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4

Trina Mersch aus Popenau war Zeuge von Daniels Siegen. Nach Lohfelderkamp konnte sie nicht mit, aber ohne Glückwunsch und ohne Bewirtung ließ sie den Schwestersohn nicht ziehen. Färber Thießen hatte für Markt- und Konfirmationstage Gerechtigkeit, bei Peter Thießen bekam Daniel Kaffee und Kuchen. Dann ging er.

Er ging gerade am Schwan vorbei, als man die Kutsche von Reiherwisch aus dem Schauer schob. Springes waren also noch da, rüsteten aber zur Abreise. Daniel ging hart unter den Fenstern des Herrenzimmers hin, Stimmen und Gläserklingen schallten hell heraus. Man mußte dort innerlich oder im Ofen gut gefeuert haben, die oberen nach außen schlagenden Luftfenster waren offen. Gläserklang und Stimmengewirr, hohe Frauenstimmen, durchschnittlich drei zu gleicher Zeit, wie man zu hören pflegt, wenn man Abschied nehmen will, der wirkliche Abschied aber noch fern ist – Ausschüttung der Schätze freundschaftlicher Gesinnung, Schlüsselrasseln zum Aufschließen der Herzenskammern, wo der schwellende Gemütsreichtum aufgehäuft ist. Das kramt man nicht in ein paar Minuten aus, duldet aber kein Abwarten, ob der Zufall einem das Wort gibt, das muß man sich nehmen.

Daniel hätte gern einen Augenblick stillgestanden, zu merken, ob er Lenes Stimme heraushören könne, aber er wagte es nicht.

Und schließlich wagte er es doch. Es fing an zu regnen, der alte Lindenbaum zu Seiten des Hauses war noch kahl und blätterlos, der gab keinen Schutz, und der neue Regenschirm schien ihm geradezu schade. Da stellte er sich unter den Giebelaufsatz des Hauses. So durfte er in einer Art Notstand tun, was er ohne ihn für unerlaubt gehalten hätte.

Lene Springes Stimme hätte er erkannt, deren Schwingungen gingen ihm zu tief. Überdies war aus der dünnen Kinderstimme bereits ein volles, rollendes und doch weiches Mädchenorgan geworden.

Noch immer sprachen drei Frauenstimmen zu gleicher Zeit, Lene war nicht darunter. Zwei ältere, wohl die Schleiereulen, die Daniel in der Kutsche gesehen. Es sollten eine Schwester und eine Schwägerin von Springe sein, ein paar alte Jungfern. Eine dritte, die Wirtsfrau Kirchner, erkannte Daniel, sie überkreischte die dünnen: ›... und Springes sollten mal wiederkommen, und nicht als Wirtsgäste, sondern als Familiengäste.‹ Und mitten hinein die dünnen: ›... und Kirchners sollten auch kommen.‹ – Unglaublich, die vielen Abwandlungen der Einladungen und Liebesbeteuerungen! ... und Lene sei ja groß, könne bald einer Wirtschaft vorstehen ... »Was meinst du, Julius, sollte sie nicht?«

An diesem Punkte hätten Julius und Lene einsetzen können aber aus dem allgemeinen Gerede und Lachen und Gläserklirren, das sich jetzt erhob, war nichts zu erkennen. Und doch floß es dem Hörer kalt und heiß durch die Glieder. Er hatte das Gefühl, als ob drei Schicksalsnornen am Werke seien, seine Lene und den sommersprossigen Julius zusammenzuspinnen.

Nun schlugen Männerstimmen durch. Springe und Kirchner griffen, wie es schien, auf einen alten Handel zurück: »Hundert Mark mehr, dann hast dus«, rief Springe. »Das wolltest wohl«, erwiderte der alte Kirchner. »Aber so schnell schießen die Preußen nicht.« Und wieder Gelächter und Gläserklingen.

»Arnold«, rief eine von den dünnen Stimmen, »das ist das vierte Glas, trink nicht so viel von dem heißen Wein!« »Nä, min leeve Wische«, entgegnete Springe. »Ümmers duhn un smöken, seggt Harm Sodt, awer blot in Köst un Kinnelbeer.« Er lachte.

»Julius«, fuhr dieselbe Frauenstimme fort, »nun müssen wir aber fahren. Glock zwei haben wir Mittag angesetzt. Und das Letzte müssen wir selbst zurichten. Sag den Knechten, Julius, nicht?«

Der Regen hatte aufgehört, Daniel Dark nahm seinen Schirm und machte sich auf den Weg, mit des Schicksals Ungunst belastet.

