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Der »Beiss«

»Aber Anni«, sagt die Mama, die was auf gute Erziehung hält, »das tut man doch nicht!« Und Anni, sonst ein braves, folgsames Kind, hebt klagend und anklagend den Lockenkopf empor und sagt: »Wenn's mich halt so beißt!«

Und kratzt schon wieder heimlich an jener Stelle des Rückens, über die Europas übertünchte Höflichkeit schweigt. Es dauert gar nicht lang, da reibt auch die gestrenge Mama am Oberarm einige Male hin und her und wird rot wie ein Schulmädchen, als sie sich von ihrer Anni dabei beobachtet sieht. Und jetzt bleibt sogar der Vater einmal ein paar Schritte zurück, nur um sich nach Herzenslust die Waden zu kratzen.

Alle drei, Vater, Mutter und Kind stellen einmütig fest, daß man sich gar nicht mehr halten könnte vor Jucken. Und finden, ein bißchen abseits, bei einem Vergleich, daß auf ihrer Haut ganz kleine rote »Dipferl« sind.

»Aha!« sagt der Vater, als Familienoberhaupt auch zugleich Wissender und oberster Medizinmann: »Da ham mir an Sendlinger Beiß derwischt! – Da is no koaner dro' g'storb'n.« Und er meint als besorgter Vorbeugender, da wär's vielleicht am besten, man würde vor dem Heimgehn noch auf dem Keller eine Maß trinken.

Der »Sendlinger Beiß« ist eine altbekannte kleine »Sucht«, wie der Münchener sagt, und überfällt den dafür empfänglichen Menschen meist im Hochsommer. Eine Milbenart, die sich im Gras aufhält, ist die Urheberin des Juckens, und sie hat sich vorzugsweise die Sendlinger Fluren dafür ausgesucht. Aber wie sich neun Städte im Altertum darum streiten, die Geburtsstadt Homers zu sein, so machen auch verschiedene Fluren um München auf den »Beiß« Anspruch, und man hat schon vom Föhringer, vom Perlacher, vom Pasinger »Beiß« gehört. Ja, manche Menschen, an deren Juckreiz die Milbe ganz unschuldig ist, behaupten, sie hätten einen Ortsbeiß, wiewohl vielleicht ein biederer, seltener Floh oder sonst ein Tierchen die Ursache ist. Für alles braucht die Milbe auch nicht herzuhalten.

Der »Sendlinger Beiß« freilich ist sozusagen der oberste, der Führer unter den »Beißen«, ja er ist sogar wissenschaftlich anerkannt und hat den Begriff »Sendling« in die Lehrbücher der Dermatologen gebracht. Der »Sendlinger Beiß« kann stolz sein, daß er vielleicht von einem kniffligen Professor im hohen Norden dem Examenskandidaten unterbreitet wird: »Herr Kandidat, was wissen Sie vom Sendlinger Beiß?« Wenn dann der Herr Studiosus aus Hamburg, Königsberg oder Emden Bescheid weiß, so kann der Examinator wirklich überzeugt sein, daß der junge Mann sein Gebiet gründlich studiert hat.

Aber nun sei diese Betrachtung auch schnell abgeschlossen; denn bekanntlich genügt es, daß jemand vom »Beiß« redet, und schon müssen sich empfindsame Naturen kratzen. Der freundliche Leser soll es nicht für ungut nehmen, wenn es ihn jetzt irgendwo ein bißchen juckt. – Es ist kein echter »Beiß«.


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