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3

Als der Kirchenjurat ihn verlassen hatte, ging Hans Horsten nach dem Hofplatz, seinen Dienst beim Bohnenfahren allenfalls wieder zu übernehmen. Aber es lohnte nicht mehr, die Sonne war im Untergehen, ein Fuder wiegte und schwankte in die Einfahrt, der Knecht teilte mit, daß die Aufstaker in kurzer Zeit mit dem letzten zu erwarten seien. Hans Horsten prüfte die Frucht, fand sie spröde und trocken und leicht aus der Hülse springend, und beriet mit seinen Leuten, ob es wohl gehen werde, die Bohnen der noch nicht abgeernteten kleinen Fenne im »Scheunenhuk« unterzubringen. Das werde sich kneifen, meinte der Vorarbeiter. »Es ist wohl so«, erwiderte Hans Horsten, »ohne Diemen werden wir dies Jahr nicht auskommen.«

Ein Gang nach dem Teich, daneben ein Auge auf den Melkplatz zu werfen. Als er zurückkehrte, war das letzte Fuder da.

Abendrot stand am Himmel, am Rande des Horizonts grünlich, darüber purpurn, wunderbar in Blutfarbe durch die Baumreihe leuchtend, die den Platz umgab. In weiterer Höhe verhallte die Farbenmusik durch Violett und blasses Gold zur Dämmerungsfarbe einer von versprengten Lichtpfeilen durchwärmten Luft. Und scheinbar ganz aufgelöst vom Lichtherd ein paar rosig beleuchtete und umduftete Wolkenwagen in verklärter Reinheit darüber her. Es gibt prächtige Lichter und Farben der schweren Luft in feuchter Marsch. Die sonnenverklärten Wolkenwagen kamen vom Weltmeer her, schwebten sicherlich noch jetzt über den nur wenige Meilen entfernten Wassern des großen Ozeans.

Hans Horsten war wieder in seiner Stube, saß aber nicht vor der Schatulle, sein Schritt ließ die schmalen Dielen des Gemachs leise erbeben. So, deuchte ihm, werde er wohl am ehesten fertig mit dem, was Johann in ihm aufgerührt hatte.

Den Spruch aus Mosis führte er so leicht im Munde wie im Gedächtnis, das heißt, des an der Oberfläche unserer Seele liegenden Tagesbewußtseins, stand doch das ihn von dem Sohn lossprechende Wort in der Heiligen Schrift, war mithin Gottes Wort. Freilich – aus der Tiefe seines Gemüts waren zugleich auf weichen Sohlen andere Gedanken heraufgestiegen, leise Gedanken, denen er aber bisher sein Ohr versagt hatte, weil er sie für falsche Zeugen hielt und überhaupt nicht hören wollte.

Nun aber dachte er an das Glaubensbekenntnis des Kirchenjuraten oder vielmehr des Geistlichen, der Harros Freund war. Wie dieser sich jetzt dazu stellte, wußte er auch, und im Auf- und Abgehen überlegte er, worin wohl der Unterschied zwischen jenen Bekenntnissen und dem seines Sohnes bestehe. Wenn er ehrlich gegen sich sein wollte, mußte er sagen: es war keiner da.

So dachte er, wollte aber nicht, daß es wahr sei. Ein umgekehrter Josua, hieß er Sonne und Licht untergehen, damit Dunkelheit und Nacht eine unbequeme Wahrheit verdecke. Harro wollte gerufen werden, er, der Vater, sollte sich demütigen ... So ein Junge! ... Da konnte der Herr Sohn lange warten.

Hans Horsten war noch in der alten Auffassung aufgewachsen, die das vierte Gebot in Flammenschrift über das Himmelstor schrieb und ein Kindesrecht gegenüber dem Elternrecht kaum anerkannte, jedenfalls nur einem im Staube knienden Kind. Deshalb übertönte die trotzige Forderung seines Sohnes diese aus der Tiefe seines Gemüts quellenden Stimmen. Und deshalb setzte Hans Horsten sich wieder in den Vollbesitz seines strengen Spruchs.

