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6

Gleich nachher brach Daniel auf. Um sechs erwartete ihn Springe im Schwan, und das, was der Markt an Kramzelten und Sehenswürdigkeiten bot, war doch auch mitzunehmen. Die Wunderbuden pflegten an dem nach Osten hinaus belegenen Knüll aufgebaut zu sein, der Weg dahin ging durch die Zeile der Zelte. In der Ringmaschine, von den seinen Leuten des Kirchdorfs ›Karussel‹ genannt, wollte er auch ein paar Schillinge verfahren, der Mutter und Tante ein Jahrmarktsgeschenk kaufen – es wurde Zeit, daß er ging.

Tante ›krafte‹: »Blot een Taß?« Aber der Junge ließ sich nicht halten. Als Trina Mersch ihn zur Haustür hinausgeleitet hatte, lag ein erfahrenes Lächeln auf ihrem alten Gesicht. ›Da sitzt was dahinter‹, sagte sie für sich, ›un ol Deernstüg is wiß dorbi.‹

Der Rattenmann pries noch immer den Segen der Gesundheit, als Daniel in die von Krambuden umstellte Dorfstraße einbog, an derselben Stelle, wo der Reisemeister seinen Wagen verlassen hatte. Zwischen den Zelten ein großes Gedränge, und wenn nun gar ein Wagen hindurchfuhr, wurde es schier ungemütlich, um nicht zu sagen: gefährlich. Mit den Jahrmarktsgeschenken machte Daniel es kurz, Mutter und Tante erhielten das gleiche Nähkissen mit demselben aufgeklebten frommen Spruch; beide fanden einstweilen in der Schoßtasche seines Konfirmationsrockes an derselben Stelle ihren Unterschlupf, wohin Lene dereinst die Kuchen, die so schmählich ihren Beruf verfehlen sollten, gestopft hatte.

Mit der Ringmaschine hielt er sich auch nicht lange auf, länger nahmen ihn der Seehund und die angestrichenen Nigger in Anspruch, die in schreienden Zelten gezeigt wurden – am längsten die Zauberkunst des Professors Reimers, der tausenderlei Dinge so viel, daß eine ziemlich große Tischplatte sie kaum fassen konnte aus einem Zylinderhut zog, darunter einen lebendigen Kanarienvogel, fünfzig Eier und ein schreiendes Gummibaby. Zuletzt ließ er gar eine Frauenperson, die unter einen Apparat gestellt wurde, verschwinden. Einen Augenblick wurde Daniel noch durch einen Spaßmacher aufgehalten, der vor einer Stalltür mit hallender Stimme rief: »Wunner öwer Wunner, und Wunner öwert Perd, wo die Kopp sitten schall, sitt de Steert.« Für einen Schilling war das Mirakel zu sehen – nämlich ein mit dem Schwanz an der Krippe angebundener Gaul, ein prächtiger Apfelschimmel, der die Betrogenen gemütlich mit seinem großen braunen Auge überschaute und sich offenbar in seiner Rolle gefiel. Die Übertölpelten nahmen es mit herzlichem Gelächter gut auf. »Seggt nix«, sprach der Eigner des Wundertieres zu den Hineingefallenen, »seggt nix, ik will na mal son Tog maken.«

Die Uhr war sechs geworden, nun mußte Daniel nach dem Schwan. Bei dem Wunderpferd, in der Zauberbude, beim Seehund, bei den Angestrichenen, auf der Ringmaschine und im Krammarkt hatte er gehofft, der Geliebten zu begegnen oder doch aus der Ferne von ihr ein Schleifchen zu erblicken. Er hatte vergeblich gehofft, nun hoffte er, sie bei dem Vater zu finden.

Die Turmuhr der Kirche zeigte ein paar Minuten nach voll, als er an dem Rattenmann und seinem Spruch vorübereilte. Und gleich darauf verschwand er eilfertig unter der großen Gans, die einen Schwan darstellen sollte, in den Gasthof. Der große Vogel sah hochmütig auf ihn herab, diesem Blick dichtete Daniel eine innere Ähnlichkeit mit Julius Kirchner an, mit einem kleinen Ärger überschritt er die Schwelle.

