Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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26. Kapitel

Auf dem Tische der Wohnstube warteten einige Briefe auf den Hausherrn. Manche von ihnen trugen keine Freimarke, wohl aber einen großen ovalen Stempel, der sie zu Aristokraten ihrer Gattung machte. Sie brauchten nicht den Nachweis zu erbringen, daß die Mühe des Briefträgers und der Vorteil der Reichspostverwaltung mit einem Groschen gewahrt seien. Raubrittern gleich, nahmen sie als ungebetene Gäste ihren Weg in die entlegensten Hütten. Vater Höhrle kannte diese Sorte nur allzu gut, und ein ängstliches Beben durchrieselte seinen Körper bei ihrem Anblick. Auf einem derselben stand flüchtig hingeworfen der Vermerk »Eilt«, und ein blutiger Strich mit einem Rotstift darunter schien andeuten zu wollen, daß man keinen Spaß verstehe. Der Müller nahm den Brief in die Hand und beguckte ihn von allen Seiten. Er ahnte, daß der Inhalt des Kuverts ihm nichts Gutes bedeuten könne, und am liebsten hätte er ein Streichholz unter das Schreiben gehalten. Doch damit war ja nichts erreicht, also erbrach er schweren Herzens den Oblatenverschluß und las aus Gedrucktem und Geschriebenem heraus, daß Rauschkolb 267 die Zwangsvollstreckung gegen ihn beantragt habe. Das war ein bitterer Trank, in dem Augenblick kredenzt, wo er, müde und erschöpft von der Wallfahrt, die Diele seines Hauses betrat. Er sank wie berauscht auf einen Stuhl nieder. Seine Rechte spielte mit dem Papiere auf dem Tische, die Linke wühlte in der Ledertasche, als ob sie nach Geld suchte. Die Schultern, mit Bleigewichten beschwert, schienen den Ärmsten hinabziehen zu wollen, hinab in den Morast der Armut, in dem so viele wandeln, die kein schützendes Obdach mehr ihr eigen nennen, hinab in den Straßengraben, wo man sich zu Bette legt, ohne daß man die Stiefel auszieht, und wo man wenigstens den Vorteil hat, sterben zu können, ohne daß ein Arzneiglas neben einem die Luft mit seinem Gestank verpestet. Vater Höhrle dachte an den leeren Platz neben dem Grabe seiner Frau, dachte ein wenig voraus an die Tage, wo die vermoderten Särge den Erdhügel angesaugt haben werden, unter dem er und sie lagen, wo alles wieder sein würde, wie es war, lange, bevor er und sie zur Welt gekommen, und fing an, sich über den Uhrzeiger zu ärgern, der an der alten Schwarzwälderin ihm gegenüber so pedantisch von Minute zu Minute weiterrückte. Warum nahm er nicht Stunden in der Sekunde, warum nicht ganze Tage oder Wochen in der Minute? Der müde Erdenpilger da auf dem Stuhl wäre im stande gewesen einen Staatsanwalt zu umarmen, der ihm die Stunde seiner Hinrichtung mitgeteilt hätte. Ach, so von Haus und Hof ziehen zu müssen, losgeschält zu werden von allem, womit man durch Geburt 268 und Erziehung verwachsen war, ausgezogen zu werden, ohne die Gewißheit zu erlangen, daß man schlafen gehe, das ist ein Sterben ohne die Sicherheit, daß man tot sei, nachdem man gestorben. Vater Höhrle kämpfte jetzt diesen furchtbaren Todeskampf, ohne daß auch nur der Schimmer eines Lichtes von irgend einer Seite her in die Nacht seiner Sterbekammer gedrungen wäre. Ehe er die Wallfahrt antrat, da leuchtete wenigstens noch ein Irrlicht seinem Pfade voraus, nun aber war alles dunkel um ihn. Der schwer gebeugte Mann hatte gedankenlos seinen Stock ergriffen und tastete damit vor sich hin wie ein Blinder, der seine Straße suchen möchte.

Was, Donnerwetter, spukt es hier, oder warf jemand einen Futtertrog wider die Tür? Vater Höhrle horchte auf und hörte, wie draußen ein Gegenstand rauschend an der Wandverschalung niederglitt. Gleich darauf knackte die Klinke, und Sebastian Stallmann fiel in die Stube herein.

»Daß mich der Teufel lausen muß, oder habe ich ein Nest voll junger Katzen im Schädel?« stammelte er und erhob sich auf die Hände.

»Was plagt sich der Mensch mißvergnügt auf zwei Beinen herum, wenn ihn der Wein zu einem vergnügten Vierfüßler macht. Herunter, Vater Höhrle, werden wir Vierfüßler! Mir ist so wohl wie einem Wildschwein zur Zeit, wenn die Eicheln aus ihren Tellern fallen –« und dabei sank er noch einmal vorn über und küßte den Boden.