Die Stunde lief, noch immer bewegte er die Dielen seiner Stube. Er ging an der Schatulle vorbei und an der Bibel, vorbei an dem Bild der ewigen Allmacht, hin nach dem Fenster, zurück nach der Tür und wieder nach dem Fenster. Und immer denselben Weg. Und immer weniger fiel von dem Licht, das, die Dämmerung borgte, in den Raum. Es war ihm recht, er stand still, ein Fensterflügel war offen, traumverloren sah er in die Weite.

Fernher quollen die Töne einer Ziehharmonika. Das war der Sohn seines Tagelöhners Daniel Wuppermann, der sich gut auf elegische Weisen verstand. Zu Hans Horsten wogte es in leisen Wellen her, wie einst auf der Hallig seiner Heimat, wo er sich Gott so nahe und wiederum so ferne gedacht hatte.

In der Sonnenbahn nur noch matter Schein. An Stelle der leuchtenden Wolkenwagen bleiche, runde Schäferwölkchen, flockenartig im tiefen Himmelsrund, noch immer das Licht der Sonne trinkend, eine weite, flaumige Herde.

Der Kanzleiwirt sah hinaus und hinauf. Ihm war, als habe er ein Klopfen gehört, er achtete aber nicht darauf und vergaß es gleich. Er sah hinauf zum Himmel, und in seine Seele gelangte etwas von dem Abglanz der ewigen Dinge. Es wollte ihn weich machen, aber er wehrte sich dagegen, er glaubte es sich und seinem Wesen und auch dem lieben Gott schuldig zu sein. Und gegen das, was ihn hatte weich machen wollen, auftrumpfend, sprach er den alten Bibeltrost: »Und wer zu seinem Sohne spricht, ich weiß nichts von ihm, der hält meine Rede und bewahret meinen Bund.«

Als er es gesagt hatte, erschrak er, denn eine Stimme hinter ihm fiel ein: »Das ist ein harter Spruch, Hans Horsten.« Sie sprach in tiefer Lage, und doch war Weiches und Geschmeidiges darin.

Der Bauer wendete sich ihr zu und unterschied im Dunkeln die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes. »Wer da?«

»Pastor Rank ist mein Name«, war die Antwort. »Ich traf niemand im Flur und im Vorzimmer, ich klopfte und glaubte ein ›Herein!‹ vernommen zu haben, muß aber wohl im Irrtum gewesen sein. Ein Wink, ein Wort, Herr Horsten, und ich mache die Tür hinter mir zu.«

»So war es nicht gemeint.«

»Es ist nicht die übliche Besuchszeit, aber ein Bote mit guter Post, dachte ich, kommt immer recht.«

»Sie bringen gute Nachricht?«

»Von Ihrem Sohn.«

»Hm!«

Hans Horsten sagte »Hm!« – mehr hörte man nicht. Er rief nach Licht, und als die Stube erhellt war, trugen das Gesicht des Wirts und sein Profil die Maske des Bronzegusses, die man bei ihm gewohnt war.

»Von meinem Sohn«, knüpfte Hans Horsten den Gesprächsfaden wieder an, nötigte seinen Gast zum Sitzen und sagte wieder: »Von Harro also!« Es klang nicht ermunternd, aber auch nicht finster. Es war das ›Hm‹ eines Festungsbefehlshabers, der die Vorschläge der Belagerungsarmee hören will.

Pastor Rank war noch immer ein ansehnlicher blonder Mann von schlanken Formen. Der schlichte dunkle Anzug paßte gut zu dem geist- und gedankenvollen Gesicht.

»Ist Ihnen bekannt, Herr Horsten«, fing er an, »daß der berühmte Gelehrte« (ernannte einen bekannten Namen) »vor ein paar Monaten gestorben ist?«

»Ich glaube, es gelesen zu haben«, erwiderte Hans Horsten.

»Und daß seit dieser Zeit Behörden und die gelehrte Welt und alle, die sich wissenschaftliches Interesse zuschreiben, darüber grübeln, wer wohl würdig sei, sein Nachfolger zu werden?«

»Nein! Mein Landbote« wird es nicht gebracht haben. Und wenn, dann habe ichs übersehen. Ich rechne ja auch solche Dinge nicht ...«

»Sie meinen: zu denen, die für Sie Wichtigkeit haben?

»Wenn auch nicht ganz so schlimm, ungefähr hab ich wohl so gedacht«, entgegnete Hans Horsten.

