone
Bezwingt der Liebe Macht!«

rezitierte Heinrich lächelnd.

»Genug jetzt von den Toten!« rief Matthäus, der sich indessen in die Fensterecke vor den Tisch gepflanzt hatte, »Frau, eine Flasche ganz Guten! Setz dich, Fuchs! Jetzt erzähl, was bist, was hast vor? Siehst ja höllisch leichtfertig und weltmännisch aus in deiner Pekesche, du aus der Kutte gekrochener Schmetterling! Ich vermisse zum Kavalier nur noch die Tressen auf dem Hut und, schier hätt' ich gesagt,

Und einen Klunker dran,
Und einen Rock von Drap d'argent
Und alles so nach advenant.

Da siehst du, daß ich noch in meinen alten Tagen beim Asmus Französisch gelernt habe.«

»Eine gute Schule!« versetzte Heinrich, welcher lachen mußte. »Doch erst deine Gesundheit!« Er griff nach dem Glase und stieß mit dem Freunde an, dessen neugierige Fragen er hierauf mit allerlei Spiegelfechtereien beantwortete, indem er vorgab, er sei als Leibriese eines fremden Potentaten bei diesem schönen Wetter ins Gebirg geschickt, um dem Frühling entgegenzureiten.

»Immer noch der alte Hansdampf!« sagte Matthäus trocken, »eine Frühlingsreise, während der Winter wieder kommt.«

»Bitt' dich!«

»Ja, sieh nur, was der Himmel ein Professorsgesicht schneidet; er hat nichts Gutes vor. Bleib du ein paar Tage hier sitzen, die Frau hat einen kostbaren Roßwager eingetan, der morgen abgestochen wird –«

»Roßwager?« rief Heinrich, »dem sollte ich's freilich zuliebe tun! er ist jetzt ein halber Landsmann von mir.«

»Wie das?«

Heinrich gab keine direkte Antwort, sondern kramte statistisch-geographische Notizen aus, worin sich mehrmals die Andeutung wiederholte, daß die beiden Nachbardörfer Roßwag und Illingen Gewächse liefern, die zu den edelsten im Lande gehören. Dann brach er ab und wandte sich an den Freund: »Nun berichte du mir, Matthäus, was du im Schilde führst. Wie lang willst du noch auf deinen Lorbeeren ruhen, darüber nachsinnen, die Menschheit zu ihrem ursprünglichen Naturzustande zurückzuführen, und indessen den Anfang damit machen, daß du deinen Füchsen die Biederkeit und edle Barbarei unserer Vorfahren beibringst?«

»Ich bin dieser Lebensart satt,« versetzte jener, »es ist ein trauriges Phänomen um so einen alten Stupendiaten; ich habe nachgerade drei Dezennien auf dem Rücken und stehe in einer Epoche, wo der große Alexander mit gutem Gewissen sterben konnte. Nun lüstet's mich zwar nicht, die ganze weite Welt zu erobern, aber eine kleine Welt möcht' ich mir doch schaffen, die ich nach meiner Pfeife tanzen lassen könnte. Und dazu hab' ich nun einen Plan gefaßt: im Schwarzwald gibt's manche abgelegene Pfarreien, die zum Teil schlecht dotiert, zum Teil so einsam und traurig sind, daß auch dem ärmsten Schlucker nicht der Mund danach wässert; unter diesen will ich mir die passabelste aussuchen – du weißt, ich bin nicht verwöhnt! Das Konsistorium gibt mir sie von Herzen gern, und dann hab' ich einen Winkel, wo kein Hahn nach mir kräht, und wo ich meinen Grillen nach Herzenslust den Lauf lassen kann.«

»Freilich, und den Rousseau einführen und mit den Zigeunern leben und deine Bauern zu Wilden machen, wenn sie's nicht schon sind, und deine Kinder – darauf reflektierst du doch? – ganz ad modum Emilii erziehen!«

»Ich will es nicht leugnen,« versetzte Matthäus, »daß dieser Artikel auch in meiner Rechnung steht, ich bin ein alter Mensch und möchte ein eigen Haus haben, wenn's auch nur eine Baracke ist. Wir Kleinen müssen uns mit dem begnügen, was den Herren der Erde zu geringfügig ist.«

