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4

Der erste Eisenbahnzug der Frühe, welcher die Richtung nach seiner Heimat nahm, brachte ihn nach dem Städtchen, das der Kanzlei zunächst belegen war und den Verkehrsplatz des Hofes bildete.

Als er in der Vorhalle des Bahnhofs über die Steinfliesen schritt, die kleine Freitreppe hinabzusteigen, kam ihm ein Herr entgegen. Er stutzte – den mußte er kennen. Ein Mann war es in Harros Alter, noch ziemlich schlank und behende, mit einer Umhängetasche über dem leichten, offen getragenen klaffenden Überrock, und darunter einen dunklen, ehrsamen Anzug. Ein sogenannter abgekürzter schwarzer Zylinderhut, bei Landgeistlichen beliebt, auf dem blonden Haupt.

Der Professor blieb stehen, sah hin, sah ganz genau hin, im Gesicht freudige Überraschung, dann streckte er beide Hände aus und rief: »Karl, bist dus?«

In schneller Folge lief eine gleiche Bewegung über die Miene des angeredeten Karl Rank – aufdämmerndes Sichbesinnen ... volles Erkennen ... Und dann ... dann ein An-den-Hals-Fliegen und Umarmung ...

»Herrgott, ist das aber eine Freude!« Und nach einer Pause, worin die Augen noch einmal an der Erscheinung des Zugereisten auf und ab gelaufen waren: »Braun siehst du aus und nicht gerade fett. Das macht, wie man hört, drüben die Luft. Aber gesund und frisch, und das ist die Hauptsache. Dick und fett soll und will dich das Vaterland schon machen.«

Harro lachte. »Brenne nicht gerade auf einen Schmerbauch. Du aber bist, wie ich dich mir immer vorgestellt habe, nicht zu dick, nicht zu dünn, und im Auge und Gesicht der alte liebe Mensch. – Schade«, setzte er nach einem Blick auf die Reisetasche hinzu, »daß du gerade jetzt verreisen mußt.«

»Muß ich aber gar nicht«, war die Erwiderung. »Ich wollte verreisen, will es aber nicht mehr. – Komm!« Und er zog den Freund die Stufen der Freitreppe auf die Straße hinab.

»Sie ist schon getan, meine Reise. Das Wild, worauf ich pürschte, ist mir in die Arme gelaufen.«

»Mir dämmert, aber ich verstehe noch nicht.«

»Mein Wild heißt Harro Horsten, und den habe ich am Bahnhof eingefangen.«

»Du wolltest?«

»Ich wollte nach dem großen Hafenbabel reisen, den Professor Harro Horsten zu suchen und ihn nach der Kanzlei einzuholen. Und siehe! Er lief mir ins Garn.«

»Ein wunderbarer Zufall!« murmelte Harro Horsten.

»Und das Allerwunderbarste habe ich noch in der Tasche. Denn wisse! Ich reise im Auftrage des Kanzleiwirts Hans Horsten, des Vaters von Professor Harro Horsten. Der Alte hat vor vielen Jahren seinem Sohn die Tür des Vaterhauses zugemacht, nun will er sie wieder vor ihm aufschlagen, beide Flügel, nun breitet er seine Arme aus und ruft: ›Komm, Harro!‹ Denn er sehnt sich nach seinem für und für geliebten Sohn.«

»Ich habe seinen Ruf gehört«, murmelte Harro.

Karl Rank vernahm und verstand nicht recht. »Wie das gekommen ist, fragst du? Das will ich dir erzählen, wenn wir im Wagen sitzen und die Deichsel der Heimat zugekehrt haben. Der gelbe Federwagen der Kanzlei hat mich natürlich hergebracht. Bartel sitzt freilich auf dem Bock, gehört aber zur Familie, und Geheimnisse der Kanzlei sollte es daher für ihn nicht geben, gibt es auch nicht. Über euren einstmaligen Zwist sagt er: ›Der Alte hatte recht im Glauben, aber unrecht darin, es so ernst zu nehmen.‹ – Wir treffen ihn in der Herberge der Kastenstraße (früher hieß sie Mißfeld, jetzt Glißmann), wo er eine Stunde futtern wollte ... wohlverstanden nicht so sehr er in Person, als vielmehr seine Rosse, die eines Imbisses von Heu und Wasser und Hafer benötigen.«

Bei Glißmann trafen sie denn auch Bartel Boie-Horsten. Der wunderte sich zwar auch und freute sich, als er Harro sah, tat es aber mit Maß, denn er war immer maß- und ruhevoll, vor allen Dingen bei Erregungen und Aufwallungen des Gemüts.