»Und wenn nun« – her Geistliche neigte sich bedeutungsvoll gegen den Herrn des Hauses – »wenn nun Harro Horstender aufsteigende Stern am Himmel der Wissenschaft, geboren in dem Haus, dessen Dach uns jetzt behütet, das in Liebe zu Gott und in Vertrauen zu ihm erbaut ist, wie der fromme Spruch über der Haustür sagt, wenn nun der Sohn dieses Hauses, Ihr Sohn, Herr Horsten, wenn der nun unter allen, die genannt werden konnten, als der Würdigste befunden und ausersehen wäre?«

Hans Horstens Bronzegesicht blieb ohne Bewegung. Er antwortete: »Das wäre denn wohl eine große Ehre für die Kanzlei.«

»Allerdings, eine große Ehre für die Kanzlei, und nicht nur für die Kanzlei, sondern für unser ganzes gutes Holstenland. Und es ist so: Harro Horsten ist berufen, er hat angenommen, er ist ernannt worden, die Sache ist fertig.«

Nun mußte bei dem alten Herrn doch etwas kund werden, was einer Gemütswallung ähnlich sah! So dachte der Pastor Rank. Aber er sah nichts dergleichen. Hans Horsten erhob sich vielmehr, nahm eine Zigarrenkiste vom Bücherbord und bot sie dem Besuch. »Ich bin ein schlechter Wirt«, sagte er, »wie stehts mit einem Mund voll Rauch?«

Ein Schatten des Unmuts flog über Pastor Ranks Miene. Es war aber nur ein Schatten, verschwunden wie gekommen. Es gelang ihm sogar, die abwinkende Handbewegung mit einem Lächeln zu begleiten.

»Danke, ich gehöre zur Gemeinde der Nichtraucher ...«

»Die immer größer wird«, ergänzte Hans Horsten. »Ich gehöre gewissermaßen auch dazu, Zigarren hatten niemals meine Liebe, ich hielt mich an die Pfeife, aber das ist auch beinahe vorbei.« Die Zigarrenkiste stellte er aufs Bücherbord zurück.

»Es scheint, Sie nehmen nicht viel Anteil an dem Glück Ihres Sohnes?« wagte der Pastor zu sagen.

Hans Horsten sah ihn scharf an. »Sie wissen besser als ein anderer, wie wir stehen, ich und mein Sohn.«

»Ich weiß, er hatte ein anderes Fach studiert, als Sie wünschten, und hatte nach ihrer Ansicht nicht den rechten Glauben. Wir sprachen uns darüber aus, als Ihr Sohn das Haus verließ.«

»Sie haben es gut im Gedächtnis, Herr Pastor.«

Das war die Sache, die den Alten erregte. Er ging wieder mit schweren Schritten in der Stube auf und ab, ohne daran zu denken, ob es sich auch wohl schicke. Zu viel war aufgestöbert.

Was ging es den Pastor an? So dachte er erst in Groll, dann aber mit anderen Gedanken. Lange, lange Zeit hatte er es in sich verschlossen. Wenn ers mal sagen dürfte, in ein mitfühlendes, helfenwollendes Herz ausströmen lassen! Ein einsamer Mann war er gewesen, hatte es freilich anscheinend, niemals anders gewollt. Den Menschen war er aus dem Wege gegangen, gutgesinnten wie übelgesinnten, bis sie es ihm vergolten und einen Bogen um ihn geschlagen hatten. Und nun kommt einer zu ihm, ein Freund seines Sohnes, ein halber, so sah er es an, ein halber Christ und Gläubiger, nicht anders als sein Sohn, zum Mittler zwischen ihm und Harro wie geschaffen, und der will mit ihm darüber reden. ›Wenn ichs könnte, wenn ich Worte fände; ich finde sie aber nicht, nicht für das nicht auszuschöpfende Meer, das in mir wogt!‹

Der Geistliche verstand die Bewegung, verstand sie aber doch nicht ganz recht. »Da ist ein Punkt«, sagte er, »ich möchte gerne mit Ihnen darüber sprechen, wenn ichs darf. Ich weiß nicht recht, wie ichs anfange. Wie komme ich dazu, etwas von Ihnen zu erbitten, was Sie vielleicht keinem Menschen sagen wollen? Und doch wiederhole ich: darf ichs wagen?«

Dem Kanzleibauer ging der Atem schwer. In den Luftwegen mochten katarrhalische Wucherungen sein, es gab ein pfeifendes Geräusch.

