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Daniel Dark, aus einem Jugendland

Erster Teil

1

Er war noch klein und unerwachsen, besuchte zwar die Dorfschule, war aber noch weit unter dem schulpflichtigen Alter. Ueberhaupt gehörte das, was zunächst dem Ofen, auf der untersten Bank, an meist hellhaarigen Buben und Dirnchen vor der Fibel saß, in die Kleinkinderbewahranstalt, deren Verwaltung der Lehrer Vollborn sozusagen im Nebenamt und unentgeltlich mitbesorgte.

In der Religionsstunde mußten die Kleinen stille sitzen und ruhig sein und zuhören, behalten, was sie verstehen konnten, fallen lassen, was zu hoch für sie war. Das meiste ließ Daniel fallen, aber die Wundertaten unseres Heilands hielt er fest. Sie weckten Bilder in ihm, und am besten tat es das Gehen des Erlösers auf den Wassern vom See Genezareth.

Gichtbrüchige heilen, Lahme und Blinde, dafür fehlte eigene Anschauung. Daß aber das Gehen eines Menschen auf dem Wasser ein wirkliches Wunder sei, begriff er, seitdem er einmal in die hinter ihrem Hause fließende Au gefallen und sicherlich ertrunken wäre, wenn Hans Timm Weber ihn nicht herausgezogen hätte.

Seines Vaters Haus lag an der Dorfstraße, eine alte Scheune schaute aber nach hinten über den Kohl- und Gemüsegarten in ein Wiesental, das ein Bach, ›Au‹ genannt, nämlich die erwähnte Au, durchfloß. Auf der anderen Seite sah man ansteigende Äcker und Weiden und ein paar alte Eichen mit krauser, windzerfaserter Krone. Wenn nun vom See Genezareth und dem Schreiten des Heilandes über die Wogen die Rede war, dann verlegte Daniel Dark es nach dem Wiesental hinter den Kohlhof, das er in seiner Vorstellung freigebig mit Wasser füllte. Den Erlöser sah er groß und herrlich, in einem himmelblauen Gewand mit purpurnem Ueberwurf, eine leuchtende Strahlenkrone um das Haupt, in hehrer Majestät über die Wellen wandeln. Gewand und Krone gab dabei das Titelblatt von der Hauspostille her, worin die Mutter Sonntag für Sonntag las.

*

Mitten in die Ruhe solcher Gedanken und Bilder fiel ein großer Lärm. Der junge vermögende Bauer Friedrich Stabe nahm eine Frau und gab große Hochzeit.

Eine Hochzeit, wie die, war noch nicht dagewesen. Wo war jemals ein ganzes Kirchspiel zum Hochzeitsschmaus geladen worden? Kaffee tags und Warmbier nachts, das kannte man wohl, aber warmes Mittagessen für alle, und weit ausgreifend die Gäste gebeten! Auf allen Hofstellen standen die ausgeschirrten Gespanne der fremden Gäste, bei Vater Andreas Dark allein sieben, die Pferde mußten zum Teil im Kuhstall untergebracht werden.

Andreas Dark besuchte sonst keine Gelage und genoß keine geistigen Getränke. Nun aber mußte er seine Gäste nach dem Hochzeitsschmaus begleiten, mußte ihrem Zutrinken Bescheid tun und auch zutrinken, mußte, mit einem Wort, mitmachen, was alle machten, und da tat er (so hat er es immer eingeschätzt) einen Sündenfall, geriet in den Zustand der Besessenheit und Knechtschaft, mit einem Wort: er betrank sich.

Danielchen war natürlich zu Hause geblieben, aber auch dort nahm das kleine Menschenkind mit Erstaunen wahr, was eine Essenhochzeit mit sich bringe. Tags hatte er sich mit den fremden Pferden und den fremden Knechten angefreundet, sich in den Ecken vor den fremden Leuten herumgedrückt, in der Nacht lärmten wilde Hochzeitswagen unter den Fenstern der Stube vorüber: Gesang, Gelächter, Peitschenknall, laute und auch wohl rohe Worte. Die halbe Nacht Gäste im Hause, die anspannen ließen und die Befehle zweimal, dreimal widerriefen, sich verabschiedeten und immer wiederkamen, sich erzürnten und wieder vertrugen, alles in der Geniestimmung der Trunkenheit.

Er lag im Wandbett und hörte alles mit an. Mit den letzten Gästen kam auch der Vater. Alles gröhlte und schrie der Vater auch.

