Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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17. Kapitel

Mutter Höhrle war tot. Darüber kann leider kein Zweifel sein. Der Leichenschauer hatte es bestätigt, der Arzt hatte über die betrübende Tatsache einen Schein ausgestellt, und außerdem hatte man sie in Wirklichkeit auch soeben begraben. Wann sie etwa gestorben ist? Ein Jahr ungefähr, nachdem Hans die Universität bezogen hatte. Was ihr wohl gefehlt haben mochte? Darüber war die Trauerversammlung, die soeben den Kirchhof verließ, nicht ganz einig.

Röse Ricke sagte: »Sie starb am ›Chronisch‹«, und sie konnte sich auf die Autorität des Arztes stützen, der in der Tat gesagt hatte, ihr Leiden wäre chronisch.

Onkel Schütteldich behauptete: »Sie ist an Groß und Moos gestorben. Der Ärger packt den Menschen mit zwei Krallen an der Kehle und würgt ihn, bis er tot ist.« Auch er berief sich auf den Arzt und die geheimnisvollen Zeichen, die dieser auf dem Leichenscheine hinter dem Vordruck: Todesursache, gemacht hatte.

Da es nämlich Niemandem gelungen war, das Wort oder gar dessen Sinn zu enträtseln, so interpretierte 156 jedermann hinein, was ihm persönlich paßte und fügte bei: »der Doktor ist derselben Ansicht. Er hat es nur nicht sagen wollen, und für solche Fälle, wo die Leute nicht hinter ihre Schliche kommen sollen, haben Juden, Pfarrer, Apotheker und Ärzte ihre geheime Sprache.«

Superkluge machten für den Tod der Frau Höhrle sogar den Hans verantwortlich und seine Flucht vor der Kutte.

Vier Wochen war sie bettlägerig, das wußte man, und daß der Tod sie von vielen Schmerzen erlöste, das wußte man auch. Daß er ihr aber manche trübe Erfahrung, die ihr die Zukunft noch bringen mußte, ersparte, darüber redeten die Leute, die eben den Gottesacker verlassen hatten, und krochen mit geheimnisvollem Tuscheln paarweise unter die Regenschirme, denn es ging ein feiner kalter Staubregen nieder.

»Dir wüßt' ich ein Paar billige Gäule,« raunte Mordche Rimbach dem Bauer Kaspar Rauschkolb zu, in dessen Ellenbogen er seine mageren Finger eingekrallt hatte.

»Ich dir einen sehr preiswerten Landauer,« entgegnete dieser, »so schlagen wir das Makelgeld quitt.«

Die beiden sahen sich grinsend an und sagten gleichzeitig: »Daß die Pferde heute noch einmal die Müllerin gefahren haben, war so ziemlich ihre letzte Arbeit im Hause Höhrle.«

Beide stutzten, hielten ein wenig an, nickten einander verständnisinnig zu und sagten: »Ein und derselbe Gedanke, also haben wir eine Pfaffenköchin erlöst.« Sie 157 zogen den Regenschirm wie eine Haube dicht über die Köpfe und lachten so, daß wohl einer vom anderen, keiner aber von einem seiner Nachbarn gehört werden konnte.

»Ich denke, die Pferde sind dein,« setzte nach einer kleinen Pause Mordche Rimbach die Unterhaltung fort.

»Bezahlt sind sie schon,« sagte Kaspar Rauschkolb, »und der Wagen auch, ich habe gutgesprochen. Wenn ich ein wenig ziehe, so wackelt die Mühle. Bin ich nicht ein starker Mann, Mordche?«

»Gewiß, du bist so stark wie Simson, aus dem Stamme Dan, aber Groß und Moos sind vom Stamme Nimm und haben Geld und lassen nichts liegen, was sie kriegen können.«

»Dann sei Gott dem Vater Höhrle gnädig,« schäumte Rauschkolb zwischen den Zähnen hervor, »wenn die Bande die Pferde bekommt, so breche ich ihm das Genick.«

Während dieses erbaulichen Gespräches waren sie der Kirche nahe gekommen. Mordche Rimbach bog vor dem Weihwasserkessel rechts ab. Rauschkolb aber bekreuzte sich fromm, trat ein und folgte der Seelenmesse des Priesters in seinem Gebetbuche Zug um Zug, selbst dann noch, als Letzterer vor dem Katafalk für die Seelenruhe der Heimgegangenen ein Vaterunser betete und ein »Gegrüßet seist du, Maria,« drein gab, damit der Himmel den Hinterbliebenen Trost und Stütze sei, ohne freilich seinen Vorsatz zu ändern, dem Vater Höhrle das Genick zu brechen, wenn er die Pferde an einen anderen verkaufen sollte, als an ihn.