›Der Wagen wird mich gleich überholen‹, dachte er, aber es dauerte eine ganze Weile, bevor er das Geräusch hörte, wie die Kutsche durch das Geleise stieß. Er beschloß, sich nicht umzusehen; als aber die Pferde dicht hinter ihm schnaubten und prusteten, tat er es doch. Aufblicken wollte er aber keinesfalls. Er dachte an seinen neuen Anzug und an die Wagenspritzer und drückte sich so weit zur Seite, wie er vermochte. Sie sollten vorbeifahren, er wollte nicht aufblicken, und wenn sein Herz darüber brach.

Aber er wartete den Bruch nicht ab, er sah auf. Arnold Springe wollte es, Arnold Springe rollte ein Brr! Brr! hin und die Pferde standen neben Daniel Dark. Eine nagelneue Halbchaise. Und nicht die runden, braunen Pferde, sondern schwarze. Und die schwarzen Rosse sprühten und dampften vor Ungeduld, stampften den weichen Weg und warfen Schaumflocken vom Stangengebiß.

Und der, der im Vorderstuhl saß und die Leine hielt, der frühere Bäckergeselle Arnold Springe, sah rot und feurig aus, und Portwein lachte und strahlte in seiner Miene. Als er Daniel Dark gesehen, hatte er sich der Antworten erinnert, die der Junge gegeben, und da war ihm durch den Kopf gegangen: ›Das ist ein Klüftiger. Sollte das nicht einer für dich sein? Solltest du dir den nicht zurichten können?‹ Die Schreiberei und das Buchführen war ihm schon langst zuwider. ›Er kann‹, dachte Anton Springe, ›als Kleinknecht eintreten und langsam zum Schreiberdienst aufrücken. Und wenn er sich gut macht, wird auch wohl Rat zum Besuch einer Bauernschule. Und dann ist er im Zug zur Verwalterlaufbahn.‹

»Sieh, Lene!«, rief er.

Lene saß im Hinterstuhl zwischen den Tanten, der Hinter- und Herrenstuhl nach alter solider Art breit und weit ausgebaut, drei nicht zu starke Frauen fanden darin gut Platz. Die Junge war nicht breit und die beiden Alten mager, in den Jahren, wo Frauen sich meistens den Verzicht auf einen Eheherrn abgerungen haben, wo sie entweder dick oder dünn werden – sie hatten das letztere Teil erwählt. Beide waren krähenschwarz, in dunklen, ehrenfesten Mänteln. Die eine Springes eigene Schwester, die andere Schwester seiner verstorbenen Frau, beide strengen Blicks und strengen Aussehens, ähnlich wie richtige Schwestern. Das mochte daher kommen, daß beide strenge und ähnliche, wenn auch entgegengesetzte Ziele verfolgten. Beide hielten sich auf Reiherwisch auf, die Schwägerin, um Arnold Springe doch noch zu heiraten, die Schwester, solches, es möge kosten was es wolle, zu verhindern.

»Sieh, Lene!« rief der Reiherwischer. »Ist das nicht dein kluger Nachbar?«

Wagen und Pferde hielten an Daniels Seite.

»Ja, Vater, Daniel Dark von Lohfelderkamp.«

Da saß sie. Wenn er sie sah, kam er immer wieder auf das eine Bild, auf den einen Vergleich zurück. Er wußte keinen anderen und keinen besseren. Eine Blume war sie, eine Rose, und unter allen Umständen ein Engel.

Der Vorderstuhl war schmal, nur für den Kutscher und höchstens für noch eine Person gebaut, diese durfte sich aber nicht zu wichtig geben. Dort saß, Peitsche und Leitseil in den Händen, als Fahrer der gutgelaunte Besitzer von Reiherwisch in runder Behaglichkeit und wohl eingeschnürt in Mantel und Decke.

»Ja, Vater, das ist Daniel Dark«, hatte Lene gesagt.

»Sieh, sieh, ganz von Lohfelderkamp. Und so allein hinterher?«

Daniel antwortete nicht, er glaubte Ursache zu haben, sich in Grund und Boden zu schämen, ohne etwas dafür zu können. ›Das ist nun mal so‹, dachte er, ›ich komme immer hinterher.‹

»Das ist nicht gut, mein Jung«, fuhr Springe fort, wollte den Kopf schütteln und schüttelte in seiner guten Laune den ganzen wohlbestellten Leib. »Steig man mit auf, von Reiherwisch kannst den Fußsteig über die Schleuse nehmen.«

»Aber Arnold!« rief eine Schwarze. »Aber Arnold!« die andere. »Wo soll er denn sitzen? Vorn bei euch kann er doch nicht.«

Bisher hatte Daniel vor lauter Befangenheit das, was ihn am meisten interessieren mußte, übersehen, nämlich daß Julius Kirchner, der lange, sommersprossige Julius, neben Springe saß. Aber wie er ihn sah, verwunderte er sich nicht, war Julius doch sozusagen in seinem Beisein eingeladen worden, an der Familientafel in Reiherwisch teilzunehmen. Julius Kirchner saß da, sah mit beleidigendem, fettem Lächeln auf Daniel herab, sagte aber kein Wort.