Nun war er in einem langen Gang, in dem viele Türen mündeten, die meisten davon geöffnet. Tabaksqualm und Dunst von Grog und Schweiß drang heraus und Gekreisch und Geschrei und Spaß und Gelächter, Rufen und Anprosten, vor allen Dingen aber Anrufen der Schneidergesellen, die, wie immer an Markttagen, sich für den ›Schwan‹ in Kellner verwandelt hatten.

»Wo ist Julius?« fragte Daniel einen von ihnen.

»Julius?« erwiderte der, einem Gaste Kleingeld zurückgebend – »der ... irgendwo. An Markttagen ist er Gast und Tänzer.«

Daniel schlug sich in Gedanken vor die Stirn und schalt auf sich, das hätte er auch von selbst wissen können. Was wollte er auch von Julius? Weshalb fragte er nach Julius? Doch nur, weil er ihn an Lenes Seite dachte. Und ein Bild, vor dem er sich schüttelte, stieg in seiner Vorstellung auf: Julius mit vor Fett und Öl triefendem, aber trotz alledem rötlichem Haar, Sommersprossen im Gesicht, schmierige, lachende Lippen, schwitzige bleiche Hände, diese Hände um die Taille seiner Partnerin, der Schönsten im Saal, beide im wiegenden Walzer, er: Haltung des Siegers, sie: willenlose Hingabe, in kindlichem Leichtsinn verklärt zu ihm aufschauend. Und Daniel, der Träumer, der Seher, kannte die Schöne, kannte das Mädchen – es war die Hoftochter von Reiherwisch und hieß Helene Springe.

Der Saal vom ›Schwan‹ war eine Treppe hoch, über Daniels Haupt schurrten die Tänzer. Das Schleifen verriet ihm, daß die Musik zum Walzer spielte, nun hörte er auch einzelne Töne von Klarinette und Geige.

Und tiefer und blutiger gruben die Krallen der Eifersucht. Bevor er sich dessen versah, war er im Saal, einen Weg durch den Schwarm der Gäste bahnend, der vor der Schenke und hinter dem Treppenausgang stand, dem Tanze zuzusehen.

Julius war nicht darunter. Hinauf auf die Galerie, da übersah er jedes Paar. Die, die er suchte und doch zu finden fürchtete, waren nicht unter den Tänzern. Das gab dem von Eifersucht vollgepreßten Herzen eine Art Erleichterung.

Er begab sich zurück in die zu ebener Erde belegenen Räume und fragte nach dem Besitzer von Reiherwisch. Aber keiner der zum Hause und zur Hausbedienung Gehörigen gab ihm Auskunft, merkwürdigerweise kräuselten sich bei dem »Weiß nicht« und Kopfschütteln und Achselzucken die Lippen. Zuweilen kam, Springe sei dagewesen, man wisse aber nicht, wo er jetzt sei. Nun nannte Daniel seinen Namen und berief sich auf Springes Bestellung, was zur Folge hatte, daß der alte Kirchner gerufen wurde.

Der sah ihn erst mit einem Gesicht an, das von schwerem Bedenken sprach, dann offener und freundlicher. Er wiegte aber immer noch das Haupt, als er erwiderte: »Nicht wahr. Sie sind Daniel Dark von Lohfelderkamp? Ja, ja, Springe hat von Ihnen gesprochen. Dann kommen Sie man mal mit!«

Er führte Daniel durch den hinter dem ›Schwan‹ belegenen Ziergarten nach einem von freundlichen Reben umrankten Häuschen. Bevor sie eintraten, drehte sich der Alte noch einmal um und musterte seinen jungen Begleiter vom Kopf bis zur Sohle. Es lag eine stumme Frage in dieser Geberde: ›Was bist du für einer? Ein Einfältiger oder ein Gewitzigter, ein mit allen Hunden Gehetzter? Vor allen Dingen: kannst du schweigen?‹

Laut sagte er: »Ich habe viel von Ihnen gehört. Nicht wahr, Sie sind kein altes Weib.« Dabei legte er wie unversehens zwei Finger auf seinen großen Mund und dessen wie zum Schlürfen geschaffene, weiche, umfangreiche Lippen.

