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Nach der mit Johann Hell gemachten Erfahrung ging der Herr der Kanzlei einige Tage nachdenklich einher – wunderlich, daß er den Gedanken nicht loswerden konnte: ›Was würdest du tun, was müßtest du tun, wenn dir das mit Harro passierte?‹ Eine ganz lächerliche Sorge, denn Harro, sein Sohn, wurde Priester des Herrn; aber sie wollte nicht schweigen. ›Es ist so gut wie ausgeschlossen, aber, wenn es doch geschähe, ich müßte mit ihm tun, wie mit dem Knecht.‹ Und dabei gedachte er seines Lebens und des Spruchs über der Tür der Kanzlei. Das Dach der Kanzlei kann sich nicht über Menschen breiten, die Gott vergessen. Steht doch im Buche Mosis geschrieben: ›Die verkehrte und böse Art fällt von ihm ab‹ – ›Und wer zu seinem Sohn sagt, ich weiß nichts von ihm, der hält meine Rede und bewahret meinen Bund.‹ So ungefähr wenigstens mußte es lauten. Er hatte es vor seiner Gymnasialzeit als Schüler der Halligen (die Schule war auf einer Nachbarinsel, auf schwankendem Boot fuhr er hinüber), als Volksschüler der Halligen hatte er den Spruch, oder richtiger die beiden Sprüche, gelernt.

Glücklicherweise endigte all dies Denken und Grübeln, so oft es auch in ihm aufstieg, mit Spott und Lächeln über sich selbst. ›Wo denkst du hin?‹ rief er sich an. ›Lob und Dank dem Vater in der Höhe, das wird nicht geschehen! Harro ist ein Mann nach meinem Schlag, er wird ein Prediger des Herrn. Seine Studien sind zu Ende, und jeden Tag darf ich die Nachricht erwarten, daß er das Examen hinter sich hat.‹

Sein eigener Sohn ... Wie glücklich fühlte er sich, sich mit ihm eines Sinnes zu wissen. Er hatte ihn in der Furcht Gottes erzogen und wußte ihn auf dem schmalen Pfad. Er durfte hoffen, noch vom Himmel herab nach seinem Hingange den gottgefälligen Wandel seines Sohnes zu sehen und dabei die ewige Seligkeit zu empfinden, tiefer zu fühlen als andere, die mit ihm in Gottes Nähe weilten. Und wenn dann auch seines Sohnes Stunde schlage, wollte er der erste sein, der ihm die Hand entgegenstrecke, wollte sagen: »Das hast du gutgemacht, und deshalb hat dich der Herr gesegnet.«

Was Harro anbetraf, da fühlte er sich sicher und stolz.

Es war bei den reichen Bauern der Marsch Sitte, ihre Söhne eine Zeitlang zur Erlangung des Berechtigungsscheines die Gelehrtenschule des zunächst gelegenen Städtchens besuchen zu lassen. Hans Horsten aber, als die Zeit für Harro gekommen war, erinnerte sich der Anfechtungen, die ihm selbst erwachsen waren, und wählte eine Anstalt im Norden der Provinz, die auf streng christlicher Grundlage beruhte. Selbstverständlich war es sein Wunsch gewesen, seinen Einzigen als Besitznachfolger zu sehen, ihm das kostbare Stammgut der Mutter zu hinterlassen. Harro aber wünschte zu studieren. Erst wollte der Alte nicht, später aber war er es doch zufrieden.

Die Kanzlei kam ja von der Familie seiner Frau, die Boie hieß, her, nun gedachte er einen Brudersohn der Verstorbenen zu sich zu nehmen. Der sollte der Erbe seines Hofes zur Bruder- und Schwestertaxe werden, sollte zu seinem eigenen Namen ein ›Horsten‹ hinzufügen, so daß das Gedächtnis beider Familien auf der Kanzlei fortlebe.