»Bei euch kann er doch nicht!« hatten die Schwarzen gesagt. Da hatten die Tanten recht, das ging nicht, der Kutscherstuhl war voll, Julius Kirchner saß, so dünn er war, schon gequetscht. Springe bestätigte auch, das gehe nicht. »Ich muß die Hände frei zum Fahren haben. Auf unserem Schoß kann er nicht sitzen. Ihr, alte Schwestern, müßt ihn nehmen.«

»Aber Arnold!« schrien sie zu gleicher Zeit.

»Geht nicht anders.« Der Bäckergeselle auf dem Bock lachte mit offenem Mund.

»Daß du immer so wilden Spaß machst, David geht ja gern zu Fuß.«

»Daniel heißt er«, berichtigte Lene.

»Ja, ich geh gern.« Das war das erste Wort, was der Gegenstand des Sturmes sprach.

»Nein, Dark«, entschied Arnold Springe, »du mußt mit, ich hab mit dir zu reden.«

»Aber Arnold, nimm doch Vernunft an, wo soll er denn sitzen?«

»Das will ich euch sagen. Du, Tante Wische, nimmst ihn aufn Schoß.« Springe schüttelte sich und belachte seinen Spaß.

»Bist wohl nicht recht gescheut! Da antworte ich nicht drauf.«

»Das geht also nicht. Ich versprach mich, Wische. Ich meine, Daniel Dark nimmt dich auf den Schoß.«

Die Frauen erschöpften sich in Ausrufen des Unwillens, der Schwager und Bruder lachte wieder, wilder noch als zuvor, dann dämpfte er seine Heiterkeit und fuhr fort: »Das geht also nicht. Nun, dann setzt er sich zwischen euch, und die Deern nimmt er aufn Schoß.«

Da lachte Lene hell auf: »Papa, Papa, was du alles angibst!«

»Möchtest das nicht, Lene?« fragte der Vater.

Lene lachte weiter, aber es klang nicht wie nein. »Im Kirchensteig sind wir mit den Köpfen zusammengestoßen«, erwiderte sie.

»Nu, also!« entgegnete der Bäckergeselle.

Und Lene entschied: »Warum soll ich nicht auf seinem Schoß sitzen? Da ist doch nichts bei.«

»Aber Lene!« krähten die Raben.

»Ach was!« Springe sprach das Schlußwort. »Anders gehts nicht. Seid ihr mit den Köpfen zusammengestoßen, dann gehts auch auf dem Schoß.«

Zu Daniel: »Nu man schnell, man rauf, hopla! Eins, zwei, drei!«

Daniel wußte nicht, wie ihm war. Das Kommando wirkte auf ihn wie Zwang und Suggestion. Er dachte, es geht ja nicht, die Alten haben recht, und doch öffnete er das Spritzleder, kletterte hinauf, und Lene machte ihm Platz. Tante zur rechten Hand schrie »Au!«. Er hatte sie auf den Fuß getreten. Dann saß er zwischen zwei Frauen auf dem von seinem Mädchen warm gesessenen Platz.

Die Tanten protestierten nicht mehr und sagten nichts mehr, aber ihr kraus gezogener Mund, ihre scharf aufgehobenen Nasen drückten aus, daß das ein Vorgang sei, wofür ihnen der Ausdruck fehle.

Arnold Springe ließ den Pferden die Zügel, die Schwarzen stoben davon.

Lene war stehengeblieben, sie hielt sich am Kutscherstuhl fest. Aber das Gleise des Sandweges war uneben, es kam auch wohl ein Stein vor das Rad, da sagte sie: »Ich fall noch um, Daniel, wenn du mich nicht hältst.« Er griff nach ihrem Arm. Lieber hätte er nach der Taille gegriffen, aber das getraute er sich nicht.

»Du kneifst mich, und die Seide verträgt das nicht.«

Da ließ er sie los. Es kam ein Ruck, und sie saß auf seinen Knien.

»Ich glaube, es ist am besten, ich bleib hier sitzen. Vater meint ja auch, ich könnte das gerne. Soll ich?«

Daniel murmelte etwas, das sich wie »Ja« anhörte.

Springe drehte sich im Fahren herum und strich mit der Hand über Daniels Einsegnungsrock. »Nicht wahr, Dark, das ist eigengemacht, das drückt nicht, wenn man was auf dem Schoß hat?«

»Das ist Beiderwand«, erklärte Daniel.

»Dann setz dich nur dreist auf!«

Halb hatte das junge Mädchen noch auf den Zehen gestanden, nun ließ sie sich ganz, und er hatte die volle süße Last seiner großen Liebe.


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