Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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33. Kapitel

Hans Höhrle, eine Pflanze, die in fettem Boden aufgewachsen, war noch kein sturmtrotzender Baum geworden. Sein Charakter hatte etwas weichlich wetterwendisches. Wohl konnte irgend eine Regung seines Herzens sich im Moment zu rascher Tat umsetzen, aber alles, was in der Ferne drohend vor ihm stand, fand ihn mutlos, verzagt und geneigt, aus der Arena auszubrechen. Hans hatte eine ängstliche Vorahnung, daß das Haus des Hopfenchristen, wie man Herrn de Lerée im Börsenkafé nannte, sein Verhängnis werden könne. Jenes Schweigen auf der Klavierbank an der Seite der Hausfrau, welchen Sinn konnte es nur haben? Erwartete die Dame seinerseits ein kleines offensives Vorrücken, oder beabsichtigte sie selber aus der Defensive herauszutreten? Solche Gedanken waren es, die unsern Freund die Mittagsglocke überhören ließen, und das Zirkuspferd wieder in die Manege trieben, immer um die Stadt herum, bis sein Vorsatz, dem Hause der Grobheit und des Schweigens fern zu bleiben, genügend befestigt schien.

Ein Briefträger außerdem, der mit einer Hand voll Briefen eilig auf sein Haus zuging, drückte das Barometer seiner Aussicht wieder etwas in die Höhe und versprach 350 auf Jahre hinaus erträgliches Wetter. Aus der schwarzen Tasche an der Seite dieses Engelsbildes war schon manches herausgekommen, was eine kritische Situation gelöst hatte. Warum sollte er verzweifeln? Auf seinem Stehpult konnte ein Dutzend Offerten liegen, eine glänzender als die andere. So dachte er, aber er ging doch an seiner eignen Haustür vorbei. Mußte unbarmherzig eine Illusion zerstört werden, so hatte dies noch Zeit bis zum Abend.

Die Tagesstunden verbrachte er mit ziellosem Wandern durch die Nachbardörfer. Der Abend überraschte die Mutter Erde mit einem kalten Sprühregen, ohne daß sie sich dagegen mit einem Regenschirm wehren konnte. Die Menschen konnten das, bis auf unseren Hans, der ohne Schutz durch die Nässe ging. An der Pumpe vor seinem Hause standen die Stumpfröcke, die man nur en gros lieben konnte oder gar nicht, weil es unmöglich war, die eine von der anderen zu unterscheiden. Sie sahen sich ähnlich, wie eine Carodame der anderen. Sie rochen auch gleich, alle ein wenig nach Zwiebelschalen. Sie standen da mit nackten Armen. Was kümmerte sie der kalte Regen! Von der Haut nach innen gezählt, war alles wasserdicht an ihnen. Sie lachten, wie sie schon hundertmal gelacht hatten und wie sie immer lachten, wenn Hans vorüberging. Der Student sah heute genauer hin wie sonst wohl.

Seit Agnes sich von ihm gewandt, war in seinem verwitweten Herzen Platz für ein anderes Weib. Er grüßte mit einem vertraulichen Kopfnicken, wie man einen grüßt, den man genauer kennt, und erregte unter den Mädchen ein verwunderliches Knuffen und Stoßen, weil keine der 351 anderen traute und jede ihre Nachbarin im Verdacht hatte, daß sie mit dem Studenten bereits da sein könne, wohin sie doch selber wollte. Hans fühlte, daß man hier seinen Groschen für voll nahm und freute sich dessen.

»Wer von einem guten Frühstück kommt, widersteht leichter den lockenden Gerüchen eines Diners,« dachte er, und er nahm sich vor, in den nächsten Tagen mit einer von den Drallen ein wenig anzubandeln. So ein kleines Verhältnis konnte ein Panzerhemd werden in künftigen Gefahren, die unsicher, aber doch ängstigend vor seiner Seele standen, wenn am Ende doch nichts anderes übrig bliebe, als bei Frau de Lerée anzunehmen?

Er ging die Treppe hinaus und öffnete die Tür. Einige geknickte Lichtpfeile der Straßenlaterne schossen ihm von der lackierten Platte seines Stehpultes entgegen. Das war angenehm, denn es gab eine vorläufig orientierende Helle, bis ein Streichholz gefunden war. Als dieses brannte, war leider nichts zu erkennen, als ein einziges kleines Kuvert mit magerem Inhalt. Hans hielt es unter die Nase. Es roch nach Pech und Sohlleder. Das fehlte noch in diesem Augenblick, wo er gehofft, daß sich sein Schicksal zum Guten wenden müsse, eine Schusterrechnung! Verdrießlich stützte er den Ellbogen auf das Stehpult, legte den Kopf in die Hand und starrte auf das Spiegelbild der Straßenlaterne, das ihm aus dem schwarzen Glanzlack entgegenzwinkerte.

Wohl hörte er, wie das Lachen der Stumpfröcke lauter und zudringlicher wurde, wie die Henkel klapperten und die Kübel herausfordernd aneinander stießen, als hätten die 352 Mädel seine Gedanken von vorhin erraten und erwarteten heute noch eine Entscheidung.