Er war damit zufrieden, daß Harro studierte. Nach Meinung Außenstehender war eine Art Kampf vorhergegangen, in dem der Alte unterlegen, aber es handelte sich um eine freiwillige Unterwerfung. Hans Horsten hatte in den paar Jahren, wo Harro nach der Gymnasialzeit in der Landwirtschaft beschäftigt gewesen war, erkannt, daß sein Sohn zum Bauern nicht tauge, die Kanzlei, deren Bebauung er mit einer Art Andacht betrieb, daher bei dem Neffen besser aufgehoben sei, als bei ihm. Ein Bauer, der von den Büchern nicht wegfinden kann, der ist wie das Ansaugen des Mauerschwamms an den Grundpfeilern des Besitzes. Zugleich tauchte das Ideal seiner eigenen Jugend wieder vor ihm auf, Verkünder zu sein vom Worte Gottes. Denn ein rechter, ein lauterer Verkünder seines Wortes stand am Ende nicht viel niedriger als der Besitzer der Kanzlei. Und je mehr er sich mit der Möglichkeit befreunden mußte, seinen eigenen Sohn in anderer Lebensstellung zu sehen, um so erhabener und höher erschien ihm das Amt eines Geistlichen. Und endlich kam er sich unter den Seligen doppelt wichtig vor, wenn er im Himmel Arm in Arm mit den heiligsten Männern hinunterdeuten durfte auf den Kanzelmann im schwarzen Ornat, der gewaltig predigte und nicht wie die Schriftgelehrten, hinweisen auf den Redner, an dessen Mund alle Hörer hingen: das sei Harro Horsten sein einziger Sohn.

Hans Horsten teilte also seinem Sohne mit, er wolle seinem Wunsche nicht länger widersprechen. »Natürlich ist die Bedingung«, setzte er hinzu »daß du Theologie studierst.«

Das war für Harro Mehltau auf die junge Blüte. Er war zwar in einer Art Isolierraum aufgewachsen, aber es waren doch allerlei Sporen von Dingen hineingeweht, die die Welt kannte, Keime und Samenstäubchen waren ihm zugeflogen, die in dem Katechismus Lutheri nicht vermerkt waren. Harro hatte die Klänge einer hinter den Kulissen lärmenden Welt vernommen, das Rauschen eines an ihm vorüberbrausenden Stromes. Der liebe Gott war zwar für ihn noch immer Schöpfer und Erhalter der Welt; von den in der Natur waltenden Gesetzen war ihm aber so viel Kunde geworden, daß er sein Hauptinteresse der Art und Weise zuwendete, wie das Wunderwerk der Schöpfung in der frischen Herrlichkeit des ersten Tags erhalten und fortentwickelt werde.

»Natürlich ist die Bedingung«, hatte der Alte gesagt, »daß du Theologie studierst.«

Im Flug zog es durch Harros Gedanken: ›Darfst du, kannst du?‹ Und er kam zu dem Ergebnis: ›Ja, du darfst. Was du als Fach zu betreiben verhindert bist, darfst du als Liebhaberei immerhin tun. Wie viele Pfarrstellen gibt es nicht, die Zeit und Raum dafür bieten!‹ Den großen Gott der Kindheit trug er im Herzen, wenn auch nicht in der starren Fassung wie sein Vater.

Dem Alten fiel das Zögern und Überlegen des Sohnes auf, er hätte gern erraten, was in dem jungen Kopf vorgehe. Er wurde beinahe ungeduldig »Willst du?« fragte er.

Aber Harro antwortete nicht sofort. Er überlegte weiter. ›So‹, dachte er, ›siehst du die Sache jetzt an. Aber dein Sinn kann sich wandeln. Wer weiß, ob es in deiner Macht steht, ein glattes Versprechen zu halten?‹ Deshalb antwortete er schließlich: »Vater, ich will deinen Wunsch erfüllen, wenn es in meiner Macht steht.«

Da nahm Hans Horsten für eine unbedingte Zusage allein mit dem Vorbehalt äußerer Hindernisse, wie sie ihm selbst entgegengetreten waren. Und er antwortete: »Wenn es dem Herrn gefällt, unsern Plan zu vereiteln, dann müssen wir uns beugen.«

Das war eine Antwort, die dem Sohn wiederum nicht das sagte, was der Vater im Sinne hatte. Harro schwebte der Spruch vor, wonach der große Gott die Herzen der Menschen lenkt wie Wasserbäche. Und halb dachte er dabei den Gedanken zu Ende, daß er durch des Vaters Wort gedeckt sei, falls der Herr ihm die Kraft zu dem von seinem Vater gewollten Lebensberuf versage.