»Nichts ist ganz unnütz auf der Welt,« philosophierte er nach diesem Zärtlichkeitsparoxismus weiter, »Silbersand 269 naschen die Hühner, wenn sie Eier legen, gut schmeckt er nicht, aber gewöhnen wir uns daran, was sollen wir essen, wenn's keinen weißen Käse mehr gibt?«

Dabei leckte er mit der Zunge seine Lippen ab und machte voll Gottvertrauen einen erneuten Versuch aufzustehen. Er kam auch in die Knie und beglotzte mit seinen glasigen Augen den Müller.

»Vater Höhrle,« rief er vergnügt, »Vater Höhrle, ihr seid auf dem Holzweg. Während ihr die Seligkeit in Walldürn sucht, wird sie im Weltschirm schoppenweise verzapft, gratis und franko, sage ich euch, gratis und franko.«

Nun stellte er das rechte Bein vor. Da hatte er einen Schnürstiefel am Fuß. Mit einem energischen Ruck riß er das linke Bein unter seinem Gesäß heraus. Da hatte er einen Rohrstiefel am Fuß.

Vater Höhrle, in dem es vorher gekocht hatte, ein wenig nur, so wie es in einem Teekessel kocht, wurde ganz ruhig, als er dies seltsame Stiefelpaar sah. Ein kleiner Vorwurf reckte sich in seinem Gewissen und wurde ein Riese. Seit Monaten schon hatte er dem armen Mühlknecht seinen Lohn nicht auszahlen können. Nun stand er mit zweierlei Stiefeln an den Füßen vor ihm und lachte noch zu seinem Elend.

»Bastian,« rief Höhrle schmerzlich bewegt, »Bastian, sind wir so weit?«

Bastian zog seinen breiten Mund fast bis zu den Ohren und sah grinsend an seinen Hosenbeinen hinunter. Als er bei den Füßen angekommen war, platzte er lachend heraus:

270 »Hat schon mal einer ein Vieh gesehen mit zweierlei Beinen? Vater Höhrle, mit mir ist Geld zu verdienen, stopft mich aus und verkauft mich an einen Raritätensammler. Haha, haha, was gibt der Mordche Rimbach für ein Monstrum von meiner Sorte? Wenn's langt, den Rauschkolb zu bezahlen, dann immer zu, Vater Höhrle, schlagt mich tot, schlagt mich tot. Ein Schwein weniger, das in eurem Troge den Rüssel badet! Für einen, dem die Kleie knapp wird, will das schon was heißen. Also nur zu, oder ihr bringt mich an den Galgen, denn, unter uns gesagt, ich habe mir vorgenommen, dem Rauschkolb sein Gesicht so ins Genick zu drehen, daß er seine Rückenwirbel zählen kann. So zu drehen, jawohl, so zu drehen, daß er über sein Sitzfleisch visieren kann, wie über den Lauf einer Doppelflinte, und was ich mir vorgenommen habe, das halte ich, halte ich, und fürchte mich nicht vor einer Krawatte aus Hanf,« und er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß der Wasserkrug auf demselben zu tänzeln anfing und sich richtig in sein Verderben hinein und unter den Tisch tanzte.

Mit dieser kleinen Katastrophe war Bastians Wutanfall beendet, wie eben alle seine Zornesausbrüche mit einer Katastrophe enden mußten. Er bückte sich, um die Scherben zu retten, schoß aber dabei gefährlich nach vorn und puderte mit dem Mehlstaub seines Haares das faltenreiche Gesicht seines Brotherrn, so daß dieser aussah, wie seine eigene Totenmaske. Darüber erschrak denn nun wieder Sebastian Stallmann und verlegte sich aufs Lamentieren:

271 »Nichts für ungut, lieber Herr, nichts für ungut, seht! Ich werde euch einen Gefallen tun, der mir fünfundzwanzig Jahre Fegefeuer einbringt, euch aber so lange Geld, bis der Duellfechter Hans in einem Doktorhause sitzt und Buchenscheitholz als Wartegeld bezieht. Soll ich der Firma Groß und Moos den roten Hahn aufs Dach setzen? Soll ich das? Bei meinem Schuhwerk von zweierlei Art, das werd' ich tun, werd' ich tun, und wenn der Teufel mit einem Hundefuhrwerk hinter mir herläuft, um mich abzuholen. Drei Jahre haben sie gebraucht, das Schachtelwerk da unten zu errichten. Drei Jahre werden sie brauchen, um es nach dem Brande wieder aufzurichten. Drei Jahre lang werden die Bauern wieder in unserer Mahlstube hocken, und in drei Jahren wird unser Hans den Doktorhut auf dem Kopfe haben. Dann wird aus dem engbrüstigen Mühlknecht ein Kutscher mit Lackstiefeln an den Beinen.«

So sprach er in kurzen, von Schlucksen unterbrochenen Sätzen und torkelte singend zur Türe hinaus:

Im Kellerloch da sitzt die Maus,
Das Haus brennt lichterloh.
Ei, denkt sie, zum Teufel, wo soll das hinaus,
Schon kichert der Funken im Stroh.

Es brennt das Bett, es brennt der Schrein,
Scheu flattert die Eule ums Dach;
Nun rasch in den Rettungsgürtel hinein
Und schwimmend über den Bach!