Zu Harro sagte Pastor Rank: »Ich glaube, es ist ratsam, den Alten nicht zu überraschen. Deshalb schlage ich vor, ihm telegraphisch mitzuteilen, daß ich in ein paar Stunden wieder daheim bin und dich mitbringe.« »Das wird wohl nötig sein«, entgegnete Harro.

»Vom Amt«, rechnete Karl weiter, »bis zur Kanzlei braucht der Bote etwa zwanzig Minuten, gut gerechnet ist der Alte in vierzig Minuten im Besitze unserer Nachricht. Die Wagenfahrt veranschlage ich auch auf vierzig. Was meinst du, wenn wir ein Stündchen spazieren gingen?«

Auch damit war Harro einverstanden.

»Besuch in meinem Elternhaus«, fuhr Karl Rank fort, »hätte keinen Zweck, der Alte ist über Land gefahren, und die Mutter begleitet ihn. Das Wetter ist zu herrlich. – Die neuen Anlagen unseres Ortes«, scherzte er weiter, »mußt du ohnehin kennen lernen und – bewundern. Wir, Einwohner wie Eingeborene dieses Orts, halten jeden Fremden dazu für verpflichtet und sind kapabel, den, der diese Pflicht verabsäumt (sei es auch nur im idealen Sinne, denn Idealisten sind und bleiben wir in allen Fällen), wir sind also kapabel, den zu steinigen, der uns die Achtung versagt.«

»Ich sehe, es bleibt keine Wahl«, entgegnete der Professor.

»Nebenbei kann die Anlage sich auch sehen lassen«, ergänzte der Pastor.

Karl stand still und sah seinem Freund tief in die Augen. »Da rede ich Unsinn und Quark«, sagte er, »und doch ist uns beiden das Herz voll von Dingen, die etwas wichtiger sind als die Leistungen des Verschönerungsvereins meiner Vaterstadt.«

Nachdem der Gang zur Post gemacht war, bogen sie in die hübsch gepflegten Steige ein, und Pastor Rank zog seinen Freund tiefer in die Gebüsche.

»Bartel und seine Pferde futtern bei Glißmann in der Kastenstraße«, sagte er. »Am Ende ist es doch besser, es dir allein im bunten Herbstlaub unserer Birken und Rotbuchen und Ebereschen zu erzählen, als vor Bartels Ohren. Ja, wenn er andere Ohren hätte, aber Bartel ist ein Mensch für sich und kapriziert sich sogar darauf, auch Ohren für sich zu haben.«

»Wenn er sich entwickelt hat, wie ich ihn gekannt habe«, entgegnete Harro, »dann ist aus dem guten Jungen ein herzensguter Mensch geworden, auf der Kanzlei am Platze. Auf Pflügen und Eggen, Saat und Ernte verstand er sich schon früher wie einer, auch seine Ohren waren nicht übel und für praktische Dinge, wie Korn- und Viehpreise, verfl... hellhörig. Aber gleichviel, es ist gut, daß wir allein sind, mein lieber Freund.«

In den Laubgängen berichtete Karl Rank die Ereignisse der letzten Tage. Die Steige waren einsam. In den Vormittagsstunden hat alles im Städtchen zu tun, Männer wie Frauen. Reinliche Wege liefen und wanden sich auf dem Grunde einer Vertiefung hin und stiegen die Ränder des kleinen Abgrundes hinauf. Das Tal war früher Festungsgraben, die Abhänge Wälle und Mauern gewesen. Nun ist alles gerundet, geebnet und verschönt. Früher war der Ort ein zum Schutze der angrenzenden Niederung angelegter fester Platz, nun ist er ein helles, reinliches Städtchen mit dem Gepräge der Behaglichkeit und Freude.