Mit Primareife war Harro von der Schule abgegangen, einer seiner früheren Lehrer unternahm es, ihn zum Reifezeugnis zu bringen; und es gelang in verhältnismäßig kurzer Zeit. Inzwischen war er mündig und selbständig geworden. Das reiche mütterliche Erbe stand ihm zur Verfügung, und bei der Auseinandersetzung mit dem Vater war diesem der Hof, ihm dagegen ein ansehnliches Kapital zugefallen, Harro war ein unabhängiger Mann. So verließ er Vaterhaus und Heimat, und das Gefühl der Freiheit gab den jungen Schwingen so viel Flugkraft, daß er beide für lange Zeit vergaß.

Er besuchte eine berühmte, im Süden unseres deutschen Vaterlandes belegene Universität. »Für einige Jahre werdet Ihr mich wohl nicht sehen«, schrieb er seinem Vater, »und wenig von mir hören. Einen Teil meiner Ferien soll der Arbeit gewidmet sein, der andere kleinen Reisen und Ausflügen. Deutschland, wonach von Kindheit an mein Sehnen stand, seine Gaue will ich kennen lernen und diese Kenntnis auch auf ein paar benachbarte Länder ausdehnen.«

Und so geschah es; die nach der Kanzlei und umgekehrt hinüber und herüber wechselnden spärlichen und knappen Mitteilungen und Erkundigungen beschränkten sich im wesentlichen auf die Feststellung beiderseitigen Wohlbefindens.

Die heimatliche Seelsorge lag in den Händen eines alten, liebenswürdigen Herrn. Pastor Raus Beziehungen zur Kanzlei waren nicht intimer, aber doch freundlicher Art. Intim konnten sie nicht wohl sein, denn dazu war Hans Horsten viel zu sehr geistiger Einspänner, dazu berücksichtigte er religiöse Interessen in einer Weise, die selbst für Pastor Rau über das erträgliche Maß hinausging. Ab und zu erkundigte dieser sich nach dem werdenden Amtsbruder Harro. Ob er denn gar nicht die Landesuniversität Kiel besuchen wolle, was sich bei einer Anstellung im Dienste der Landeskirche empfehle? Hans Horsten wußte davon nichts, nahm sich aber vor, zu schreiben, und vergaß es wieder. Für die Formalien des Berufs hatte er kein Gedächtnis.

Der Briefwechsel mit Harro war spärlich. Rein äußerlich betrachtet, konnte ihr Verhältnis zueinander kühl scheinen und ohne die rechte Liebe. Aber das war gefehlt. Was Kühle und Kälte schien, war Verschlossenheit und innere Selbständigkeit. Denn der junge Horsten fuhr in seiner Gedankenkarre auch gern allein. »Laß ihn!« dachte Hans Horsten. Und immer mehr verliebte er sich in seinen Zukunftstraum: Harro, der große, schöne, braungelockte Mann auf der Kanzel, in schwarzer Priestersoutane, die Ärmel weit und faltig, wie der Güte und Weisheit, aber auch der Allmacht Gottes voll – in Milde und Barmherzigkeit für die reuigen Sünder ausgebreitet, für die Bösen und Halsstarrigen aber zur Warnung dräuend erhoben, zum Schluß in schwingender Bewegung über die Gemeinde hingestreckt, das schöne, jugendliche Haupt auf rundem, weißem Priesterkragen wie auf einem Teller, mit machtvoller Rede in die Seelen der ihm überantworteten Menschenkinder greifend – er selbst aber, Hans Horsten von der Kanzlei, im reich geschnitzten Familiengestühl zu den Füßen des gottbegeisterten Redners, äußerlich demütig, innerlich stolz und gehoben, er, der Vater des Mannes, von dem das hallende Wort ausging, das die Hörer erschütterte, als sei es ein Widerhall von der Stimme des Ewigen, wenn er sich im Wetter offenbart. Und, wenn dann die Menge aus den Kirchentüren ins Freie quillt, er mit ihr in gebrochener Demut, in vereinsamter Achtung, unter dem Druck aller auf ihn gerichteten Augen, ein Druck, der nicht drückt, sondern hinaufhebt wie Flügelschlag: »Das ist sein Vater, der reiche Hans Horsten von der Kanzlei.« Noch immer sind die Herzen voll des Gehörten, nur hier und da setzt ein weltlich Gesinnter der allgemeinen Ehrfurcht die neidischen Worte hinzu: »Ja, wenn ich dem sein Geld hätte!«

