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7

Der neue Saal war hochgewölbt, beim Aufgang wurden drei Groschen erhoben, man bekam eine Karte und konnte sich dafür an der Schänke Getränke geben lassen. Es war viel Andrang, die Treppe polterte und stöhnte, als Daniel hinaufging.

Es war ein sogenanntes ›Spiel‹ beendigt, eine kleine Pause folgte. Jedes aus vier Tänzen bestehende Spiel wurde mit einem Groschen bezahlt. Wenn es zu Ende war, strich der Vorgeiger ab – einen Ton hoher Lage, einen gedämpfteren – das klang wie: ›Küßt euch!‹ war ursprünglich auch so gemeint. Alte Leute erzählten, es habe eine Zeit gegeben, wo jeder Tänzer sein Mädchen dabei auf die Backe geküßt habe. Da seien sie und die Welt noch jung gewesen, alles viel unschuldiger, da habe es nicht viel ausgemacht. Hier und da sollten noch jetzt kecke Burschen Mundraub verbrechen.

›Küßt euch!‹ strich die Musik, als Daniel im Saal angekommen war, aber keiner von den Tänzern wagte es zu tun; es blieb beim Anlachen mit Augen und Mund. Man müsse zwar aufschieben, aber aufgeschoben sei nicht aufgehoben, sprach hier und da das Lachen.

Daniel Dark sah sich um – die von ihm Gesuchten waren nicht im Saal, ihm versagten Denken und Wollen.

Die Musik setzte wieder ein, und wieder Walzen und Wiegen. Bekannte sah Daniel kaum, aber doch ... da war Anna Ellernbrook, eine ältere Schwester von Lena Ellernbrook. In den Gelagen von Lohe war sie Königin, und selbst hier ging es wie auf Rollen. Wenn man sie im Tanzschwung sah mit dem lang herumwehenden Rock, glaubte man gar nicht, daß sie Füße habe. Und der, mit dem sie tanzte, war der junge Kahlke, der Windmüller, der noch immer unverheiratet war. Das Tanzbein verstand auch er zu schwingen. Anna Ellernbrook hatte, wie man sich im Dorf ausdrückte, ›etwas in die Milch zu krümeln‹, er wollte sich eine Müllerin herantanzen die was mitbrachte. Warum auch nicht?

Bei Daniel Dark versagten Denken und Wille. Was wollte er hier? Was ging ihn der hochgewölbte Saal an? Und was das Wiegen und Tanzen?

Was ging es ihn an? ... Die Einsamkeit von Lohfelderkamp stieg vor ihm auf, heißes Heimweh erfüllte sein Herz. Der Mond war aufgekommen und schien in die Saalfenster. Mondschein lag jetzt wie Graupelschnee auch auf den großen Steinen von Lohfelderkamp. Eine weinerliche Sehnsucht nach ihrem Anblick, nach den weiten, vom weißen Mondnebel bedeckten Wiesen stieg in Daniel auf ... Mutter hat Kaffee und Brot und Milch und Käse und Butter auf den Tisch gesetzt, wenn sie nicht gar bis zu seiner Heimkehr außer Bett geblieben ist. Der Reisemeister will ihn begleiten ...

»Küßt euch!« strich der Geigenmann. Daniel war alles einerlei, er wollte nach Haus, wollte dort einen Winkel suchen, wo er allein sein, wo er grübeln, denken und sich härmen durfte.

Er wollte gehen, es kostete einige Mühe, die Treppe zu gewinnen. Als es gelungen war, stieg er hinab ... allein. Darüber wunderte er sich, sah dann aber, daß er auf einen Seitenausgang gekommen war, der in die Hinterräume des Hauses führte. Und sah sich dann in einem von kümmerlichen Lämpchen erhellten Gang.

Eine Arbeitsfrau lief ihm in den Weg, er fragte, wo und wie er ins Freie komme. »Letzte Tür links«, war die eilige Antwort. Die Auskunft war mißverständlich. Die Richtung, die Daniel nehmen sollte, war nicht angegeben. Wo war rechts, wo links?

Er wollte an beiden Enden versuchen, auf gut Glück ging er dahin, wo er den Hof vermutete. Letzte Tür links – sie klemmte sich, bei Hintertüren nicht auffällig. Ein wenig anstemmen, dann wird es gehen. Und es ging, er hörte aber ein Geräusch, als ob ein vor die Tür geschobener Stuhl zurückschurre.

Er war nicht im Freien und nicht im Hof, er war in einem halbdunkeln Raum, in einer abgelegenen Stube.

Ihm gegenüber auf einem Sofa saßen zwei Menschen, Rotweinflasche und zwei halb geleerte Gläser auf einem vor ihnen stehenden Tisch.

Die beiden Leute, ein junger Mann, ein junges Mädchen, fuhren bei seinem Eintritt auseinander – sie hatten sich geküßt. ›St!‹ ... Und beide saßen unbeweglich.

Die vor ihnen stehende Lampe umschrieb einen kleinen Lichtkreis, die Tür blieb im Dunkeln, die Gesichter des jungen Paares aber lagen im Schein der spärlichen Lampe.

Daniel Dark wich langsam zurück, rückwärts gehend, die Erscheinung im Auge behaltend. So wich er über die Schwelle und drückte die Tür leise hinter sich zu.

Es erging ihm wie dem Jüngling von Sais, er hatte die Wahrheit gesucht – nun sah er die Wahrheit.


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