Einsam und verlassen lagen die Anlagen im klaren, kühlen Glanz; sie schmückten sich mit dem Geschmeide, das der Herbst über sie geworfen. Harro Horsten und Karl waren allein, ein paar Vögel nicht mitgerechnet. Eine bunte Elster auf hohem Ast. Sie hatte ein feines Gehör, aber keines, das auf das Gemurmel der beiden Freunde gestimmt war. Ein elektrischer Draht zog über die Promenaden, über Berg und Tal seine Linie. Es war derselbe, der die gute Nachricht mit schwingender Eile nach der Kanzlei getragen hatte. Von schwarz-weißen Schwalben, die ihre Reisepläne nach dem Kap der guten Hoffnung berieten, war er dicht besetzt. Die hatten sicherlich kein schlechtes Gehör, aber auch daran redeten Karl Rank und Harro Horsten vorbei.

Harro Horsten erfuhr die Unterhaltung von vorgestern (das war der Tag seiner Ankunft in der Hafenstadt), und dann das von gestern (damals bewies der Komödiant: ›Es gibt keinen Gott!‹).

»Dein Vater wollte von mir wissen, was denn eigentlich vom Christentum und von der Kirche übrig bleibe, wenn es eine eigentliche, zwingende Offenbarung nicht mehr gebe. Ich hatte die Unterhaltung darüber auf eine spätere Stunde verschoben und ihn gebeten, zu kommen, wann er wolle, und sei es auch bei Nacht. Es war denn auch ziemlich spät, als er gestern abend an meine Tür klopfte.«

Harro erinnerte sich dabei daran, daß er derweilen im Elysium gesessen und die Rodomontaden des Schwätzers angehört habe.

»Es ist ein schwieriges Stück, lieber Freund«, sagte er laut. »Ich bin neugierig, wie du damit fertig geworden bist.«

»Es war in der Tat schwierig, und ich fürchte, wir beide sind darin nicht einmal völlig einig. Das ein ander mal. Deinem Vater gegenüber konnte ich natürlich nur die Hauptpunkte vorführen, die nach meiner Überzeugung bei den gläubigen Christen unserer Art allein bleiben, aber auch genügen, uns als Gemeinschaft der Gläubigen zusammenzuhalten.«

»Und der Alte, wie nahm er es auf?«

»Ich glaube, es machte Eindruck. Ich blieb aber nicht bei dem Thema. Mir mußte vor allen Dingen darauf ankommen nicht, ihn zu bekehren, seinem alten Glauben abwendig zu machen, als vielmehr ihn duldsam zu machen gegenüber abweichenden Auffassungen, vor allen Dingen dir gegenüber. Ich hatte, als er mich verließ, den Eindruck, daß ich nicht umsonst gesprochen hatte; heute früh wurde mir denn die Freude, meine Erwartung bestätigt zu sehen.«

»Heute früh?«

Pastor Rank beachtete den Einwurf nicht.

Harro dachte wieder an das, was er getrieben. ›Als Vater vom Pfarrhaus wegging, das kann mit dem Augenblick zusammentreffen, wo ich das Elysium verließ und von dem Manne angesprochen wurde.‹

Karl Rank fuhr fort: »In aller Frühe ließ er mich diesen Morgen zu sich bitten. Ich fand ihn in friedseliger Stimmung. Auf dem Nachhauseweg hatte er einen kleinen Unfall gehabt, und das hatte ihn noch weicher gemacht. Voller Gedanken hatte er nicht auf den Weg geachtet, nicht auf das morsche Brett im Brückensteg, vor dem er mich selbst gewarnt. Es brach unter ihm zusammen, er griff um sich, erhielt jedoch Halt am Geländer, und nach großen Anstrengungen gelang es ihm auch, ohne Schaden herauszukommen.