Der schöne, braungelockte Mann ... So stellte er seinen Harro auf die Kanzel. Wenn man dies und das auf Rechnung der Vaterliebe stellte, mochte es hingehen, denn Harro war auch äußerlich ein ansehnlicher junger Mann. Eigentlich war es aber das Abbild von Emil Rau, oder vielmehr: es war die Jünglingsgestalt des Geistlichen, der jetzt bald seine dreißig Jahre lang das Seelenhirtenamt versah.

Auch mit Pastor Raus Predigt war Hans Horsten im allgemeinen zufrieden. Denn wenn Rau auch nicht grade darauf ausging, die Sätze des lutherischen Dogmas zu betonen, so unterschlug er doch auch, wo es not tat, davon nichts. Und nicht leicht löste man die Wurzelhäkchen seiner sittlichen Lehren aus dem Herzen. Denn sie gingen tief; mit entschiedenen, wenn es sein mußte, auch eckigen und schlagenden Gesten hämmerte er sie fest. ›Ein Diener des Herrn, wie Pastor Rau, Verkünder des ewigen Worts, wie der, das wird, das soll meines Sohnes Zukunft sein!‹ Und deshalb stellte er ihn jung und braungelockt (Harros Haar war wirklich leicht gewellt) auf die Kanzel.

So flog an dem Wirt der Kanzlei in seinem Zimmer, angesichts seiner Zeichnung vom ewigen Gott, das Andenken an seinen Sohn vorüber ...

Es war viel Träumerei dabei, denn eigentlich war die Seele seines Harro für ihn ein verschlossenes Buch. Erfahrungsgemäß will es grade den Leuten eigener Art am wenigsten einfallen, daß auch die, die nach ihnen kommen, etwas Eigenes zu vergeben haben. So konnte er denn glauben, in seines Sohnes Seele wie in einem Buche zu blättern, obgleich er nur die Seiten seiner eigenen Gedanken las.

Der Alte konnte jeden Tag von seinem Sohn Mitteilung über den Abschluß des Studiums erwarten. Eines Tages humpelte denn wirklich der buckelige Schneider des Dorfes, der Depeschenbote der Post, über die Steinplatte, die vor der Haustür lag, in das Haus und in die Stube hinein, und legte dem Herrn der Kanzlei ein Telegramm auf den Tisch: »Habe gutes Examen gemacht, es ist ein kleines ›Aber‹ dabei, darüber mündlich. Harro.«

Da war sie also, die Überraschung, die freudige Überraschung seines Sohnes. Schmunzelnd legte der Alte das denkwürdige Papier in seine Schatulle und entnahm daraus als Trinkgeld für den Glücksbringer einen Taler, dabei auf die lange, kostspielige Drahtnachricht scheltend. Das war aber nicht ernsthaft gemeint.

›Was dabei ist, was wirds sein? Hat wohl mehr Geld gebraucht, als ihm lieb ist. Nun, darüber kann man sich einigen.‹ So dachte Hans Horsten. Er war reich genug, seinen Traum zu bezahlen.

Er erwartete die Ankunft seines Sohnes, aber zweimal lief die Nachricht eines Aufschubs ein. Harro wollte erst alles an der Universität in Ordnung machen und das Prüfungszeugnis mitbringen. Endlich kam die bestimmte Meldung seines Kommens. Wieder durch Draht, eine lange Depesche, worüber der Alte in guter Laune seine Glossen wiederholte.

Und dann brach der große Morgen des frohen Tages an.


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