272 Als er fort war, schlug Vater Höhrle ein Kreuz hinter ihm her in die Luft und langte nach einem zweiten Briefe, der auf dem Tische lag und eine Adresse trug mit wohlbekannter Handschrift. Wer Söhne hat, die an den Brüsten der Wissenschaft saugen, weiß, daß die Alma mater eine teure Amme ist. So wußte denn der Müller, bevor er noch das Siegel erbrach, was des Briefes Inhalt sein werde, und er zauderte ihn aufzumachen.

In diesem Augenblick trat Suse mit einer Schüssel dampfender Morgensuppe ins Zimmer und blieb erschrocken stehen, als sie des Vaters Geist am Tische sitzen sah. »Beim Himmel,« dachte sie, »er kann's nicht sein, noch ist ja die Prozession nicht zurück, und wie kreidig er aussieht!« Wie sie aber Hansens Brief zwischen seinen Fingern bemerkte, glaubte sie zu wissen, was den Vater erbleichen machte, und trat näher. Sie stellte die Schüssel auf den Tisch und legte ihren Arm um die Schulter des tief in Nachdenken versunkenen Mannes.

»Vater,« sagte sie, »was getragen werden muß, laß uns auf vier Schultern verteilen. Warum willst du mir verschweigen, was doch die Spatzen von den Dächern pfeifen, daß wir der Wut des Rauschkolb schutzlos verfallen sind? Gib ihm kein gutes Wort, von anderer Seite naht uns des Himmels Hilfe. Im vierten Jahre schon lohnt die Rebe des Winzers Müh', und wir haben nicht einmal mehr so lange zu warten. Hans schreibt, daß seine Studien einen guten Fortgang nehmen. Verzeih, diesen Brief da in deinen Händen habe ich gelesen, und eine, die mit uns auf 273 die Ernte des gleichen Jahrgangs wartet. So ist Geld herbeigekommen, du hast eine Sorge los, und Hans hat sein Auskommen auf Monate hinaus.«

Vater Höhrle war aufgestanden und lief betreten im Zimmer auf und nieder. Daß er ein Almosen nehmen mußte, das war's, was er nicht sofort verwinden konnte. Doch nach einigem Schweigen hörte man ihn halblaut sagen:

»Der Rauschkolb, freilich, der Rauschkolb, der wird nicht warten wollen, und so werden eines Tages, wenn kein Wunder geschieht, du und ich und der Bastian unsere Habe im Zwergsack aus der Mühle tragen.«

»Wenn kein Wunder geschieht,« sagte Suse und schlug sich mit der Hand auf die Lippen. »Es geschehen Wunder,« stieß sie hervor und bereute schon im nächsten Augenblick die Worte wieder, die ihr entflohen waren.

Doch von einem Dämon zum Reden getrieben, hub sie von neuem an: »Woher denkst du, daß der Bastian seinen Rausch hatte?«

»Aus dem Weltschirm, ohne Zweifel, aber wer hat ihm die Zeche bezahlt?«

»Sieh, darin liegt es, Vater. Das ganze Dorf ist in Aufregung. Der Hofbauer von Dürellenbach war mit dem Schrot an der Spielbank. Im Wams ist der Bauer abgezogen, im Pelzmantel ist er wiedergekommen, der Protz, am heißesten Tag des Juni. Denke dir den Aufstand, als er großartig wie ein Fürst aus der Postchaise stieg, zu einer Zeit, wo die Sonne das Korn röstet, im Pelzmantel! Röse Ricke sagt, die Hunde hätten 274 gelacht. Aber viel Geld haben die beiden mitgebracht. Seit drei Tagen holt der Wirt im Weltschirm den Wein mit Feuereimern aus dem Keller. Ach, Vater, wenn wir doch nur auch ein klein wenig Glück hätten, ein klein wenig nur.«

War's der Glanz erträumten Goldes, der dem Mädchen in die lieben Augen schlug? Wie geblendet hielt sie die Schürze vors Gesicht und stürzte aus dem Zimmer.

Vater Höhrle war wieder allein mit seinen Gedanken. Was hatte er in den letzten Stunden nicht alles erlebt. Das lecke Boot seines Glückes trieb in Nacht und Finsternis auf dem Wasser. Da hatte er eine stolze Fregatte auftauchen sehen, die ihn retten konnte. Doch er besaß nicht die Kraft, sie durch irgend etwas an sich heranzuziehen, und sie verschwand hinter dem Horizont. Es kam eine wackelnde Schaluppe, nicht sehr fest gefügt, nicht sehr vertrauenerweckend, und warf das Schlepptau aus. Aber wer konnte sich ihr anvertrauen, da der Mann, der das Steuer lenken sollte, betrunken war. Sie ging, und eine trostlose Einsamkeit lagerte wieder um den Schiffbrüchigen. Da zwinkerte ganz hinten ein unsicheres Blinkfeuer und warnte vor Korallenriffen. Vater Höhrle ahnte die Gefahren wohl, die den Leuchtturm umlagerten, aber da sein Kurs kein anderes Ziel mehr kannte, so überlegte er, ob er nicht gleichwohl der blinkenden Helle zusteuern solle. 275

 


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