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2

Wenn der Darksche Wagen von Lohfelderkamp nach dem Kirchdorf fuhr, kehrte er im Gasthof zum Schwan bei Kirchner ein, der neben einer größeren Bauernstelle eine viel besuchte Ausspannwirtschaft mit Tanzsaal hatte. Daniel war von der Mutter dahin mit Anweisung auf Milch und Butterbrot verwiesen, er ging aber nicht hin, weil ihm der Haussohn Julius Kirchner nicht recht war. Der glaubte als Kirchdorfseingesessener turmhoch über einem Bauernjungen vom platten Lande zu stehen und hatte sich ein Benehmen angewöhnt, das Daniel empörte. Der junge Mensch war nicht viel älter als er, gab auch in seiner Erscheinung nichts her, war dünn und lang wie Daniel, dabei ducknackig und voller Sommersprossen, selbst an den Händen, und beleidigend blond, um nicht zu sagen: rot. Daniel brauchte nur an Julius Kirchners schmieriges Lächeln, an seine kalten, blauen Wasseraugen zu denken, ... dann hatte er genug. Er ging nicht hin, suchte vielmehr den Konfirmandensaal, sobald der aufgeschlossen war, auf.

Lohe war das äußerste Dorf im sogenannten Osterkrug des Kirchspiels, deshalb rückte es als erstes unmittelbar vor das Pult. Daniel Dark hatte den ersten Platz in der Schule; so warf ihn das Geschick auf den obersten Platz. Reiherwisch gehörte politisch auch zu Lohe. Helene, oder, wie sie allgemein genannt wurde, Lene Springe hatte die Gemeindeschule nicht besucht, war vielmehr zu Hause unterrichtet worden. Wohin mit ihr? Pastor Rabe hieb alle Zweifel durch und setzte sie als Erste auf die Mädchenseite.

So trennte nichts als der Saalsteig Daniel Dark und Lene Springe.

Lene Springe war die Erste auf der Mädchenseite, das war gewissermaßen außer der Ordnung, sie war es aber auch ihrer Erscheinung nach. So regte sich kaum der Neid, wurde jedenfalls nicht laut. Denn gegenüber der zwar frischen, aber etwas schwerfälligen Bäuerlichkeit ihrer Konfirmandenschwestern war sie in ihrer städtischen Kleidung, zumal aber in der aufknospenden Weiblichkeit ihres Wesens wie von höherer Ordnung durch den Saal geschritten. Und ein Säuseln bei jedem Schritt um sie her. Was sie an hatte, drückte sie nicht, es hob sie sogar. Und ihre Miene so frei, als sei sie schon viele mal ›zum Priester‹ gegangen, sieghaft und dabei voller Güte. Daniel las darin, die Eignerin sei entschlossen, niemals außer acht zu lassen, daß alle Menschen aus des großen Gottes Liebeshand hervorgegangen seien. Und als sie zu ihm herschritt, dachte er an seinen See Genezareth. Die durfte ihren Fuß dreist auf die Wellen setzen, die wird immer mit trockenem Rocksaum das Ufer erreichen.

Bisher hatte der Kirchendiener das Regiment gehabt, wenn auch im Auftrage und in Vertretung seines Herrn. Nun kam dieser, nun kam Pastor Rabe selbst, ein hochgewachsener Mann mit seinem gütigem Gesicht. Er war noch nicht alt, hatte nicht einmal so viele Jahre, wie sein Antlitz ihm zuschrieb. Überstandene Kämpfe, niedergerungene Zweifel hatten sein Angesicht gefurcht. Aber über alle Kampfe und Zweifel und Furchen goß das große Mitleid mit dem Menschengeschlecht die nie verlöschende Liebe und Verklärung.

Zuerst brachte er seine Konfirmandenbücher und Listen in Ordnung, rief die Namen auf und stellte fest, wer anwesend war. Bei der Gelegenheit wurde kund, daß die von Reiherwisch nicht nur Helene hieß, sondern noch einen Kometenschweif anderer schillernder Namen, die wie Ottilie und Juliane klangen, hinter sich Herzog. Als Daniel sein »hier!« rief und aufstand, blickte der Pastor auf, lächelte und nickte dem langen Jungen zu. Er mußte sich seiner wohl erinnern.

Und dann begann der Unterricht. Daniel wurde mehr gefragt als andere und nicht vergebens, denn Bibel und Katechismus waren ihm ergebene Diener. Er wollte sich auch zeigen, wollte sich hervortun, beweisen, daß er den ihm angewiesenen Platz verdiene, vor allen Dingen aber, weil sie da war und sich wundem sollte, wie er des Geistes so voll sei. Und das ihm in den Dingen der Welt öfters fehlende, im Schulwissen ihn aber beseelende Selbstvertrauen stieg in ihm auf und schlug die Kruste durch, die sonst Sinn und Worte bei ihm trennte. Wenn er so dastand, lang und blond, ein wenig nach vorne hinüber geneigt, mit scharfer Nase und spitzem Kinn im mageren Gesicht, der Hinterkopf stark entwickelt, dann schien er der eingefleischte knabenhafte Wissensdünkel, der er auch wohl wirklich war. Aber dieser Dünkel machte ihn auf eine Art zu einem beredten Mann.

Er erreichte, was er wollte. Die Mitschüler wurden auf ihn aufmerksam, die Kinder sahen nach ihm, auch die Hoftochter von Reiherwisch.