Für Hans war diese durch die Schusterrechnung in weite Fernen gerückt, aber Frau de Lerée kam wieder näher und der Geldsack des Hopfenchristen. »Was wird anderes übrig bleiben, ich muß leben,« sagte er und kroch in seinen Alkoven hinein. Im Traume stand das schöne Weib vor ihm mit glühenden Augen, die nach einer Seele suchten, der ihren verwandt, nach einem Manne, der begriff, daß sie eine in goldene Ketten geschlagene Sklavin sei, und der hochherzig genug war, sie zu befreien.

Alles, was jemals durch die Lektüre Rousseaus, Walter Scotts und Jean Pauls an Romantik in die Seele des Jünglings eingezogen war, nahm in jener Nacht Gestalt an, kämpfte, siegte oder ging triumphierend unter. Hans war der Mittelpunkt einer schier unglaublichen Donquichotterie.

Am nächsten Morgen regnete es immer noch, und das war gut. Hans brauchte nur den Kopf zum Fenster hinauszustrecken, und er hatte eine kalte Dusche, die sein fieberhaft erregtes Gehirn etwas abkühlte und seinen Gedanken die Richtung ins Reale gab. Am Gewicht der Hose beim Ankleiden bemerkte er, daß sein Reichtum seit gestern früh sich abermals vermindert hatte. Das war in hohem Maße bedauerlich, zumal zu befürchten stand, daß am Fuße der Schusterrechnung sich ein Autogramm des Meisters Draht finden könne, das den gestrengen Universitätsrichter wie Bankos Geist aus einem Brunnenschacht von Aktenbündeln steigen ließ.

353 Hans wich dem uneröffneten Kuvert mit banger Scheu aus, vollendete seine Toilette, und trug seine Zweifel zur Abwechslung einmal in die Krankensäle des Spitals. Da lag einer, der im Begriff war, der Menschheit im allgemeinen und Schuster- und Schneiderrechnungen im besonderen Lebewohl zu sagen. Neben ihm auf dem Nachttische stand in einem Glase noch ein Restchen Rotwein, das hätte er noch trinken können, aber er wollte es nicht. Es sollte nicht heißen, daß er gar nichts zurückgelassen hätte. Einige Fliegen umschwirrten den Nachlaß. Der Mann hatte nichts dagegen. Er lag mit gleichgültigem Gesichtsausdrucke und geschlossenen Augen da. Zuweilen holte er rasch nacheinander tiefe Atemzüge ein, als ob er sich für eine Weile mit Sauerstoff verproviantieren wolle, dann stockte das Respirationsgeschäft, um bald darauf mit großer Energie aufs neue einzusetzen. Von den anderen Betten her waren ängstliche Blicke nach dem Sterbenden gerichtet. Mancher Kranke hatte sich aufgesetzt und blickte empört um sich, weil jemand wagte, in seiner Gegenwart zu sterben. Hans trug eine spanische Wand herbei und rahmte damit dem Abschiednehmenden sein Teil am Erdenrund noch enger ein. Auch dagegen hatte der Sterbende nichts. Wären alle Herrscher, vor denen seit Adams Tagen die Menschheit gezittert, an ihm vorbeigezogen, er hätte nicht einmal mit dem Finger das grüne Zeug in dem Holzrahmen verschoben, um sie anzusehen.

Hans konnte sich von dem Anblick des Sterbenden nicht trennen. Ihn hielten die Rätsel des Lebens, das »wie« und das »warum«. Welten, die einst vor diesen Augen gefunkelt, waren in nächtliche Abgründe gesunken, waren nicht mehr vorhanden. Mochten Planeten mit gräßlichem Donner sich zu Staub zerreiben, diesen Ohren flößten sie keinen Schrecken mehr ein. Noch zwei, drei rasche Atemzüge, dann war der letzte Bedarf an Luft gedeckt.

Niemand mehr hatte die Konkurrenz des Toten von jetzt ab zu fürchten. Aber wer und wozu hatte man den Armen in die Welt geschickt? Etwa damit er das »wie« begreife? Dann waren die Schmerzen seiner Mutter und die seinen umsonst ausgegebenes Lehrgeld. Daran arbeitete ja auch Hans, aber er war nicht weit gekommen in der Erforschung der Weltenrätsel. Wenn er nur wenigstens das Sterben lernen möchte, um seine Sache so still zu machen wie der, der hier vor ihm lag. Hans war so niedergeschlagen heute und fühlte in sich ein geheimes Grauen, aber nicht vor dem Tode, sondern vor dem Leben und dem, was es ihm noch bringen mochte.

Als der junge Mediziner aus der Klinik ging, dachte er nicht mehr an die Stumpfröcke und an die Gefahren, die im Hause des Hopfenchristen seiner warteten, erst recht nicht. Er hatte der Majestät des Todes ins Auge geschaut. Das Mißtrauen gegen sich selber war verschwunden, und ein starkes Pflichtgefühl war wieder einmal erwacht. Der Vater und Suse, so klang es aus der Tiefe des Herzens herauf, und doch, und doch!! Zwei Tage später stand Studiosus Höhrle der Frau de Lerée zum zweiten Male gegenüber. 355

 


 


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