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4

Beide Männer sagten nichts mehr, saßen sich eine Weile stumm gegenüber, dann brach der Besucher auf.

»Unser Gesprächsgegenstand ist wohl noch nicht ganz erschöpft«, sagte er. »Aber ich denke, wir lassens für heute genug sein, der Faden kann ja zu jeder Stunde wieder aufgenommen werden. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn Ihnen ein solcher Wunsch kommen möchte.«

Hans Horsten begleitete ihn eine Strecke. Auf der ersten Hälfte war der Kirchensteig breit angelegt, da konnten zwei Leute nebeneinander hergehen. Es war klares, sichtiges, windstilles Wetter unter wunderbarem Sternenzelt.

Sie gingen zwischen Graft und Graben, die Nacht auf leisen Sohlen neben ihnen her. ›Sieh hinauf!‹ sagte sie zu Hans Horsten. ›Was seid ihr? Was eure Erde? Ein Nichts, ein Hauch. Und ihr behauptet, des großen Gottes eingeborener Sohn sei auf eurer Erde gemartert und gekreuzigt worden? Und Gott Vater habe ihn zu diesem Zweck herabgeschickt und Mensch werden lassen? Und das alles – zu welchem Zweck? Damit Gott für sich selbst einen Rechtsgrund gewinne, euch die Sünden zu vergeben? Die der Gottmensch in Stellvertretung durch seinen Opfertod abbüße? Ist eure Erde so viel mehr als die anderen ungezählten Weltkörper, die Gott in seiner Allmacht erschuf? Oder ist der Gottes- und Menschensohn tausend und millionen mal den Kreuzestod gestorben?‹

Hans Horsten murrte in seinen Gedanken auf: ›Was das mit dem zu tun habe, das ihn von seinem Sohn trenne?‹ Noch stand er grollend vor der Wage und prüfte Schalen und Gewichte.

Da nahm der Pastor das Wort, und sie waren, wenn auch gewissermaßen gegen die Abmachung, wieder beim alten Gegenstand. Der Geistliche bog die große Pilatusfrage: »Was ist Wahrheit?« um nach dem Recht. Recht und Wahrheit im letzten Sinn unerforschlich; nach unserem zeitlichen und menschlichen Verstand sei in bezug auf Glauben jeder im Recht, der Gott ehrlich und eifrig nachgehe, nämlich dem Gott, der und wie er in seiner Vorstellung lebe.

»Sie, Herr Horsten, hatten und haben recht, Ihren Gott in Ehren zu halten. Er war und ist der Gott Ihrer Zeit, mit Ihnen in den Anschauungen Ihrer Jugend groß geworden. Dem sind Sie nachgegangen mit ganzem Herzen, haben ihn gefunden, der Gott gehört Ihnen zu. Ihr Sohn ist aber auch im Recht, Vertreter einer neu heraufgekommenen Zeit. Was früher mit ihm war, davon rede ich nicht. Jetzt aber hat er gesucht und gefunden. Und er und ich sind nicht weniger berechtigt als Sie, den Herrn der Welt so anzubeten, ihm so zu opfern, wie wir ihn verstehen.«

Bei blinkendem Sternenschein überschritten sie eine Grabenbrücke. Dem Bauern war, als zöge man ihm die Bretter unter den Füßen weg. Alles kam bei ihm ins Schwanken: Wahrheit und Glaube und Recht. Ihm war, als läge er im weichen Morast, aber merkwürdigerweise war ihm dabei zumute, als erweise man ihm etwas Gutes, als lerne er jetzt erst die Glieder strecken und dehnen, als fänden seine Gedanken nun erst den Weg zu den goldenen Sternen. Und von oben floß Segen herab, er hörte das sanfte Rieseln.

»Herr Pastor«, erwiderte er, »was Sie da sagen, in Ihrer Sprache sagen, ist wohl ein bißchen hoch für mich, und ich verstehe es sicher nicht so, wie ich soll. Aber das verstehe ich doch, daß Sie sagen wollen, es stehe eigentlich nichts fest in der Welt, und vor Gott gingen wir alle in der Irre. Die Menschheit habe es immer getan. Man dürfe mit keinem wegen seines Glaubens rechten, wenn er nur ein ehrlicher sei, einer, der auf Aufrichtigkeit und Wahrheit gegen sich selbst beruhe. Habe ich Sie recht verstanden?«