Daß Lene Springe auch für Wissenschaften schwärme, was er in seiner unschuldig protzigen Weltauffassung als selbstverständlich angenommen hatte, ergab der Unterricht nicht, eher das Gegenteil. Was an sie kam, ließ sogar auf einen solchen Abgrund von Unwissenheit schließen, daß Daniel erschrak. Und nicht allein das. Als sie ihm einmal ihre immer freundlichen und immer lachenden Augen gönnte, las er darin die Worte: »Jung, Daniel, was bist du dumm, daß du so klug bist! Es steht dir schlecht und sieht so wichtig aus.«

Wenn der Pastor sie fragte, dann sah sie ihn freundlich an und blieb die Antwort schuldig. Was ging sie der Apostel Paulus an und der Begriff der Gnade? »Frag Daniel Dark, dem quillt ja das Wissen aus Augen und Mund, der brennt ja darauf, es zu sagen.« So stand es in ihrem lieben Gesicht.

Aber ausgemacht wurde schon am ersten Tag, Daniel Dark war der Klügste im Saal.

Ein paar Wochen liefen hin, schließlich besuchte Daniel auch auf Mutters strikten Befehl die Wirtschaft »Zum Schwan«.

Julius preßte ein paar blutlose Lippen zum Schmunzeln, rieb ein paar bleiche Hände und sagte in seiner überhebenden Weise: »Lene Springe hat mir gesagt, du seiest ein so kluger Junge.«

Es war vielleicht gar nicht so bös gemeint, aber Daniel ärgerte sich, daß Lene mit dem Menschen sprach, mit ihm so gut Bescheid wußte.

Er antwortete nicht viel. »So, so, hat sie das gesagt.«

Und ... Julius Kirchner? – Das Händereiben allein konnte Daniel aufbringen, so lappig weiß und weich waren sie – »Wo hast die Klugheit her?« fragte Julius.

Und dann bedeckte auch das verruchte Schmunzeln das Angesicht des Fragers. »Wo hast das her? Viel Senf gegessen? Von Senf wird man klug.«

Julius war witzig geworden, der eine Witz genügte ihm aber nicht, er setzte deshalb hinzu: »Oder kommt es von Torf? Torf gibts ja wohl genug auf Lohfelderkamp.«

Daniel ergrimmte, fand aber kein Wort der Abwehr. War nicht von geistigen Dingen die Rede, dann war die Schicht zu dick und zu stark. Er kaute sein Brot in Zorn, trank seine Milch und ging hinaus.

Aber daran konnte niemand rütteln, er war der Klügste im Saal, und der Pastor sang sein Lob. Das gab seinem Wesen etwas Geschwollenes.

So ging er eines Tages wieder ein bißchen aufgequollen aus der Tür des Konfirmandensaales. Da hörte er Mädchenkichern hinter sich. Er sah sich um, es war eine ganze Gruppe, und Lene Springe mitten drin. Und eine Stimme lachte und sagte (noch an demselben Abend bat er den Himmel, es möchte nicht Lene Springe gewesen sein) etwas, das unheimlich genau übereinstimmte mit dem, was er auf ihrem Angesicht gelesen hatte: »Jung, Daniel, wat büst du dumm, dat du so klok büst!«

Und dann löste sich der Knäuel, die Mädchen stoben davon, Lene voran. Eine Locke hatte sich gelöst, das braune Haar flog um Schläfe und Scheitel. Und sie flog mit ihrem Haar nach Kirchners Wirtschaft hin. Da stand blond und sommersprossig der lange Julius in der Haustür, mit steifem Nacken unter dem graugestrichenen Schild, worauf ein sich hölzern ausnehmender, weißer Vogel gemalt war und darunter mit großen Buchstaben: »Zum wilden Schwan«.

Daniel Dark war ein paar Tage traurig und zornig, tröstete sich aber allmählich. Es schien ihm immer noch besser zu sein, daß sie ihn neckte, als daß sie sich gar nicht um ihn kümmerte. Und was ihm begegnete, als die Konfirmanden zum ersten mal in den Kirchensteig kamen, das heißt nach der Sonntagspredigt vor versammelter Gemeinde Zeugnis von der Reife ihrer Gotteserkenntnis abzulegen hatten, hielt er für ein günstiges Zeichen.

Die Knaben standen an der einen, die Mädchen an der anderen Seite des Steiges, sein Gegenüber war Lene Springe von Reiherwisch. Und ernst und freundlich sah sie ihn an und flüsterte ihm zu: »Es war nur Spaß.«

*

Zweimal in der Woche gingen die Kinder ›zum Priester‹ und meistens mußten sich die Knaben an den Weggraben drücken, weil der Wagen von Reiherwisch vorüberfuhr und die Wegspritzer umherflogen. Meistens hielt Springe selbst die Zügel. Seine Blicke und seine Peitsche ließ er über die Schar hingehen, und immer hatte er ein freundliches Auge (es war das braune der Lene), und wenn er mal Schritt fuhr, auch ein freundliches Wort. Und vom hintern Stuhl wehte für und für ein Zipfel von Lenes Schleier. Den Hut und die vollen Haare sollte er bändigen und war selbst ungebändigt. Er drehte sich und flog. Daniel sah nichts als Glanz und Farben. Und wenn dir Wagen vorüber, war es kein Schleier mehr, dann war es immer ihre winkende, weiche, weiße Hand.

Daniel erkannte, daß der Liebe Leid bei ihm unheilbar war. Und eine Stimme sagte ihm: ›Vielleicht wirst du an ihr zugrunde gehen. Wird sie einen Priester heiraten wollen und warten wollen bis du einer bist? Oder ...?‹ Er wagte den Gedanken des Verzichts auf das, was ihm seine Lebensaufgabe deuchte, nicht auszudenken.


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