»Ja«, erwiderte der unschuldige, nichts verstehende Daniel.

Sie standen im Flur des Gebäudes, von rechts her kam es wie Klimpern mit Geld, dazwischen kurz hingeworfene Laute von Männern. Kirchner aber öffnete eine Tür der anderen Seite und bat Daniel einzutreten. Springe werde gleich kommen.

Es dauerte aber einige Zeit. Drüben erhob sich ein kurzer Zwist, ein Austausch von Meinungsverschiedenheiten, möglicherweise die beim Kartenspiel bekannte Gespensterschlacht in den Lüften, die man Nachspielen nennt. Daniel war nicht mehr darüber im Zweifel, daß drüben etwas gespielt wurde, was man nicht gern aller Welt zeigte, wahrscheinlich etwas mit hohen Einsätzen oder gar noch Schlimmeres. Das sagte denn auch das Gesicht des Besitzers von Reiherwisch, als er erschien ... weingerötet, nicht ganz nüchtern und offenbar spielerregt.

»Junge ja, Dark. Da hab ich gar nicht mehr an gedacht. Das tut mir leid. Und nun bin ich da mit ein paar Freunden zusammen. Was meinen Sie, schieben wirs noch auf?« Er lächelte dabei sein gewinnendstes Lächeln. »Haben muß ich Sie. Aber jetzt, daß das so kommen muß. Sitze da gemütlich mit Freunden bei ner Flasche Wein, machen ein Spielchen. Die werden bös, wenn ich lange bleibe. – Hm! Hm!«

Der reiche Reiherwischer schien fast verlegen zu sein, als er das sagte, und in der Verlegenheit nötigte er Daniel Dark eine große, dicke, schwere Zigarre auf.

»Ich weiß auch gar nicht, wie wir darauf kommen, es hier bereden zu wollen. Nicht wahr, Sie kommen in den nächsten Tagen zu mir nach meinem Hause. Und dann wollen wir es fest machen. Sie können nur sagen, wann es Ihnen paßt.«

Daniel sagte zu allem das, was ihm am bequemsten deuchte, nämlich »Ja«. Der nächste Sonntag wurde für sein Erscheinen in Reiherwisch festgesetzt und Daniel lärmend und mit einem Sturz von freundlichen Worten verabschiedet.

Als Springe im Spielzimmer verschwunden, hatte Daniel die Türklinke des kleinen Hauses noch in der Hand und hörte, wie sein Patron ausgescholten wurde, daß er so lange geblieben: »Du sagtest: eine Minute, und es ist eine Viertelstunde daraus geworden. Nun aber ans Geschäft: du sollst geben!«

Daniel wiederholte seine Umschau im ›Schwan‹ und sah weder Julius Kirchner noch Lene Springe. Eine saubere Frau mit weißer Latzschürze lief ihm in den Weg. Die kannte er. Ihr Sohn war mit ihm zusammen ›zum Priester gegangen‹, sie hatte ihn auch mal auf der Straße angesprochen, war eine nette Frau. Er faßte sich ein Herz und fragte, wo Julius sei; von Lene wagte er nicht zu reden.

Sie sah ihn freundlich an: »Sieh da, Dark von Lohfelderkamp. Wie gehts?« Es gingen ein paar Redensarten hin und her. »Wo Julius ist, wollen Sie wissen?«

Frau Stabe war eine haushälterische Figur, dabei aber von resoluter, zugreifender Art. In Tagen des Trubels und der Feste war sie die rechte Hand der Hausfrau im ›Schwan‹ und nahm reichlich die Hälfte aller Sorgen auf eine Achsel, über die jetzt steif geplättete Bänder ihrer weißen Schürze liefen. »Frau Kirchner meint«, sagte sie, »es schicke sich nicht, wenn der Sohn vom Haus hier im Saal tanze, da sind sie anderswo hingegangen.«

»Sie sind gegangen.« Das klang. Ach, wie das klang! Er hatte eine Ahnung, was kommen würde, wollte es aber wissen. »Wer war mit Julius?« fragte er.