Der Pfarrer teilte das Weihwasser aus, und die 158 Meßbuben verlöschten die Kerzen am Altare und um den Katafalk. Nun nahm alles einen kalten leblosen Charakter an, die hölzernen Heiligen zur Seite des Tabernakels und erst recht das schwarze Baartuch mit seinem weißen Kreuz, das über ein sargförmiges Holzgerüste gebreitet war. Die Leute erhoben sich eilig, wischten mit den Händen den Staub von den Knieen und suchten so schnell wie möglich ins Freie zu kommen.

Niemand beschäftigt sich mit den Toten länger, als er muß. Jeder, der aus Grüften emporsteigt, freut sich der wiedergeschenkten Sonne und feiert das Fest seiner eigenen Auferstehung. So wird der Leichenschmaus ein Ostermahl, und jeder, der ihn mitmacht, denkt: »So eine Dummheit, wie das Sterben, kann doch nur den anderen passieren,« und er hat recht, seither war's ja auch so. Daher die Ausgelassenheit bei derartig traurigen Veranlassungen.

Auch beim Leichenschmause der Mutter Höhrle ging's hoch her. Man stieß mit den Gläsern an, trank einander zu und erzählte sich die drolligsten Sachen. Kaspar Rauschkolb war besonders guter Laune. Er zog den Meister Backtrog auf, daß er heute die Spitzweck größer gemacht habe, als man dies sonst von ihm gewöhnt sei. Der aber war nicht verlegen und antwortete, daß er seine Ware dem Bedarf anpasse und daß er vorausgesehen habe, es würden heute viel' Großmäuler zusammenkommen. Dieser Witz machte von Tisch zu Tisch die Runde und erhielt die naive Gesellschaft im Lachen bis tief in die Nacht hinein.

Auch Agnes war gekommen in schlichtem Trauerkleid. 159 Sie nahte sich dem Tische der Familie Höhrle mit ihrem Weinglase in der Hand und stieß schweigend mit jedem an, auch mit dem Geliebten. Ihr Auge war matt und verriet durch nichts die Glut, die in ihr loderte. Ein Gefühl der Schicklichkeit regelte jeden Zug ihres schönen Gesichts, so daß sie fast kalt erschien, wie eine antike Statue.

Indessen hatte man die Lichter angezündet, denn die Nacht senkte ihren schwarzen Baumwollschleier nieder und füllte alle Wege mit einem dunklen Einerlei. Von den Scheiben nieder bahnten sich Wassertropfen eine gewundene Straße, stürzten über die Verbleiung nieder und breiteten einen feinen Sprühregen über ihre nächste Umgebung aus. Ein Teil des kalten Nasses war Liese in den Nacken gesprungen. Sie fuhr erschrocken auf und sah hinter sich. Aus jeder Scheibe glotzte ihr das Spiegelbild der Lampe entgegen. Daneben war alles schwarz. Was jenseits der Mauer lag, war stoffgewordene Finsternis, in der das Grauen wohnte und fröstelnde Kälte. Liese dachte an den Heimweg und wurde unruhig. Vater Höhrle und die übrigen fühlten, was sie wollte, und erhoben sich mit einem Schlage. Niemand suchte sie aufzuhalten. Gedrückt schritten sie zwischen den Tischen hin, dankten dem und jenem für die Ehre, die er der Verstorbenen erwiesen, und waren bald aus dem Lichtbereich im Dunkel der Straße. Sie sahen einander nicht, nur im Gehen suchte eines das andere zu berühren, um sich von seiner Gegenwart zu vergewissern. Der Regen hatte aufgehört, aber der Wind spielte auf einer Orgel voll schauervoller 160 Register. Bald brüllte er wie wilde Bestien hinter Eisengittern, bald wimmerte er wie ein ganzes Findelhaus voller Säuglinge. Auch stieß der Freche unsere vier Wanderer von hinten, daß sie schneller ausschreiten mußten, um nicht aufs Gesicht zu fallen, griff mit seinen kalten Fingern unter ihre Kleider, daß sie schauernd zusammenschreckten und sich aneinander drängten wie frierende Gemsen. So schritten sie fürbaß, mit den Blicken die Erde suchend, ohne daß jedoch eines von ihnen in der Lage gewesen wäre, die Stelle zu sehen, wo sein Fuß hintrat. Und das war noch so sonderbar. Während am Boden die Finsternis dick und undurchdringlich lag wie ein faulender Sumpf, lichtete sie sich in den höheren Schichten. Man sah den Zug der vom Winde gehetzten Wolken, sah, wie der Ungestüme die säumigen mit rohen Fingern würgte, so daß sie aus langen dürren Hälsen geängstigte Gesichter streckten und vorwärts eilten einem hellen Punkte zu, der wie ein feuriger Schmetterling über dem unteren Tale sich unruhig wiegte.