So plauderten und tranken sie, mit jener Genügsamkeit der Freundschaft, die das Wiedersehen nach längerer oder kürzerer Trennung für die beste Würze der Unterhaltung nimmt. Heinrich nahm sich zwar zusammen, um nicht noch mehr herauszuplatzen, als ihm bereits widerfahren war; doch konnte er es nicht verhindern, daß ihm im Laufe des fröhlich zugebrachten Abends Andeutungen entschlüpften, worunter seinem Freunde wenigstens eine so deutlich war, daß er anfing zu singend:

»Catone, Catone
Bezwingt der Liebe Macht.«

Ziemlich spät suchte Heinrich seinen Gasthof, Matthäus begleitete ihn und blieb, seine Seniorenfreiheit über die Gebühr benützend, in seiner Gesellschaft, nachdem auch dort noch eine Flasche auf das gemeinsame Zimmer gebracht worden war, ein magisterliches Übermaß, bei welchem der Herzog nicht Augenzeuge hätte sein dürfen.

Den nächsten Tag konnte unser Held nicht in der Frühe abreisen, einmal weil er sehr spät aufstand, und dann weil die »Frau« ihm zu Ehren schon Vormittags ihren Roßwager anzustechen sich anheischig gemacht hatte. Es war, wie Matthäus sich ausdrückte, der einzige Wein in allen Universitätskellern, den man würdig nennen durfte, den Valetbecher zu röten. Dieser Valettrunk wurde ziemlich langwierig, und der Wein rechtfertigte das Prädikat, das Matthäus einem schwäbischen Sprichwort entnahm: er war zäh und zwar deswegen, weil er sich nicht abbrechen ließ. Nachdem sich die beiden Freunde zum letzten und aberletzten Mal geletzt hatten, suchte Heinrich den Mustapha auf und ritt zum Neckartor hinaus, Matthäus aber kehrte ins »Stupendium«, wie er es nannte, zurück, wo den ehrwürdigen Veteranen seine drei Dezennien nicht vor drei Noten schützten, die ihm ob abnoctationem coenamque et prandium neglecta sogleich angesagt wurden. Es ist, wie wir sehen werden, nicht das einzige Opfer, welches ihm das Schicksal für seinen Freund auferlegt hat: in Lagen, wo ein treues Herz vonnöten ist, werden wir ihm wieder begegnen.

Heinrich entblößte, als er in der frischen Luft durch die Ebene ritt, das Haupt, um die Folgen von diesem Rückfall ins alte akademische Treiben verwehen zu lassen, der ihm doch für seine jetzige und künftige Stellung in der Welt nicht ganz zu passen schien. Auf der Höhe des Burgholzes angelangt, sah er die Alb vor sich liegen, an deren Fuße sich zwischen zwei einzelnen als Wachtposten vorgeschobenen Bergen die alte Reichsstadt Reutlingen entfaltete; denn diese war es, die er sich als Ziel seines heutigen Reiseabschnitts vorgesetzt hatte, indem er bei der einladenden Gelegenheit einer Irrfahrt, wie sie ihm auferlegt war, den Bürgermeister von Reutlingen, dessen schlichte Treuherzigkeit sich in sein Herz eingeprägt hatte, heimsuchen wollte. Er gönnte seinem Rosse Zeit und ließ den Blick auf den Bergen verweilen, welchen er langsam entgegenritt, das strenge, ernste Bild der Gegend in sich aufnehmend.

Der Abend brach an, als Mustaphas Huf die über einen Wassergraben zum Tor führende Brücke betrat. Das Altertum, sah er, waltete hinter diesen hohen Stadtmauern noch in seiner ganzen Macht, denn mit dem Sinken des Tages wurden schon Anstalten getroffen, das Tor zu schließen. Der Fremde, denn hier war er ein Ausländer, kam noch glücklich hinein und wandte sich an den Torwärtel, der ihn verwundert und mißtrauisch betrachtete, mit der Frage nach einem guten Wirtshaus und nach der Wohnung des Herrn Bürgermeisters.

»Welchen meint Ihr? den Amtsburgemeister?«

»Gibt es denn ihrer mehrere?«

»I freilich, wir haben noch zwei, und einen Vizeburgemeister obendrein.«

Heinrich war in Verlegenheit; da er den Namen seines Freundes nicht wußte, versuchte er eine Personalbeschreibung zu geben und begann: »Ich weiß ihn fast nicht anders zu bezeichnen, als daß er eine ziemlich große Nase hat.«

»Das haben sie alle,« versetzte der Wächter.

