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6

Man war bisher zwischen Hecken und Knicken gefahren, nun tauchten die Sandberge der Lieth auf – vom Meer in grauer Vergangenheit, als es hin an flacher Küste wogte und brandete, aufgewühlte Dünen. Wie lange war es her? Viele Jahrtausende. Aber was sind zehn, was hundert Jahrtausende?! Wie mans ansieht, viel ist es und wenig, ein Nichts oder ein Ungeheuer.

So ungefähr hatte Harro früher mit diesen wie jagende Wellen hingewehten Bergen geredet. Jetzt verstand er es noch besser, aber alles Denken erschien ihm unzulänglicher denn je.

Erst lagen die Berge vor dem Gefährt, dann fuhr man an ihrem Fuße hin, zuletzt verschwand die Straße in einer Talschlucht des Gebirges.

Bartel hatte seine Überlegenheit wieder. Sie war die der klugen Leute, die der Natur naiv gegenüberstehen, im Gegensatz zu denen, die ihr mit Hebeln und Schrauben zu Leibe gehen. Und er wiegte und sonnte sich in dem Gefühl, wie dumm die Gelehrten doch eigentlich seien. Und der Gedanke erhöhte seine Lust, durch die Sandberge der Lieth zu fahren.

Ein paar Minuten, und man ist bei der Kate, worin Fritz Harbeck mit seiner Lena haust. Bei Lena Harbeck muß er anhalten, sie hat ihn heute früh gebeten, ihr ein Feinbrot aus der Stadt mitzubringen, da ihre Tochter mit Mann morgen besuche. Das Brot liegt denn auch wohlverpackt in der Wagentruhe.

Lena Harbeck trat gleich aus der Tür, als der Wagen um die Ecke bog, und als er hielt, stand sie dicht am Tritt – eine alte, vergnügt aussehende Frau.

Als Bartel ihr das Brot reichte, sagte er, mit halber Kopfwendung nach hinten deutend: »Kiek mal na achtern, Lena. Dor sitt een, ick glöv, den warrs kenn.«

Da gingen ihr und dem Amerikaner die Augen auf. »Harro« hieß er und »du«, just als wenn der Junge noch ein Fibelschütze und erst gestern in Harbecks Rauchkate zu Besuch gewesen sei. Es hatte ja eine Zeit gegeben, wo es so gewesen war, im Geiste der alten Frau war es jüngste Vergangenheit.

Man feierte beiderseits ein frohes Wiedersehen. Frau Harbeck fühlte sich sogar veranlaßt, ein Wort über den Familienzwist der Kanzlei fallen zu lassen, wobei sie sich in die blaue Schürze schneuzte. Sie für ihre Person habe immer gesagt: Jung und Alt – erzürnen könnten sie sich schon mal, das komme überall vor. Es müsse aber ein Ende haben mit dem Groll. Und an den Kindern sei es, sich zu beugen. »Un dat muß du ok, Harro!«

Der gemaßregelte große Junge erwiderte darauf, er wolle nicht sagen, daß sie unrecht habe. Und mit ihm und dem Alten komme es wohl noch heute in Ordnung.

Lena Harbeck lachte und griente über das ganze Gesicht und rief einmal über das andere: »Wat ward de Ol sik freun!«

Händedruck zum Abschied, und dann fuhr man weiter.

»Guck mal auf!« sagte Karl Rank zu dem Heimkehrenden. »Wer grüßt dich über die Ebene her? Ein schlaues Einauge wie damals. Ein bißchen älter geworden und nicht mehr blau, sondern grün gestrichen.«

Und richtig, der Giebel an der Scheune der Kanzlei, das Einauge noch immer weiß umrandet, er selbst in hellgrüner Farbe. Harro dachte an seine Bekanntschaft und Unterhaltung mit dem Speichergiebel von Illies & Co., der auch grün geworden war, behielt es aber in Gedanken. ›Das darfst du nicht preisgeben‹, war seine Meinung, ›das sind schmucke Seifenblasen, die man nicht berühren darf.‹

Der Wagen rollte leiser und sanfter als je, denn man war auf Marschboden, wo man die Straßen mit Klinkern pflastert. So nennt man eine Art bis zur Glasur hartgebrannter Ziegelsteinen.