Ein Verdacht stieg in ihm auf und erfüllte ihn mit ... Er wußte selbst nicht, war es Unwille, war es Befriedigung.

»Eine Frage!« stieß er hervor. »Kommen Sie mit Vorwissen oder im Auftrage meines Sohnes?«

»Nein, keines von beiden«, war die Antwort. »Ihr Sohn weiß nichts davon, ich komme aus eigenem Antrieb, aus eigenem Bedürfnis. Ich mag gern andere Leute glücklich sehen, möchte ein wenig dazu beitragen, das ist der Lohn, den ich davontrage. Gönnen Sie mir den, Hans Horsten!«

Hans Horsten kaute nervös an den Lippen. »Wenn das ist ...« Und nach einer Pause, des Geistlichen Hand ergreifend, sprach er: »Sagen Sie und fragen Sie, was Sie wollen – ich höre. Blättern Sie in meiner Seele, wie ... wenn ...«

Er konnte mit dem Bild nicht zurechtkommen, aber der andere hielt die dargebotene Hand und half. »Sie wollen sagen: wie wenn Ihr Inneres wie ein offenes Buch vor mir ausgebreitet wäre. Das freut mich. Wenn Sie so gesinnt sind, dann kann unsere Unterredung nicht ergebnislos sein.« Und er schüttelte kräftig Hans Horstens Hand.

»Sie sagten«, fuhr er fort, »Ihr Sohn sei ein Gottloser gewesen, und das mag in gewissem Sinn zutreffen. Er ist es aber nicht mehr, er ist ein anderer geworden, er hat sich darüber in Schriften ausgesprochen, die ich gelesen habe, die ich kenne.«

»Ich kenne sie auch, er hat sie mir geschickt«, warf Hans Horsten ein.

»Um so besser, dann wissen Sie, daß ich nicht zuviel gesagt habe.«

»Anders ist er geworden, aber der Glaube, den ich im Sinn habe, ist es nicht. Ich fürchte, Herr Pastor, den haben Sie auch nicht.«

Der Geistliche ging darauf nicht ein. »Ich überraschte Sie vorhin«, sagte er, »und hörte, ohne es zu wollen, aus Ihrem Munde einen Spruch, einen, der auf Abkehr von Menschen, die uns am nächsten stehen, gerichtet ist. Ein hartes Wort.«

»Aber Gottes Wort!« hielt Hans Horsten entgegen und warf den Kopf in den Nacken.

»Gottes Wort ist ein reiner Trank, aber nicht alle Gefäße sind es, worin es gereicht wird.«

»Das Wort, das Sie hart nennen, steht in der Heiligen Schrift. Sie werden nicht sagen wollen, daß die Heilige Schrift ein unreines Gefäß ist. Da muß ich mich wohl verhört haben.« Hans Horsten sprach in einem erregten Ton, er war in Gefahr, seine Haltung zu verlieren.

»Nicht wahr, wir wollen ruhig bleiben, lieber Freund. Wie ich das von der Bibel meinte, darauf, hoffe ich, werden wir noch kommen. Vorderhand das: Der Gott des Alten Testaments war (selbstverständlich spreche ich nur von der Vorstellung des Volkes, das ihn zum Nationalgott erhob) ein werdender, daher ein noch unvollkommener Gott, ein den Menschen ähnlicher Gott, der Reue, dem Zorn und anderen menschlichen Leidenschaften zugänglich, namentlich dem Bedürfnis der Rache. Der Herr Zebaoth, heißt es, trägt die Schalen des Zornes in seinen Händen. Er war ein Gott, der sich auf Verträge und Bündnisse mit dem Volke Israel einließ. Wenn es die Bundespflichten verletzte, rächte er sich und strafte. Gegen die Feinde, gegen alle, die nicht zum Volke Israel gehörten, hatte er keine Pflichten; es war vielmehr seine Zusage, sie dem Volk Israel zu Füßen zu legen, wenn sie den Bund hielten. – Ihr Mosisspruch hat diesen werdenden Gott und den mit ihm vereinbarten Bund im Sinn.«

