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2

Und dann saßen sie in demselben Zimmer, wo derzeit das Gottesgericht stattgefunden hatte, vor derselben Schatulle und der alten Zeichnung vom Odem Gottes. Und auf derselben Ausziehplatte, die als Unterlage für die Lohnberechnung gedient hatte, schrieb Hans Horsten die Handschrift über die Nachfolge von Peter Jansens Pacht. Und oben auf der Schatulle stand die Bibel, und ein Lesezeichen sah aus den Blättern hervor etwa in der Gegend, wo das fünfte Buch Mosis zu finden ist.

Die Handschriften waren fertig unterschrieben und ausgewechselt. Die Vertragschließenden gaben sich zur Treuhaltung Wort und Hand. Dann wollte Johann gehen, aber Hans Horsten hielt ihn zurück. Die Schatten der alten, in der Stube geschehenen Vorgänge stiegen vor ihm herauf.

Johann hatte damals die Menschen und ihr Wesen mit Spielschiffen verglichen, deren Stahlkiel sie tüchtig mache, den Winden zu widerstehen. Von Ballast hatte er geredet, vielleicht auch von Stehaufmännchen, Hans Horsten wußte es nicht mehr genau. »Man muß es in sich haben, dann kommt man nicht zu Fall«, so ungefähr hatte Johann es zusammengefaßt.

Wie es wohl jetzt um dessen Gottesglauben stand? Sein Angesicht schien ewig klar und spiegelrein und eben, von Kämpfen und Siegen und Unterliegen stand nichts darin.

Der Herr der Kanzlei vergrub sein Auge in die Glücksmiene seines Gegenübers. Er dachte an Harro, und das Herz tat ihm weh.

»Weißt du noch, Johann«, sagte er, »wie wir uns in dieser Stube trennten, trennen mußten?«

Johann lächelte. Einen Augenblick fühlte er sich seinem alten Wirt gegenüber befangen, er hatte ein Gefühl wie etwa der Rekrut vor dem Feldwebel, wenn er seine Knochen zusammennehmen muß. Und wie ein Zollstock, zweimal annähernd rechtwinklig eingeknickt, saß er auf seinem Stuhl.

Aber es dauerte nicht lange, dann war er wieder der, der sich selbst zugehörte. Er lächelte nicht nur, er lachte beinahe: »Das weiß ich noch recht gut«, antwortete er, »ich hatte nicht den rechten Glauben.«

»So war es. Du glaubtest nicht an Gott, sagtest wenigstens, kein Mensch könne wissen, ob ein Gott sei.«

»Das war wohl so.«

»Aber jetzt, Johann ... Nicht wahr, jetzt glaubst du an ihn?«

Johann behielt seine freundliche Miene und nickte, sein Gesicht sprach für und für von Frieden.

Hans Horsten aber konnte nicht von dem Gedanken los: er sagt nicht die Wahrheit, nicht alles; er muß den Unfrieden gekannt haben, in seiner Seele müssen Stürme gebraust haben. Und indem er dabei ohne stichhaltigen Grund annahm, daß der›Jurat‹ des freisinnigen Pastors ein Gläubiger nach seinem, nach Hans Horstens Sinn geworden sei, kam bei ihm die Hoffnung auf, es möge seinem Harro ergehen wie diesem Bekehrten; das, was der in seiner Seele erfahren habe, möge auch sein Sohn erfahren, was sich in ihm gewandelt habe, möge sich auch bei seinem Sohne zum Besseren wenden. Und stärker wurde das Verlangen, die Geheimnisse zu ergründen, in die Schluchten und Abgründe hinabzuleuchten, die die Seele dieses Gottesleugners einstmals geborgen haben mußte.

Es galt, das Gemüt seines Besuchs auseinanderzufalten, und das war nicht allzu schwer. Johann Hell hatte aus seinem Herzen niemals eine Mördergrube gemacht, im Gegenteil: es bereitete ihm immer Freude, von sich reden zu dürfen. Es war Vesperbrot aufgetragen worden – Milch und Schinken und Wurst und Käse taten das übrige. Und nach dem ersten Bissen, noch mit kauendem Munde, begann er: »Sie wollen wissen, ob ich den rechten Glauben an Gott habe. Ja, jetzt glaube ich an Gott.«

Das freute Hans Horsten, und er sprach es aus. Besonders aber lag ihm daran, zu erfahren, mit welchen Gefühlen der Gerettete auf seinen Unglauben, auf die Öde seiner Seele zurücksehe, auf die Zeit, wo die roten Flammen der Hölle nach ihm gelechzt hatten. ›Er erkennt doch sicherlich jetzt als Verblendung, was damals als blähender Stolz empfunden worden ist. Jetzt wird ihm klar sein: es war ein Wanken und Fallen und Irren, vorbei an Abgründen voll brodelnder Dämpfe und zischender Schlangen.‹ So dachte der Bauer. Das alles hoffte er von seinem Besuch zu erfahren, von Johann, der fortfuhr, Schinken und Käse und Wurst und Butter zu essen, die Bissen öfters mit dem Messer zum Munde führte, das Messer nicht aus der Hand ließ, außer wenn er Milch trank und einen kleinen Kornbranntwein stürzte.