»Ach so, ich vergaß: das junge Mädchen von Reiherwisch und Julius gingen zusammen.«

Daniel fühlte geradezu einen körperlichen Schmerz. Ob die Mutter das passend finde, fragte er sich.

Es war, als ob Antje Staben seine Gedanken rate. »Mag ja just nicht Mode sein«, fuhr sie fort, »so junge Leute allein in son wilden Kram, wie Jahrmarktsgedudel, zu schicken. Da ist aber wohl son stiller Verspruch vorhanden. Da mag es denn nicht so viel mehr austun, wenn die Leute was herumreden. Und so werden die Eltern es auch wohl ansehen.«

Daniel wollte das Paar suchen, obgleich er wußte, daß das, was er finden werde, die Scherben seines Lebensglücks, wie er es ansah, bedeuten werde.

Das dachte er und dachte dabei einen Nebengedanken, ohne es selbst zu wissen, dachte nämlich, vielleicht würden die Scherben eines alten Glücks im Schmelztiegel doch noch taugen, ein anderes Glück aufzubauen. Es war aber nur die leise Ahnung eines Gedankens, und alles das verrauschte, als er in die Kramgasse einbog, verrauschte in den Wipfeln der Linden, die vor der ragenden Kirche Wache standen, damit kein rauher Ton über die Friedhofsschläfer hinwegfege.

Die Häuser, wo außer im ›Schwan‹ an Markttagen getanzt wurde, lagen jenseits der Zeltenstadt am Knüll. Das Gedränge in der Kramgasse hatte zwar nachgelassen, dafür waren die Menschen um so trunkener vor Lust und Alkohol. Die Sonne war untergegangen, die Abendröte vergangen, die Schatten der Dämmerung wurden dunkler und dichter. Eine spärliche öffentliche Petroleumbeleuchtung, Flammen der Krambuden, überall flackerndes, unsicheres Licht.

Was ihm entgegenkam und vor ihm herging, erschien in unsicheren Umrissen. Aber der große Mensch, der das Volk um Haupteslänge überragte, der mit dem bräunlichen Anzug und dem hellen Haar, blond und dünn und mager – ist das nicht der Reisemeister Frahm? Nun wendete er das Gesicht und lächelte, Daniel Dark meinte, zu ihm hinüber. Da zweifelte er kaum noch, daß es der Reisemeister sei.

Daniel rannte ihm nach, stieß an ein paar halbtrunkene Gesellen und wurde roh gescholten. Man bot ihm Prügel an, er warf ein Wort der Entschuldigung hin, verzichtete auf Haue und eilte weiter. Den Reisemeister wollte er erwischen, ohne recht zu wissen, weshalb – vielleicht zur Erläuterung des Lachens, das er ungefähr deuten zu müssen glaubte wie: ›So mußte es kommen, ich habe es gleich gewußt.‹ Ihm war, als ob ein Wort vom Reisemeister zu dieser Stunde beruhigend wirken könne wie Mutterhand der Kinderzeit, wenn seine kleine Stirn in Fieber glühte.

Der Reisemeister! Aber der war verschwunden, wie vom Erdboden hinweggefegt. Daniel fand ihn nicht in der rechten und nicht in der linken Seitengasse und nicht auf dem Knüll.

Der Ringmaschinenmann war dabei, seinen Bau abzubrechen, die anderen Buden waren zwar noch da, aber die Abendlichter, die über sie hinflackerten, leuchteten trübe. Bei dem Bild eines scheußlichen Fettklumpens in Menschengestalt erfaßte Daniel ein unsäglicher Ekel. Es war das vorher übersehene Zelt einer Riesendame.

Am Knüll waren die meisten Tanzlokale des Markttags. Er ging in alle hinein, um wunderlicherweise die zu suchen, die zu finden er befürchtete; er mischte sich in die Menge, in den Brodem von Grog und Staub und Schweiß, atmete eine Luft, die sich mit Rum und Staub und Schweiß gesättigt hatte und durch hundert Lungen, gesunde und kranke, gegangen war. Er suchte Helene Springe und Julius Kirchner und fand sie nicht.