Er mochte seinen Ohren nicht trauen. Das war nicht sein immer ernster, den Mund selten zu einem Lachen verziehender Vater. Der so ausgewechselte Vater sang sogar, sang mit harter, heiserer Stimme, und hatte doch sonst so runden, vollen Klang. Daniel hörte das alles, war aber mehr erstaunt als erschrocken, konnte den Vorgang nicht deuten; er wußte nicht, was das zu sagen habe.

Die Mutter nahm es nicht tragisch. Sie lachte. Nachbar Hans Wendel lachte auch und sagte: »Jung, Andre, das hab ich gar nicht gewußt, daß du so schön singen kannst, bist ja ein verdeuwelter Kerl!« Dabei schlug er Vatern auf die Schulter. Man rief nach Schnaps, man brachte Gläser und Flaschen. Gluck, gluck! fiel es in die Gläser, die wurden aneinander gestoßen. Wendel trank, und Vater trank auch.

»Jung, Andre«, das war das letzte, was Daniel hörte. Das und den Lärm und den Singsang nahm er hinüber in seinen von keiner Trunkenheit und keinem Lärm verunreinigten unschuldigen Traum.

Am folgenden Morgen rieb sich Vater Andreas die Stirn, war aber sonst wie immer, scheinbar wenigstens. Es muß aber doch wohl bei ihm nicht ganz in Ordnung gewesen sein, sonst hätte das, was nun geschah, nicht vorkommen können.

Es war am hellen Vormittag. Eine blanke Junisonne füllte die Wohnstube mit Licht. Daniels Erinnerung daran blieb klar, so daß er sein Leben lang, wenn er an den Tag dachte, die Sonnenstäubchen in den Lichtbändern der Fenster sah.

Ein schöner Tag. Da kamen die Nachbarn Hans Wendel und Peter Kahlke – nein, ›kamen‹ ist nicht der richtige Ausdruck: sie brachen ein in den Hausfrieden, sangen, tanzten über die Schwelle, die Gesichter rot und feucht, von Schweiß oder Branntwein. Bauern waren es in angegrautem Alter, sonst ordentliche Leute, nun aber trunkene Männer. Sie waren die Nacht nicht zu Bett gewesen, gingen im Dorf herum ›auf Branntwein‹ wie nach einer etwas wilden Dorfsitte Leute nach wüsten Gelagen taten, die ihr Gleichgewicht nicht wiedergefunden hatten, es auch für den angebrochenen Tag nicht wiederfinden wollten. Sie erbaten und erhielten, Haus bei Haus, Schnaps. Und nun kamen sie zu Vater und verlangten, daß er mit ihnen gehe.

Er wollte nicht, da sagten sie, dann sei er ein schlechter Kerl. Auch das hätte ihn schwerlich bewegen können, wenn er der alte ordentliche Andreas gewesen wäre. Aber in seinen Sinnen und in seiner Seele tobte wohl nach, was er am vorhergehenden Tag erlebt hatte. Ein schlechter Kerl wollte er nicht sein. Er verleugnete sein Leben, seine Vergangenheit, zog seine Stiefel und seine Jacke an und dafür seine Grundsätze aus. So ging er mit zwei betrunkenen Leuten zusammen auf Branntwein.

Nach drei Stunden kehrten sie zurück, den Vater in der Mitte.

Ja, der Vater, aber in welchem Zustande! Die Jacke sandig und schmutzig, die Augen stier und starr, der Atem heiß wie der Dunst der Destille – betrunken.

Wendel und Kahlke und noch einer aus dem Dorf, der sich angeschlossen hatte, waren es wohl nicht minder, sie wußten es aber mit mehr Würde zu tragen. Das mochte die Gewohnheit tun, sie waren auch sonst nicht so ausgesuchte Tugendbolde wie Andreas Dark, standen nicht auf so schroffer Höhe, ihr Sturz war daher nicht so tief wie bei ihm.

Aber Daniels Vater! Er tanzte, versuchte es jedenfalls, es war der Tanz eines Bären. Um seine Frau tanzte er herum und meckerte: »Mutter, soll ich noch ein bißchen wieder mit?« Es war sonst nicht seine Weise, um Erlaubnis zu fragen, nun tat er es. Und seine Stimme: nicht einmal scharf und heiser, nein, hoch und piepsig, in die Fistel umschlagend. Daniel hat später immer, wenn das wüste Bild in seiner Erinnerung aufstieg, denken müssen: ›Wo hatte Vater doch einmal die hohe feine Stimme her?‹

Grete Dark war eine frische Frau, hatte auch Humor. ›Laß ihn‹, dachte sie, ›ich kenne meinen Andreas. Laß es ihn gehörig auskosten, um so mehr wird es ihm nachher über sein.‹

»Ja, Vater«, antwortete sie, »du darfst. Aber erst will ich dir anderes Zeug geben. Und dann heißen, schwarzen Kaffee kochen, der tut euch allen gut.«

So wurde es. Vater bekam einen reinen Anzug, alle tranken Kaffee, und dann ging es mit Gröhlen und Hallo weiter auf die Schnaps- und Branntweinfahrt. Zu Hause sah und hörte man nichts mehr von ihnen, aber ab und zu flog ein wilder Ton im Dorfe auf. Das mochte wohl die Branntweingesellschaft sein.