Hans Horsten wartete. Das, was aus dem Munde dieses Unmündigen kommen wird, soll ihm das Rätsel lösen, wie es möglich gewesen, aus solchen Kämpfen heimzukehren mit einer Miene, mit einem Gesicht, klar und eben und rein wie der Spiegel eines Waldteiches, den je und je kein Sturm bewegt hat. So dachte Hans Horsten und innerlich rang er die Hände in Verzweiflung, aber ein wenig auch in Hoffnung über seinen einstmals ungläubigen und auch jetzt erst halbgläubigen Sohn.

»Ich glaube, ich kann, ›ja‹ sagen«, hatte Johann erwidert.

Eine Minute Schweigen. Dann fragte Hans: »Also ganz, wie in der Bibel und im Katechismus steht?«

Der Befragte lächelte wieder, diesmal lag aber ein leichtes Bedauern, ein ›Es tut mir leid‹ darin. »Ob es ganz das ist, weiß ich nicht«, antwortete er.

Nach diesen Worten des früheren Knechts wuchs der Verdacht, sich einer kaum begreiflichen Voreiligkeit schuldig gemacht zu haben, riesengroß in des Bauern Seele auf. »Ja, Johann, sag mir, wie stehts denn jetzt mit deinem Glauben?« fragte er.

Und wieder das Lächeln. Mit der Linken kratzte Johann sich hinter dem Ohr, mit der das Messer haltenden Rechten trommelte er sachte nach Worten suchend an den Teller, und der Teller vibrierte leise in seine Antwort hinein:

»Anders ist es mit mir geworden, das hängt ja schon mit den Jahren zusammen. Ist man jung, will man wegreißen, was einem eng macht, will frei sein, da ›tiert‹ man sich wie ein Jungpferd, das angelernt und zum ersten mal angespannt wird.« Johann fuchtelte mit den Armen und zuckte mit den Schultern. »Nachher wird man vernünftig und zahm, die Pferde werdens ja auch.« – Das Messer legte er weg.

Hans Horsten sah ihn an, er konnte sich kaum noch darüber wundern, daß Johann Hells Antwort ausfiel, wie sie tat. »Hast du denn«, fragte er, »das, was du jetzt deinen Glauben nennst, nicht gern angenommen? Du erkennst doch, daß es zu deinem Besten war?«

»Das schon, das ist bei den Pferden auch ja so.«

Hans Horsten wurde ungeduldig. »Johann, nicht wahr, wir wollen die Pferde lassen. Ich meine: hast du nicht, als du zum Glauben zurückkehrtest, gefühlt, fühlst es nicht noch jetzt, in welcher Wüste, in welcher Ode du gewesen bist, in welcher Gefahr? Und daß du alles, was du bist, der Gnade Gottes zu danken hast?«

Der Besuch hatte abgegessen. Er nahm gleich nach der Gnade Gottes ohne viel Förmlichkeit aus dem auf dem Tische stehenden Kistchen eine Zigarre. Das angebotene Messerchen wies er als überflüssig zurück, biß die Spitze ab, ließ diese auf den Teppich fallen, zündete an und setzte das Gespräch fort:

»Ja, das mit dem Glauben, das ist so ne Sache. Sie fragen nach Bibel und Katechismus. Aber da ist heutzutage eine andere Mode. Da nimmt mans nicht mehr so genau mit. Und die Priester tuns auch nicht. Und ...«

Hans Horsten erinnerte sich des Bekenntnisses, das Pastor Rank ihm bei Harros Weggang abgelegt hatte und noch immer nicht verleugnete, wenn er auf derselben Kanzel stand, wo eigentlich sein Harro hätte stehen sollen. Wie hatte er sich nur in der Hoffnung einwiegen können, daß der Jurat fester im Glauben sei als sein Kirchenherr! Er fiel dem Kirchenältesten scharf in die Rede:

»Was unser Pastor auf der Kanzel sagt, weiß ich ja so ziemlich; aber was sagt er sonst so über den Glauben, ich meine in euren Sitzungen?«

»Ja«, erwiderte Johann, »da ist es nicht anders. Vom Glauben ist da wenig die Rede, da haben wir mit Geschäften zu tun. Am ehesten kommt noch so was vor, wenn es sich um Einführung eines neuen Gesangbuches und um so was handelt. Sonst sagt er immer nur: Die Liebe, die macht alles aus, und vor allem muß man wahr gegen sich sein.«

Hans Horstens Züge waren gespannt gewesen, nun wurden sie gelassener. »Und wie steht es denn jetzt mit deinem Glauben an Gott und Christentum, Johann, wenn du es sagen willst?« fragte er nur noch ganz beiläufig; es war ihm hauptsächlich darum zu tun, des Pastors Glauben, der auf Johann abfärbte, festzulegen.