Nach einer Stunde war er wieder im ›Schwan‹ und sprach mit Frau Stabe.

»Wo sind Sie denn überall gewesen?« fragte sie.

Daniel nannte die Tanzlokale um den Knüll, die von Krah und Mehrens und Wichmann und Lienau.

»Nicht im neuen?«

»In welchem neuen?«

»Ja, wissen Sie denn nicht, daß Thun, ich meine den in der Hohen Straße, einen Saal gebaut hat mit runden Bogen? Das ist das Neueste und Beste, kostet aber drei Groschen Angtree. Wenn Sie da nicht gewesen sind – Julius ist immer für das Neueste, Beste und Teuerste.«

Daniel hatte davon gehört heute aber mit keinem Gedanken daran gedacht – bei Thun mußte es sich erfüllen.

Der kürzeste Weg lief durch die Zeile der Krambuden, ein anderer längerer, ein einsamer Weg führte um den Kirchhofswall herum, war von dem Verschönerungsverein vor Jahren angelegt und mit Linden bepflanzt.

Es war, als Daniel ihn einschlug, schon ziemlich dunkel geworden. Der Mond stand zwar in Aussicht, war aber noch nicht aufgegangen, unter den weit herübergeneigten Kronen der alten Stämme an der Kirchhofsmauer sah man kaum die Hand vor Augen. Die Nacht und die Vögel schliefen und schwiegen im dichten Gezweig.

Der Lindenweg war das Verzugskind des Verschönerungsvereins. Im vorigen Herbst, als Daniel zum Nachtmahl gewesen, hatte er die Anlage bewundert, namentlich einen runden von Bäumen und Bänken umgebenen Rasenplatz, und ehe er sich denen versah, saß er dort auf einer hart an die Kirchhofsmauer in das schwärzeste Dunkel gerückten Bank.

Es war ruhig und einsam, und riesengroß wuchs die Stille der Nacht am Sternenhimmel herauf. Ein leises Aufleuchten am Horizont, da mochte die Stelle sein, wo der Mond heraufgestiegen kam. Daniel wollte darüber nachdenken, welchen Weg er ging und ob es der rechte sei, und fühlte doch den ihn fortstoßenden inneren Zwang, fühlte auch, daß sich daran, was kommen werde, nichts mehr ändern lasse. Aber seine Gedanken waren wild, gingen aus der Reihe und wollten auf kein Kommando hören. Da war es ihm fast eine Erleichterung, daß seine Aufmerksamkeit auf Leute gelenkt wurde, die den Lindenweg entlang kamen, seiner Richtung entgegen, vielleicht von demselben Saal her, der sein Ziel war.

Zu seinen Füßen standen sie still, ohne ihn zu bemerken, ein Brautpaar oder Liebespaar. Zu seinen Füßen umarmten sie sich und küßten sich. Und sprachen von ihrer Hochzeit. Er wollte zu Weihnachten heiraten, sie meinte: zum künftigen Frühjahr, damit die Mutter sich gewöhne. – Aber, erwiderte der Liebhaber, Mutter behalte ja noch drei Töchter, und ob sie denn kein Mitleid mit seiner übergroßen Liebe habe? – Ob die denn gar so schlimm sei? – Ja, er habe sie noch mehr lieb als Gott im Himmel.

Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt und tauschten Zärtlichkeiten Kuß um Kuß. »Du magst mich sehr lieb haben, Ferdinand, ich aber habe dich doch noch viel lieber.« Sie umarmte ihn heiß, und unter liebevollem Hin- und Widerreden setzte Ferdinand seinen Willen durch. Weihnachten sollte Hochzeit sein. Darüber schwoll sein Mut gewaltig auf. »Du Beste, du Süße, du Liebe« – und immerzu nach Daniel hinüber der Klang heißer, in keine Worte gekleideter Erklärungen stürmischer Liebe. Und als sie aufstanden und weiter gingen, hörte Daniel noch lange den betörenden Schall.