Nachts vernahm Daniel ein Gepolter. ›Das kann der Vater nicht sein!‹ dachte er. Aber es war der Vater. Die Mutter stand auf und brachte den Trunkenen zu Bett. Eine weinerliche, klagende, die Mutter um Verzeihung bittende Männerstimme. Der Vater war in dem Zustande, den man das ›besoffene Elend‹ nennt, der Umschlag der Geniestimmung in Weltschmerz und Selbstanklage – dem Kind im Wandbett ein neues Rätsel. Schluchzen und Klagen, und dazwischen die Mutter: »Man still, man still, es ist ja nicht so schlimm, einmal ist keinmal!«

Mehr hörte Daniel nicht. Er hatte Angst, er meinte, die Welt müsse untergehen, war aber viel zu müde und schlaftrunken: die Stube und der Vater und die Mutter und die Welt versanken in nichts.

Am Mittag des anderen Tages saß Andreas Dark am gedeckten Tisch und sah krank und bleich aus. Daniel wagte kaum die Augen aufzuschlagen, er schämte sich, ohne zu wissen, daß er es in der Seele seines Vaters tat.

Als die Suppe aufgetragen war, faltete die Familie nach Hausgebrauch die Hände zum Gebet. Sonst blieb es bei der stummen Andacht, nun aber betete Andreas Dark laut. Er hatte seine schöne, treuherzige, demütige Stimme wieder, es ging aber ein Zucken und Zittern hindurch, es wird das Zucken der Zerknirschung gewesen sein.

»Vater im Himmel«, betete er. »Ich sitze hier bei Frau und Kind vor Gaben, die du bescheret hast, ich aber nicht verdiene. Ich danke dir, daß du sie mir doch gibst. Ich sitze auf meinem Stuhl, sollte aber vor dir im Staube liegen, auch vor Frau und Kind. Großer Vater, dein Wesen ist Güte. So sei auch mir ein gütiger Gott!«

Der Mittag wurde stumm gegessen; erst beim Abräumen nahm die Mutter das Wort. Sie war eine nett und appetitlich aussehende Frau mit braunen Augen und dunklem Haar, nicht viel älter als Mitte der Dreißiger. Auf ihren Zügen lagerte immer eine Art Feenglanz der Güte. Mit einer Tracht Schüsseln stand sie vor der nach der Küche führenden Tür, als sie sich nach ihrem Manne umwendete und ihr Trostwort wiederholte: »Nimms nicht so schwer, Andre! Es war nicht so schlimm, und einmal ist keinmal.«

Der Vater sog, das merkte Daniel, so klein er auch war, sog dankerfüllt die schlichten Worte ein. Andreas Dark war ein langer, magerer Mann mit lichtem Haar, im Beginn der Vierziger, kränklichen Gesichtsausdrucks. »Bist meine gute Frau, da hoff ichs zu überwinden«, erwiderte er. »Ich werde aber lange daran zu tragen haben.«

Nachmittags stand Daniel mit Lena Ellernbrook und Hans Plöhn, die in der Schule seine Banknachbarn waren, und mit dem größeren Johann Butenop in dem Kohlhof an seinem See Genezareth. Lena Ellernbrook und Hans Plöhn und auch Johann Butenop haben immer gesagt, es sei gar nicht wahr, die Wiese sei so trocken gewesen wie immer, und das Heu darauf habe in Diemen gestanden. Daniel aber hat es gesehen, Daniel Dark weiß es besser. Der Vater stand nicht weit von ihm am Rande des Sees, und die Wellen (es war ein wirklicher, ein hochgehender, schäumender See) stürmten und planschten wild und hoch gegen die Ufer. Und da kam der Herr Jesus Christus, angetan mit dem himmelblauen Gewand und dem Purpur, die Strahlenkrone über dem Haupt, auf den wogenden Wassern zu Daniels Vater hergeschritten, legte den Arm um dessen Nacken und sagte gütig und vergebend, just wie die Mutter getan: »Nimms nicht so schwer, Andre, es war nicht so schlimm. Und einmal ist keinmal.«


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