Johann gab dann auch gleich zu, daß er, wie früher auf die Worte des alten Rank, jetzt noch mehr auf den jungen Rank schwöre. In seiner Unschuld, in seiner Friedseligkeit und in seiner Wichtigtuerei merkte er nicht, daß seine Person an Wert verloren habe. Er räusperte sich, um etwas zu sagen, was schön und klug sei und Eindruck mache. Er stöberte daher seine Gedanken oder vielmehr die seines Pastors, soweit er ihrer habhaft werden konnte, auf, aber sie flogen wild und ohne Ordnung um ihn her. Da machte er es wie die Schäfer, wenn ihre Herde in Aufruhr gekommen ist. Er pfiff nach seinem Hund, das heißt: nahm alles, was er an Willen und Einsicht besaß, zusammen; der Phylax brachte die Schafe dann auch wieder auf einen Haufen zusammen und die Ausreißer zurück. Und es blieben die Gedanken etwas mehr in Ordnung und Zucht.

Er räusperte sich wieder und fing an: »Herr Horsten, ich meine, damals, als ich sagte und dachte, die Welt und was wir sehen habe sich alles so von selbst zurechtgemacht, will mal sagen: zusammengemeischt, das war eine Dummheit. Und das sagt der alte Doktor jetzt auch. Und das kann auch eine alte blinde Frau mitn Stock fühlen, daß alles um uns her gemacht ist, nach einem klugen Plan, so klar, daß es über unseren Verstand und über alles geht, daher für uns immer dunkel sein wird. Das sehe ich ein. Da ist unser Tüfteln für die Katze. Und auch das meine ich, daß, wenn auch noch so viel Leid und Unglück in der Welt ist, die Welt doch wohl eine gute Welt sein muß, wenn wirs auch nicht immer fassen. Ich kann es ja nicht so sagen wie der Pastor. Aber er sagt, schließlich seien wir doch in der Liebe und Güte des Weltschöpfers gehegt, darin geborgen und von ihr getragen. Und dann sagt er, daß uns die Augen über die letzten Ziele, die Gott mit dieser Welt im Sinne hat, wohl erst aufgehen werden, wenn wir sie hier geschlossen haben. Denn es müsse, sagt er, ein uns unbekanntes Ziel dahinter stehen, da die Welt sonst keinen Sinn hätte. Denn was hier in der Endlichkeit herauskomme, sei nichts Rechtes. Da sei nicht zu verstehen, was die große Weisheit, die doch überall hervorleuchte, solle, wenn sie allein irdische Ziele verfolge und verwirkliche. Um so mehr, meint Pastor Rank, sei es von der Welt im ganzen anzunehmen. Anders könnten wirs uns gar nicht denken. – Einmal machte der Pastor einen Spaß. Da sagte er, ein Gott, der so viel verkoste um nichts und wieder nichts, der sei ein Verschwender. Und wenn man ihn vors Amtsgericht brächte, käme er unter Vormundschaft.«

Dem Sprecher war die Zigarre ausgegangen, er zündete sie wieder mit behaglichem Schmatzen an, gar nicht bemerkend, wie sehr den Kanzleiwirt der letzte, nach seiner Ansicht unziemliche Vergleich verdroß.

»Also Gott und Unsterblichkeit«, faßte Hans das Bekenntnis zusammen. »Wie aber steht es mit dem Christentum, mit Christi Leiden und Sterben zu unserer Erlösung?«

Johann lächelte verlegen. Die Zigarre nahm er auf einen Augenblick in die Linke und kratzte mit der Rechten in seinem immer noch vollen Haar. »Das ist ein Punkt – das ist ein Punkt ...«, murmelte er und jagte hinter seinen Gedanken her, ohne sie zum Stehen zu bringen.