»Ganz anders«, fuhr der Pastor fort, »im Neuen Testament. Nicht gleich, nicht unangefochten, aber aus dem Gott der Juden wird ein Gott der Menschheit. Von irdischen Schwächen und Leidenschaften frei, schreitet er über die Erde, umfaßt alles, was Menschenangesicht hat, mit gleicher Liebe. Anklänge und Anzeichen dazu mögen auch im Alten Testament zu finden sein, aber die Erhebung Jehovas zum allliebenden Gott aller Menschen – das ist und bleibt die Tat von Jesu Christo, dem Stifter unserer Religion. Er hat sich auch erst dazu durchringen müssen, er hat es aber getan. ›Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch verfolgen!‹ Vor Christi Auftreten war dies Liebesgebot nicht möglich, nicht denkbar. Gott über alles lieben und seinen Nächsten wie sich selbst: das sind die neuen Klänge und bessere, als die im Buch Mosis stehen.«

Hans Horsten sah vor sich nieder. Die Liebesgebote des Heilands waren ihm bekannt; er hatte aber darüber hinweggesehen, hatte darüber hinwegsehen wollen, weil er glaubte, daß ihm der alte, harte Spruch besser diente, weil er sich in den Gefühlen verhärten wollte, die ihm gestatteten, dem in der Fremde weilenden Sohn den Ruf vorzuenthalten: »Komm an mein Herz, du bist mein lieber Sohn!«

Hans Horsten sah stumm vor sich nieder, dann sagte er: »Und doch sprach unser Heiland zu seiner Mutter: ›Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!‹ Und als seine Angehörigen ihn zu sich baten, folgte er ihrer Bitte nicht, zeigte vielmehr auf seine Hörer und sagte: ›Das sind meine Mutter und das meine Brüder.‹«

»Ganz recht«, war die Einwendung, »die Überlieferung meldet uns aber auch, daß er für seine Mutter noch im Sterben gesorgt habe und daß seine Brüder sich später als Anhänger seiner Lehre bekannt haben. Damals aber, als er sich den Hörern seiner Lehre näher fühlte als der Mutter und den Brüdern, damals gehörten sie zu dem Schwergewicht, das an seinen Fersen hing, ihn an dem hohen Flug seiner Sendung hinderte, ihn zur Erde niederzog. Sie sahen das als Verirrung an, was seine Bestimmung war. Er sei rasend, sagten sie und hatten die Absicht, ihn gewaltsam an seiner Lehrtätigkeit zu hindern. Wer will ihnen daraus einen Vorwurf machen? Ihr Meinen und ihr Tun war menschlich; es wäre, wenn anders, verwunderlich gewesen. Ist es doch eine für und für wiederkehrende Erscheinung bei großen Männern, daß die, die ihnen menschlich am nächsten stehen, sie auch wirklich am meisten lieben und menschlich für sie sorgen, wenig Verständnis für ihre Sendung haben und durch ihre Liebe und Fürsorge Hindernisse bereiten, das auszuführen, wozu sie der Schöpfer bestimmt hat.«

Der Geistliche zog nicht ausdrücklich die Nutzanwendung auf Hans Horsten; der tat es selbst. Zwischen ihm und seinem Sohn stand eine Wolke, ein Mißverständnis. Und wenn dabei einer von ihnen in Gefahr gewesen war, durch den andern von einem hohen Ziel abgelenkt zu werden, so war es nicht der Bauer der Kanzlei.

»Und in dem Neuen Testament«, fuhr der Geistliche fort, »steht die wundervolle Dichtung oder, wenn Sie lieber wollen, Erzählung, dort Gleichnis genannt, von dem verlorenen Sohn. Der war gegangen und kam zurück, und der erfreute Vater veranstaltete ein Fest, war fröhlich mit den Nachbarn und mit seinem ganzen Haus'«

»Ja«, fiel Hans Horsten ein, und ein Lächeln der Genugtuung, des Triumphs verklärte seine Züge. »Ja, aber der Sohn kam, vom Alten ungerufen, warf sich dem Vater zu Füßen, umklammerte sein Knie und flehte: ›Vater, vergib mir, ich habe gesündigt im Himmel und vor dir: ich bin nicht wert, daß ich dein Sohn heiße.‹«