»Sie haben, lieber Freund. Darin denke ich wie Sie und Sie wie ich. – Gott ist groß, so groß und unfaßbar, daß man seinen Namen ohne Not gar nicht in den Mund nehmen sollte. Redensarten wie: ›der gute Gott‹, ›der liebe Gott‹ sind, wie schon Goethe sagte, eigentlich Herabziehen seines Wesens ins Menschliche. Ich möchte ihn am liebsten den großen Unbekannten und Unerforschlichen nennen und bin auch darin in Übereinstimmung mit großen Männern. Wir können nur dunkle Gefühlsvorstellungen von ihm in unserm Innern hegen, und dies dunkle Gefühl einer Vorstellung nenne ich den Gott, den wir im Busen hegen. Und auf diesen uns allein zugehörigen Gott wende ich Christi Worte an: ›Suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan!‹ An diesem uns zugehörigen Gott lasse man sich genügen. Sie, Herr Horsten, fanden den Gott des alten Kirchenglaubens, den man den rechten nennt. Gefunden haben Sie ihn, aufgetan hat er Ihnen. Sie sollen ihn behalten, aber denselben Gott sollen Sie in der Gestalt gelten lassen, wie wir ihn haben.«

»Herr Pastor«, entgegnete Hans Horsten, »es gibt doch nur einen Gott. Wenn wir tun, wie Sie wollen, haben wir ja so viele Götter, wie es Menschen oder doch menschliche Auffassungen gibt.«

»Nein und immer nein! Er ist derselbe, der Allmächtige, der große Gott. Was Ihnen als Vielheit der Gottheit erscheint, ist nur eine Vielheit unserer menschlichen Persönlichkeit, die sich in dem Versuch spiegelt, uns den Unbekannten vorzustellen.«

Das Gesagte schurrte hinab nach den Schalen, und tausend milde Sterne standen über Hans Horstens Haupt.

Es schurrte hinab zu den Schalen, den Gewichten aber traute der alte Bauer noch immer nicht. Er stand still und sprach: »Ein Wort, Herr Pastor! Was bleibt übrig vom Christentum?«

Pastor Rank tat die Gegenfrage: »Herr Horsten, wissen Sie, erinnern Sie sich aus Ihrer Jugend noch etwas von Kant?«

»Nicht viel mehr als den Namen.«

»Kant hat also«, fuhr der Geistliche fort, »nachgewiesen, daß wir, wenn wir unser Urteil und unsere Wahrnehmungen ganz voraussetzungslos machen, die Dinge um uns her, was sie eigentlich sind, die ganze Welt gar nicht erkennen können, daß Raum und Zeit eigentlich gar nicht sind, sondern nur Anschauungsformen sind, und daß wir mit diesem Erkennen eben so wenig auf einen Gott wie auf eine Fortdauer nach dem Tode kommen. Dann aber, nachdem er alles weggefegt hat, steigt er in die Seele hinab und horcht, ob von dort eine andere Antwort wird. Und aus dem, was er dort erlauscht, als natürliche Anforderungen der praktischen Vernunft, stellt er alles wieder her: Gott und die Welt und Unsterblichkeit, und vor allen Dingen Sitte und Moral, als keiner weiteren Rechtfertigung bedürftig. So ungefähr geht es auch mit der Religion. Mir ist es so ergangen und auch Harro, und nicht nur uns, ich darf im Namen von Tausenden, ja von Millionen sprechen. Beweisen, was man so beweisen nennt, kann ich nicht, daß es einen Gott gibt, aber die in meinem Gemüt bestehende feste Zuversicht ist für mich mehr als ein physischer Beweis. Beweisen kann ich nicht, daß es eine Fortdauer nach dem Tode gibt, und doch weiß ich in meinem Gemüt, daß sie ist, daß unser eine Entwicklung zu höheren Formen harrt. Beweisen kann ich nicht, daß die sittlichen Lehren des Christentums auf göttlicher Offenbarung beruhen, daher ein Ewiges darstellen, aber in meinem Gemüt habe ich die Zuversicht. Und in dem Stifter unserer Religion verehre ich das absolute Genie der Sittlichkeit, über das wir niemals hinauskommen werden.«

Der Sprecher hatte Kant den Alleszermalmer genannt, für seinen Hörer wurde er es. Sie waren auf dem breiten Steg weitergeschritten, immer im ruhigen Atem der Nacht, im Märchenlicht der Sterne, unter einem Himmel, in dem kein Wölkchen etwas von dem Klang und Weben der flimmernden Welten aufsog. Und doch war dem Kanzleiwirt, als seien Blitz und Donner in seine Seele niedergegangen und um ihn herum läge zerschlagen, was ihm lieb gewesen war. Und doch hatte er dabei die Empfindung, als wüchsen ihm Flügel, als winkten ihm unermeßliche Weiten.

Sie waren an der Stelle angekommen, wo der Fußsteig schmal wurde. Ein weiteres Mitgehen hatte keinen Zweck, im Gänsemarsch philosophiert sichs nicht gut.