Hans Horsten wartete. Und schließlich gab Johann doch noch ein bißchen her:

»Das ist ein Punkt, da kann ich mir nicht viel dabei denken. Der alte Doktor, scheint mir, auch nicht. ›Ich bin in die Welt gesetzt‹, sagt er, ›bin nicht danach gefragt worden, habe mich nicht selbst gemacht, so gut und so schlecht wie ich bin; ich will das Gute, soweit ein guter Wille in mich gepflanzt ist, ich tue es freilich nicht immer, aber doch so viel, wie ich kann. Das Böse will ich nicht, tu es aber, wie auch Paulus sagt, doch nicht selten. Mehr steht nicht in meiner Kraft, dafür bin ich ein Mensch. Mehr kann man von mir nicht verlangen. Was brauch ich da einen Erlöser? Was brauch ich da einen Mittler zwischen mir und Gott?‹ sagt Doktor Rank. »Ja, Christus, das war einer. Über seine Lehre« sagt der Doktor, »über seine Sittlichkeit gehe nichts. Aber Sohn Gottes? Und Gott, der Allmächtige, muß seinen Sohn den Kreuzestod sterben lassen, um uns vergeben zu können? Da kann ich mir nichts bei denken«, sagt Doktor Rank.«

»Weißt du denn auch jetzt um des alten Doktors Glauben Bescheid?«

»Ja«, entgegnete Johann, »er fährt ja nicht mehr viel auf Praxis, aber wenn er es tut, stelle ich Wagen und Pferde, bin also wieder sein Kutscher. Unser Kirchspiel reicht ja beinahe bis zur Stadt; von mir bis Doktor Rank sinds kaum zehn Minuten, da läßt sich leicht schicken.«

Als Johann von dem Leiden und Sterben unsers Erlösers gesprochen, hatte Hans Horsten an sich halten und an den Spruch über seine Tür denken müssen: »Und möge nie in diesen Wänden ein ruchlos Wort den Herrgott schänden.« War das, was Johann sagte, nicht Gotteslästerung? War denn auch über die Rückkehr eines Verirrten dieser Sorte Freude bei den Engeln im Himmel?

»Das, was Doktor Rank sagt, ist denn wohl auch deine Meinung?« fragte er. Sein Ton blieb ruhig.

»Ja, Hans, soweit ich darüber reden kann. Der Pastor meint aber, es sei doch wohl etwas dran mit der Erlösung, es sei aber ›vertusselt‹ und verwirrt zu uns gekommen.«

Die Erregung, welche in Hans Horsten aufgestiegen war, wich, nun war er ganz ruhig.

»So«, erwiderte er, »verwirrt und vertusselt. Und wie müßte es denn nach Pastor Ranks Ansicht sein und werden, nachdem er den Tussel wieder zurechtgemacht?«

»Das ist, ja, wie er das sagte, das ist mir zu hoch«, war die Antwort. »Davon hab ich nur das im Sinn: Wenn man das Leben von der einen Seite betrachte, habe man sein Tun in der Hand, wenn man es aber anders betrachte, habe man es nicht in der Hand, und wenn man es zum dritten betrachte– – dann – –«

Johann stöberte seine Schafherde auf und pfiff auf seinen Hund, aber die Schafsgedanken hatten Flügel und wurden zu Vögeln und kreisten in der Luft. Und er mußte sie kreisen lassen, er hatte keine Gewalt über sie. »Das nützt nichts, Hans«, schloß er nach einigem Zögern, »das krieg ich nicht zurecht.«

Die Hauptsache ihrer Unterhaltung war noch immer nicht erledigt: das Hinableuchten in die Schluchten und Höhlen eines Gottesleugners, in die brodelnden Abgründe. Aber Hans Horsten lächelte jetzt bei sich darüber, was für Offenbarungen er sich von Johann versprochen hatte, von Johann, der, kräftig qualmend, viel freier und hingeflegelter oder, wenn man will, gehobener auf seinen Stuhl saß als bei Beginn der Unterredung. Was konnte da groß zutage kommen! Aber er fragte immerhin: »Jetzt glaubst du an Gott, was du früher nicht tatest. Wie ist dir denn, wenn du daran denkst? Kommt es dir nicht schrecklich vor, ohne Gott gelebt zu haben?«

»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte der andere. »Ich meine vielmehr, das ist der natürliche Weg, und so und nicht anders müsse man zum Glauben kommen. Das sagt der Doktor auch, und das sei auch die Geschichte der meisten großen Religionsmänner. Der Apostel Paulus habe anfangs Saulus geheißen. Augustin sei es auch so ergangen, und selbst Doktor Martin Luther sei nicht ohne Anfechtungen gewesen.«

Hans Horsten wollte einfallen, mit Paulus sei es doch wohl eine besondere Sache gewesen, aber er ließ es, um so mehr, als Johann ihn fragte: »Herr Horsten, haben Sie denn niemals an Gott gezweifelt?«

Hans Horsten gedachte der Tage, wo er als ein im Glauben Wankender in das Vaterhaus zurückgekehrt war, und antwortete: »Ja, eine ganz kurze Zeit.«


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