›Ich hatte schon lange‹, sagte er, ›ohne daß ich es wußte, Frieden mit meinem Sohn gewollt, den ganzen Tag war ich dieser Sehnsucht voll gewesen. Als nun der Boden unter meinen Füßen wich, war es mir, als hörte ich die Zornesstimme des Ewigen, und als ich wohlbehalten den Steig weiter entlang wanderte, fragte ich mich, wie ich hätte bestehen wollen, wenn mich der Herr heut nacht vor sein Angesicht gefordert hätte. – Und nun gehen Sie hin, Herr Pastor, und rufen Sie Harro! Sagen Sie ihm, ich bitte ihn er solle kommen, er sei mein lieber Sohn!‹

Als ich aus der Türe gehen wollte, rief er mich noch einmal zurück: ›Ich habe es ihm übrigens schon selbst heute nacht gesagt, er solle kommen. Er antwortete auch und sagte: Ja. Aber ich weiß doch nicht, ob er mich gehört hat.‹ Und da erzählte er mir, wie er, im Traum natürlich, mit dir zusammen in deiner Herberge, sie liege an einem kleinen Platz« (Harro nickte, ohne es selbst zu wissen), »die Stiege hinaufgestiegen sei, daß er sich aber nicht habe bemerkbar machen können« (und wieder nickte Harro Horsten), »daß es ihm aber zuletzt doch gelungen sei, dir zu sagen, du solltest kommen!«

Harro Horsten antwortete nicht darauf, er wollte nichts von dem heiligen Schauer sagen, der ihn durchflutete. Es deuchte ihm eine Entheiligung des wunderbaren Vorgangs, wenn er es jetzt preisgebe, und sei auch der Hörer sein bester Freund.

Um so lebhafter sprudelte das Gefühl herzlicher Dankbarkeit gegen Karl Rank in ihm auf: »Der Vater ruft mich, das Vaterhaus steht mir offen; das habe ich dir zu danken, es soll dir unvergessen bleiben.« Er drückte seinem Freunde warm die Hand.

»Was von mir geschehen ist«, entgegnete der andere, »hätte jeder an meiner Stelle ebensogut und besser getan. Nein, wir wollen unsern himmlischen Vater nicht vergessen, der dir sein Angesicht wieder zugekehrt hat, dich suchen und sich finden ließ.«

»Ja, ja«, entgegnete der Professor. »Zwar halte ich ihn für zu groß, als daß er den Dank eines armen Menschenkindes wertet. Aber ich danke ihm und denke an ihn Tag für Tag. Und jeder von mir angestellte Versuch zur Erforschung seines Werkes ist ein vor seinem Hochaltar verrichteter Dienst, ist Andacht vor dem großen Werk, das herrlich ist wie am ersten Tag. – Früher hast du«, fuhr er fort, »den Atheismus die Kinderkrankheit der Naturforscher und Mediziner genannt. So ungefähr wenigstens. Ich hatte damals Lust, es krumm zu nehmen, aber jetzt sage ich: du hattest recht. Offenbart doch die Natur uns immer neue Geheimnisse, immer neue Ausblicke, vor denen die mechanistische Weltanschauung versagt.«

»Bin Laie«, erwiderte der Pastor, »aber ich habe den gleichen Eindruck.«

Der Professor hielt ihn am Rockknopf fest. »Ich sage dir, was Gott-Natur anbetrifft, da ist die Gegenwart in einem Umlernen, wie es wohl kaum ein anderes Zeitalter durchgemacht hat. Gestern abend fand ich es in einer Zeitschrift gut gesagt. ›Das, was wir immer Stoff genannt haben‹, hieß es da, ›verwandelt sich mehr und mehr in Kraft und Geist, wird Idee, verschwindet dem Chemiker bei der letzten Analyse geradezu unter der Hand. Was steht denn eigentlich noch fest? Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft? Die radioaktiven Energien stellen es in Frage. Die Unveränderlichkeit der Elemente? Mit nichten! Die Unzerstörbarkeit der Atome? Nichts steht fest. Hier und da taucht wohl noch die Behauptung auf, das Denken unserer Psyche sei nichts als ein chemischer Vorgang. Ich bin neugierig, wie lange man sie noch ernst nehmen wird. Dabei bewegen wir uns noch immer im Gebiet der Erfahrung und sehen von gewissen Erscheinungen der Geheimwissenschaften ab, die auch nicht länger zu übersehen sind.‹ – Aber komm, ich glaube nun dürfen wir an die Heimfahrt denken.«


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