Er sandte ein heißes Gebet zu dem Ewigen empor oder eher eine Beschwerde, eine Klage, einen Vorwurf. ›Du magst mich verleugnen wollen, aber es hilft dir nichts. Ich bin und bleibe dein Kind. Ich mag sein, wie ich will, voller Leidenschaft, aber ohne Mut, ihr zu folgen. Es ist dein Werk, denn ich bin dein Geschöpf. Es hilft dir nichts, großer Gott, ich lasse dich nicht. Auch mir bist du schuldig, das am eigenen Leibe genießen zu lassen, was sich soeben vor mir zugetragen hat. Und ich harre dieser Stunde.‹

Es war ihm eine Art wollüstigen Triumphs, dem Herrgott seine Nöte vorzutragen, die ihn drückende Last der Verantwortung für die Triebkräfte seines Wesens, woran sein Willen kein Anteil hatte, auf den Schöpfer als Urheber aller Dinge abzuwälzen. Er glaubte auch innerlich dadurch den Neid über das junge Paar bezwingen zu können. Und wieder weckten ihn Stimmen.

Und wiederum war es ein Paar, das vom Tanzhause kam: eine dunkle, junge Männerstimme, eine helle, weibliche. Auch sie liebten sich, waren aber, wie es schien, nicht ganz einig. Er nach Männerart feuriger, leidenschaftlicher, zugreifender, sie ruhiger, mehr auf das Schickliche sehend, er nach dem alten Goethewort Freiheit über die Sitte, sie Schicklichkeit über die Freiheit stellend.

Sie setzten sich auf die sozusagen, von der Elektrizität der Liebe noch immer geladene Bank, und wiederum verbargen die Nacht und das Dunkel der Bäume den um die Süße jener Kraft betrogenen Daniel Dark.

»Ja Hans, hier, wo uns kein Mensch sieht, sollst einen Süßen haben, hier darfst mich küssen.« Hans ließ sich das nicht zweimal sagen, er umarmte und küßte seine Becka.

Sie hieß Becka, wie sich aus dem Gespräch ergab. Daniel mußte die Wiederholung der Liebesszene über sich ergehen lassen, vielleicht wegen seines lästerlichen Gebets zur Strafe über ihn verhängt. Er fühlte es in allen Fibern nach, was sich vor ihm abspielte, war doch auch er ein Gefäß brausender Leidenschaften.

»Sieh, mein Hans«, sagte Becka. »Hier, wo wir allein sind, das ist was anderes. Im Saal vor allen Leuten ging es nicht.«

Hans meinte auch, die Menschen wüßten nicht, wie süß und lieb sie sein könne.

»Aber nun ist es genug«, entschied die Verständige. »Nun wollen wir ruhig beieinander sitzen, meine Hand darfst du noch haben, mehr nicht.« – Und wieder bekam der getreue Hans Schelte, daß er im Saal ein Küßchen zu stehlen versucht habe.

»Aber«, entschuldigte er sich, »Julius Kirchner tat es auch«.

»Ja, er wollte und versuchte es, sie aber wollte nicht und tat auch nicht. Und das war recht von ihr. Vor Leuten schickt sichs auch für Braut und Bräutigam nicht.«

Was das für eine sei, die Braut von Julius Kirchner? fragte Hans.

Das Paar stand auf, weiter zu gehen. Becka fühlte ein Frösteln, sie hatten, meinte sie, schon zu lange gesessen, abends sei es jetzt nicht mehr warm genug, von der Erde steige die Abendkühle der Herbstzeit auf. Der Liebhaber hatte Tuch und Mäntel über dem Arm getragen, nun packte er seine Becka in weiche Wolle und Liebe ein.

Was das für eine sei, die Braut von Kirchner, fragte Hans, und Becka erwiderte, soviel sie wisse, sei es die Hoftochter von Reiherwisch. Hübsch und nett, das müsse man ihr lassen, sei freilich ein bißchen viel im Mund der Leute, aber auch das komme wohl vom guten Herzen, das bei andern Leuten ebensoviel freundliche Liebe voraussetze, wie sie selbst hege.

»Daniel war, als habe er das Rollen eines Erdbebens gehört.


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