»Wir müssen uns wohl trennen«, sagte Hans Horsten. »Ehe ichs vergesse: nehmen Sie sich bei Peter Hansens Brücke in acht. Sie hat ein Loch.«

Einen Augenblick besann er sich. Dann fuhr er fort: »Ich habe noch eine Frage, aber das führt hier zu weit. Darf ich mal hinkommen?«

»Aber selbstverständlich, Herr Horsten! Nach welcher Richtung geht Ihr Anliegen?« »Ich meine so: Nach dem, was ich von Ihnen gehört habe, möchte ich gerne wissen, was denn hier für uns feststeht und feststehen muß, damit die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen noch einen Sinn behält. Und dann möchte ich gerne wissen, was es auf sich hat, daß die Bibel Gottes Wort ist. Sie waren mit meinem alten Spruch, den Sie von mir hörten, nicht zufrieden. Meinerseits habe ich mir immer daran genügen lassen, er sei Gottes Wort und Gottes Offenbarung, denn er steht in der Bibel. Nun muß ich hören, daß der alte Jehova eigentlich nur so eine Art Jungsgott gewesen ist, ein noch unreifer Gott. Da kann ich nun nicht mit zurecht kommen.«

»Ja, das ist ein eigenes Kapitel, lieber Freund, und heute abend auf dem Kirchensteig bei Sternenschein ... Übrigens ... da kommt der Mond. Wie eine rechte rote Blutblase steigt er herauf!«

Jawohl, der Mond kam auf. Voll und rot und rund begann er über dem Horizont heraufzuwachsen ... Rote Blutblase? Dem Kanzleibauer erschien er wie das leuchtende Angesicht des Ewigen.

»Bei Mond- und Sternenschein«, fuhr der Geistliche fort, »kriegen wir es nicht mehr zurecht. Sie wollten mich besuchen, tun Sies bald, tun Sies morgen, oder wenn Sie wollen, auch wenn der Tag keine Stimmung gibt, tun Sies am Abend, oder tun Sies wie Nikodemus in der Nacht. Da wollen wir sehen, was wir damit machen.«

Es ging zum Abschied. »Und mit Harro, wie wirds? Sollte es nicht wirklich an der Zeit sein, ihn bei seiner Landung in Hamburg ins Vaterhaus zurückzuholen? Die ›Germania‹ kommt in diesen Tagen, ist vielleicht schon da.«

Hans Horsten war erstaunt. »Was?« rief er, »mein Sohn jetzt schon? Davon weiß ich ja garnichts!«

Der Pastor schlug sich leicht vor die Stirn und kramte dann in seiner Rocktasche. »Bin ein rechter Esel«, sagte er. »Da sitze ich und gehe und stehe und schwatze und vergesse das Wichtigste. Hier – lesen Sie zu Hause!« Und er reichte dem Kanzleibauer ein Zeitungsblatt. »Hat sich auf der ›Germania‹ eingeschifft. Die ist gestern oder vorgestern von Southampton in See gegangen, das Wetter ist günstig. Wer weiß, vielleicht ist Harro jetzt schon auf deutschem Boden.«

Hans Horsten erstaunte. Der barmherzige Vater des verlorenen Sohnes war, als er ihn von ferne kommen sah, entgegengelaufen, der war dem Ankommenden um den Hals gefallen, hatte ihn geküßt und seine Freude herausgejubelt. Und er? – Sein tröstlichster Gedanke war gewesen, daß er ein paar Wochen, jedenfalls noch eine Woche Zeit habe, zu denken und zu überlegen. Und nun –! Was alles war über ihn gekommen an diesem Tag! Was hatte man ihm genommen, und was ihm gegeben! Und nun sah er sich auch um die Gnadenfrist der Erwägungen betrogen.

Der Geistliche sah den Tumult, den er in der Seele des Bauern angerichtet hatte, und rührte nicht mehr daran. Er wußte, daß Hans Horsten in kurzem die Klingel im Pastorenhaus bewegen werde. ›Er soll mir willkommen sein‹, dachte er, ›auch dann, wenn er als ein nächtlicher Nikodemus erscheint.‹

Sie nahmen Abschied.

Der Mond stand ein paar Linien über dem Horizont, die roten Farben wandelten sich zum weißlichen Licht, wie Graupelschnee glänzte es ringsumher. Dem Kanzleiwirt war, als wandere er im Jenseits vor dem Angesicht des Ewigen.

»Nun haben wir beide hell«, sagte Pastor Rank.

Ein paar Schritte lagen schon zwischen ihnen, da wendete sich der Kanzleibauer zurück und rief: »Herr Pastor, Sie haben mir viel genommen« (zunächst und zuerst empfand er die Leere, dann aber auch das Fluggefühl), »aber auch viel gegeben!« fügte er hinzu.

»Suchet, so werdet ihr finden!« wurde ihm als Entgegnung.

Und über ihnen geruhsames Verständnis und blinkendes Schweigen der Sterne.

Und noch einmal des Geistlichen Stimme: »Jeder glaube und verehre den Gott, den er im Innern trägt. – Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Das war das Letzte. Eine kurze Weile begegneten sich noch die Schwingungen ihrer Tritte ... Dann wußten auch die nichts mehr voneinander.

Und dann knarrte in der Kanzlei die hohe Tür unter dem frommen Spruch.


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