»Ganz recht, lieber Freund«, lautete die Entgegnung. »Aber dem hatte der Alte nicht den Frieden seines Vaterhauses aufgekündigt, nicht die Schwelle verboten, der hatte sein Teil von den Gütern gefordert, hatte es mit Prassen durchgebracht und war erst zurückgekehrt, als er einem Bürger die Schweine hüten mußte, als er begehrt hatte, sich von den Trebern zu sättigen, und niemand sie ihm gab.«

»Man hat«, fuhr der Pastor fort, »man hat gesagt, das Gleichnis sollte eher von dem barmherzigen Vater als ›von dem verlorenen Sohn‹ heißen. Denn was so eindrucksvoll wirkt, ist die allverzeihende Liebe des Vaters. Er wartete nicht, bis sein Sohn den Fußfall vor ihm tat, lief ihm vielmehr, wie er ihn von ferne kommen sah, entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Und dann erst hatte der Sohn Gelegenheit, sein Unrecht abzubitten. Der Alte aber sprach: ›Bringt das beste Kleid her und tut es ihm an und gebt ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße. Bringt auch ein gemästetes Kalb her, schlachtet es und laßt uns essen und fröhlich sein! Denn dieser, mein Sohn, war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden worden.«

Hans Horsten nickte zu diesen Worten, ohne es zu wissen. Er besann sich darauf, daß er alles das sich schon selbst gesagt und vorgehalten habe. Er hatte sich nur für und für gewehrt, es in die Gänge seiner Seele hinabzuleiten, wo kühle Überlegung selbsttätig Gründe und Gegengründe wägt und mißt. Nun aber glitt es in die Tiefe und füllte die Schalen.

»Überhaupt, warum halten sie sich an das Alte Testament?« fragte der Geistliche. »Die Evangelien, zumal die prächtigen Gleichnisse darin, das sind reine Gefäße für das reine Wort. Man kann hingreifen, wo man will. Zum Beispiel, um mich an Allbekanntes zu halten: Da ist der Hirt, der hundert Schafe hütet. Ein Lämmlein hat sich verstiegen; die neunundneunzig läßt er in der Hürde und ruht nicht, bis er das im wüsten Felsgebirge verirrte Tierchen wieder gefunden hat. Er nimmt es auf seine Schulter und trägt es den beschwerlichen Weg zurück. Und denselben Gedanken abgewandelt in anderer Form von dem verlorenen Groschen. Und immer die Hinzuziehung der Nachbarn und Freunde zum Seelenjubel des Finders, wie Zimbelklang und Tubaton die jubelnde Lehre: Im Himmel ist mehr Freude über einen bekehrten Sünder als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.«

Eine halbe Minute schwieg er. Dann fuhr er fort: »Und wenn wir annehmen, Ihr Sohn sei die verkehrte Straße gegangen, sei vom rechten Weg abgekommen, ein Verirrter, ein Verstiegener – wäre es selbst da nicht an der Zeit, ihm nachzugehen, ihn zu suchen, ihn zu finden und ihn nach Hause zu geleiten?«

Und wieder nickte der Alte. Denn auch das ging dahin, wo die Schalen am Balken hingen. Noch aber fand er die Gewichte zu leicht.

»Es stimmt doch nicht ganz, Herr Pastor«, wendete er ein. »Mein Sohn will mir seinen Willen auferlegen. Ich soll unter das Joch. Den Weg kennt er, er will aber erst kommen, wenn ich ihn rufe.«

»Dafür«, war die Antwort, »ist das Lämmlein aber auch nicht von dem Hirten in die Irre gejagt worden, wie ...«

›Wie man wohl bei der Nutzanwendung auf Sie sagen könnte‹, wollte er hinzusetzen, unterließ es aber. Er sah, daß es nicht nötig war. Er sagte nur: »Und nichtsdestoweniger ging der getreue Hirt ihm nach.«

Der Kanzleibauer wußte darauf nicht viel zu erwidern, versuchte daher die Lage, in die er sich gedrängt sah, auf die Überlegenheit des Gegners abzuwälzen. »Ihnen gegenüber«, sagte er, »muß ich wohl in die Enge kommen. Ich bin ein unwissender Bauer.«

Aber das war von der Oberfläche hergeredet. In der Tiefe seiner Gedanken war er ein gerechter Richter, sich selbst nicht zu Leide, aber auch nicht zu Liebe, und dort gab er seinem Gegenpart recht.


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