Hier hätte Bartel gut hören können, aber je mehr man sich der Heimat näherte, desto stiller wurde es im Wagen. ›Die weißen Dünen liegen hinter uns‹, dachte Harro, ›wenn jemand in der Kanzlei vom Giebelfenster aus Ausguck hielte, könnte man dem Alten melden: He kommt!‹ Denn der Wagen kroch hervor aus dem Sand.

Es war alles stumm, selbst die beiden Schwarzen prusteten leiser, als fühlten sie, daß es sich jetzt nicht zieme, laut durch die Nüstern zu stoßen oder gar Schaumflocken zu werfen. Der gelbe Federwagen allein auf weiter Bahn, und die darin Sitzenden in einer Stimmung, die etwas von Andacht an sich hatte.

Harro lebte in der Erinnerung, wie er auf diesem Wege die Heimat verlassen hatte, als man die Tür der Kanzlei hinter ihm zugeschlagen. Auch die Gespräche, die er damals mit Karl geführt, wurden wie von einer Sprechmaschine wieder heraufgeworfen. Er – damals die Welt in Kraft und Stoff beschlossen haltend, ein Gottesleugner. ›Kinderkrankheit der Forscher der Natur!‹ hatte Karl gesagt, und er hatte recht gehabt. Jetzt war auch er ein Bekenner, ein Gottsuchender. › Ich will dich kennen. Unbekannter!

Und immer deutlicher der hohe grüne Giebel und sein Schmunzeln.

»Brr!« Bartel hielt. Mitten auf der Klinkerstraße. Und er drehte sich um. Und alle Schelmengeister seines Glücks liefen die feinen Schlangenlinien des Gesichts entlang, huschten in die schlauen Augen und guckten aus den Ecken.

»Kiek mal, Harro!« sagte er und zeigte mit der Peitsche die Straße entlang. »Wokeen kommt sik dor anpadden?«

Harro und Karl Rank erhoben sich im Wagen und lugten. Und siehe! Es kam ein Mann daher mit einem Handstock in der Rechten. »Wokeen is dat?« fragten sie.

»Ja, dat is he«, antwortete Bartel.

»Wokeen, Bartel?«

»Nu, de Ol!«

»Wat, min Vadder?«

»Ja, dat is Vadder, ik kenn em an sin Gang, und wosaken he den Stock ansett.«

*

Es war der Alte.

Eine halbe Stunde nach Eingang des Telegramms war ein Dienstjunge des Hofs wirklich von Hans Horsten nach dem Scheunengiebel hinaufgeschickt worden, Ausguck zu halten. Und als der Wagen gemeldet worden, hatte er seinen Stock genommen, dem Sohne entgegenzugehen.

»Muß das sein?« hatte Frau Dahm gefragt. Er hatte geantwortet: »Ja, es muß sein!« Die Gründe kramte er nicht vor der alten Frau aus, aber sie marschierten, ohne daß er es befahl, geschlossen vor ihm auf.

Der verlorene Sohn hatte sein Teil der Güter gefordert, hatte es mit Prassen durchgebracht und war erst zurückgekommen, als man ihm sogar die Treber verweigert hatte, die die Säue verzehrten. Und doch lief ihm der Vater, als er ihn von ferne kommen sah, entgegen. Wieviel mehr gezieme es ihm bei Harro, dem er die Tür des Vaterhauses verschlossen hatte!