»Dann ist guter Rat teuer.«

»Was wollt Ihr denn von ihm?«

»Rein gar nichts, mein Freund, als ihn besuchen.«

»Wie könnt Ihr ihn denn besuchen, wenn Ihr ihn nicht einmal kennt.«

Unser reizbarer Freund war über diese Fragen ärgerlich und wollte eben aufbrausen; er besann sich aber noch zu rechter Zeit, daß er die republikanische Freiheit nicht gleich beim Eintreten vor den Kopf stoßen dürfe. »In Stuttgart,« erwiderte er, »hab' ich vor drei Tagen seine Bekanntschaft gemacht.«

»Hättet Ihr mir das gleich gesagt, so hättet Ihr nicht so lang auf Antwort warten dürfen. Ich will Euch den Weg zeigen, zum Amtsburgemeister wollt Ihr. – Judit, schließ das Tor derweil!« rief er einer stämmigen Dirne zu, »und nun kommt!« – Er ergriff Heinrichs Pferd am Zügel und leitete es durch enge Gäßchen, wo die vielstockigen Häuser und die überragenden Stadtmauern kaum einen Lichtstrahl durchließen. Jetzt durchschnitten sie eine breitere Straße, wenn man das Bett eines Baches so nennen kann, denn dieser nahm die ganze Mitte derselben ein, und an beiden Seiten waren eine Art von Kais angelegt. Heinrich mußte durch das Wasser reiten, sein Führer ging auf hölzernen Pflöcken, die daraus hervorragten, neben ihm her.

»Das ist doch eine etwas unbequeme Passage,« bemerkte der junge Reisende.

»Unsere Alten haben's so angelegt, und wir wollen's nicht anders haben,« versetzte der Wächter trocken.

Sie kamen in eine zweite Straße, die ebenso beschaffen war; hier blieben sie auf der Seite und bewegten sich an schlechtgebauten Häusern dem Lauf des Wassers entgegen. »Eigentlich,« sagte der Wächter, »wohnt er in der vordern Gass', wo Ihr durch den Bach geritten seid, aber wir müssen hinten ans Haus kommen, um das Pferd in der Scheuer einzustellen.«

»Mein Gott!« rief Heinrich und zog die Zügel an, »so ist's nicht gemeint! ich will mein Pferd in einem Wirtshaus unterbringen!«

»Das käme dem Burgemeister ›g'späßig‹ vor!« rief der Wächter. »Mann und Gaul gehören zusammen, wo der eine hingeht, muß der andere auch sein.«

Unterdessen hatte er das Pferd wieder am Zügel ergriffen und führte es durch ein schmales Gäßchen, das zugleich eine Einfahrt war, auf eine große Scheune zu, vor welcher ein paar mächtige Düngerhaufen prangten; ein kleines Gärtchen mit einigen Obstbäumen schien hier nicht am rechten Platze zu sein. Ohne eine Wort weiter zu sagen, stieß der Wächter einen hölzernen Riegel auf und zog das Pferd, von dem er den Reiter abzusitzen genötigt hatte, in den Stall, wo es von einem mutigen jungen Hengst mit drohenden Sätzen begrüßt wurde.

»Der ist nicht wie sein Herr,« sagte der Wächter, und Mustapha mußte in einer anderen Abteilung mit der nicht courfähigen Gesellschaft einiger übrigens sehr schönen Kühe vorlieb nehmen.

Der Wächter öffnete vom Stall aus das großem Scheunentor und hieß den Fremden gerade durch die Scheune gehen, von wo er ins Haus gelangen werde; dann trat er den Rückzug an, Heinrich drückte ihm schnell ein Geldstück in die Hand, das denn doch angenommen und mit einem Lüften der Ledermütze erwidert wurde. Durch die Dunkelheit tappte er dann vorwärts, fand eine offene Türe, kam in einen kleinen Hof, wo ein Brunnen stand, und hatte hier zwischen drei Eingängen in ein großes Haus und noch anderen Türen, die in Nebengebäude führten, zu wählen.

Aus einem von diesen sah er einen starken Rauch aufsteigen; es war ein niederes, rundes, turmartiges Gebäude, und als er näher trat, glaubte er den altersgrauen Rumpf einer Kapelle zu erkennen, mit einem ziemlich neuen Ziegeldach bedeckt. Er vernahm Menschenstimmen darin und beschloß, sich hier nach dem Wege zum regierenden Bürgermeister zu erkundigen. Wie er sich der Türe näherte, hörte er eine Stimme halblaut sagen: »Jetzt! stoßt ihn aus in Christi Namen! Gott bewahr uns und unser Haus!«


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