Er ging, den Stock in der Rechten, und setzte ihn Schritt für Schritt bedächtig auf sicheren Boden. Er trug ihn als Stütze und nicht als Zierde, sein Gang war mit den Jahren steif und ungelenk geworden, nicht mehr so wiegend wie früher; die Linke zog er bei jedem Schritt kurz hinter sich nach. Daran hatte Bartel ihn gleich erkannt.

Als sie aufeinander trafen, der Fußgänger und der Wagen, der Vater und der Sohn, hatte Bartel schon bei einem Zwischenraum von etwa fünfzig Schritt angehalten. Pastor Rank begab sich nach dem Vorderstuhl hinüber, da wurde im Herrenstuhl Platz für Vater und Sohn. Harro stieg aus, dem Vater entgegen zu gehen, mit ausgestreckter Hand näherte er sich dem Kommenden.

Der Alte wußte nicht gleich, woher er den Stock tun solle, nahm ihn schließlich in seine Linke, da hatte er die Rechte frei, die bot er seinem Sohne. Und wunderlich arbeitete es in seinem alten Gesicht und in seinen trotzigen Augen.

Er bot die Rechte. »Als du weggingst« sagte er, »da, glaube ich, habe ich sie dir verweigert, nun sollst du sie haben. Und die andere auch«, setzte er hinzu. Da wollte er auch die Linke geben, der Stock fiel dabei zu Boden.

Harro nahm nicht gleich, was ihm geboten wurde, er umfaßte und umarmte seinen Vater und küßte ihn auf die Stirn. Und hob den Stock auf und nahm dann beide Hände des Alten und sagte: »Lieber Vater!«

»Bist mein lieber Sohn!« entgegnete der Alte.

Darin war alles beschlossen, was sie sich zu sagen hatten, hüben und drüben: Bekenntnis der Schuld, Bitte um Vergebung und Dank. Leuten ihrer Art wollen bei solchen Anlassen die Worte schwer über die Zunge, sie empfinden vieles Reden wohl gar als Verflachung ihrer Gefühle.

In wenigen Minuten waren sie zu Hause. Sie hatten Hand in Hand im Wagen gesessen und kaum miteinander gesprochen. Einmal hatte der Alte auf eine Marschfenne gezeigt und bemerkt: »Die gehört nun auch zur Kanzlei, die habe ich gekauft; ein guter Handel; dreitausendsechshundert der Demat.«

Vor der Haustür blieben sie allein. Bartel brachte den Wagen auf den Hofplatz, Karl Rank und Frau Dahm waren nach dem Gärten gegangen.

Vater und Sohn standen unter den Bäumen vor dem Türbogen der Kanzlei und sahen hinauf nach dem Spruch. Der war noch immer an alter Stelle, er glänzte sogar in frischen Farben. Beide standen und schwiegen. Dann sagte der Alte:

»Früher habe ich wohl nicht richtig verstanden, was da oben steht. Auch der kann Gott im Herzen tragen, der noch mit Zweifeln zu tun hat oder gar in schmerzlicher Überzeugung dessen Dasein verneint. Seine Wege mögen dunkel und trübe sein, ein Suchender ist aber auch er. Und deshalb behaupte ich, lieber Sohn« (dabei sah er Harro mit mildem Lächeln ins Gesicht), »ich behaupte, daß in der Kanzlei niemals ein ruchlos Wort von dir gegen Gott gefallen ist. – Aber nun komm! Ich habe die Tür vor dir zugemacht, ich will sie auch wieder aufmachen.«

Es entspann sich darüber ein Wettstreit zwischen Vater und Sohn. Harro wollte es nicht zugeben, aber der Alte stellte sich auf den Findling.

»Noch bin ich Herr der Kanzlei, kann tun, was ich will, und niemand soll es mir verwehren. Ich mache die Tür auf, vor wem es mir gefällt, und so weit, wie ich mag.«

Er beließ es nicht bei dem rechten Flügel, auch den linken riegelte er auf und schlug beide weit zurück.


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