Auch Vater Höhrle sah den Schmetterling und kannte ihn wohl. Er wußte, daß es der Widerschein war aus der glühenden Esse der Dampfmühle, und für ihn hatte er alle Schrecken eines Fabeltieres, wie es nur je die Phantasie eines wahnsinnkranken Dichterhirns geboren hat. Und nun eilte er mit seinen Kindern ihm auch noch entgegen, und der Wind hinter ihnen stieß und drängte sie, als ob er sie in die flimmernde Lohe hineinstürzen wollte, wie in einen glühenden Feuerofen.

Alle vier spannen sie an dem Rocken eines einzigen 161 Gedankens, den die Straße geboren hatte. War es doch die gleiche, aus der die Mutter heute ihre letzte Wallfahrt zum Grabe vollbracht, die gleiche, aus der die Kinder vor so und so viel Jahren den übermütigen Eselritt gemacht hatten. Vater Höhrle dachte daran und auch die anderen. Jawohl die Mutter, ein wenig anders, als sie war, hätte sie schon sein dürfen. Gewiß, sie hat es nicht schlecht gemeint. Keiner von den vieren zweifelte daran, aber ihr mangelte die Einsicht und die Demut, sich dem besseren Urteil zu unterwerfen. Sie war mit daran schuld, daß die Dinge jetzt so schlecht standen.

Das war ein Vorwurf über dem frischen Grabe der Gattin und Mutter. Die nächtlichen Wanderer fühlten, daß der Gedanke pietätlos war, aber sie konnten ihn nicht los werden, und schuldbewußt wie sie waren, fuhren sie heftig zusammen, als plötzlich vom Boden her zwei glühende Punkte ihnen drohend entgegenleuchteten.

Es waren die feurigen Lichter eines Fuchses, der mit leichtem Geknurr seinen Weg über die Straße nahm aus dem Gebüsch ins Gebüsch. Da drunten im Wiesentale hin, da standen Häuser den Bach entlang, arme kleine Tagelöhnerhäuser, die man nicht sah, weil ihre Bewohner das Licht sparten, Häuser, in denen man sich nur einmal im Jahre so recht satt aß, wenn man das Schwein schlachtete, das von der Milch der Kuh fett geworden war, für die hinwieder alle Hausgenossen in Stunden, dem Tagewerk abgespart, das Futter suchten.

In diese Gesellschaft Rechtschaffener strebte wohl der 162 verschlagene Halunke, lenkte die Gedanken des Vater Höhrle von der Toten ab und zog sie an seiner buschigen Rute hinter sich nach.

›Was wird der Dieb heute speisen? Sicher, er ist das Fleisch der Mäuse müde und möchte junge Hühner essen. Wird er den Weg über den Bach finden?‹ – Das Wasser rauschte wild in seinem Bette, und man hörte, wie es Steine mit sich fortrollte. – ›Wird dem Dieb der Sprung von einem Ufer zum anderen gelingen? O, ja das Schlechte gelingt ja fast immer, das Gute so selten! Dann wird er suchen, ob irgend eine Nachlässigkeit ihm den Zutritt zum Stall erleichtert, und er wird plötzlich unter dem Volk der Hühner stehen. Wird der Hahn nun krähen? O, nein, er, der sonst unnötigerweise das ganze Tal mit seinem Geschrei erfüllt, er wird nicht einmal flatschern. Feig wird das Großmaul auf die höchste Stange flüchten und froh sein, wenn der Tod an ihm vorübergeht und andere mitnimmt. Niemand im Hause wird hören, was draußen vorgeht. Erst am nächsten Morgen wird es Geschrei geben, wenn nichts mehr zu ändern ist. Die Mutter wird ins Zimmer springen und die Hände ringen, ach, all die lieben Küchlein mitsamt der Henne!‹

Der Vater wird zornig lospoltern: »O, ihr Lumpenpack, euch hab' ich zum Fressen wie die Mäuse, nicht einmal den Hühnerstall können sie mit Sorgfalt schließen. So nun heißt es: Kein Fleisch und keine Eier. Iß deine Kartoffel trocken, oder schwenke sie mit Wasser hinunter.« Und er wird zur Schublade gehen, sein Brot 163 ins Sacktuch binden und zornig und mißvergnügt nach seiner Arbeitsstelle schreiten. Die Mutter wird sich Vorwürfe machen, daß sie das Unglück nicht lieber verheimlicht hat, und Mutter und Kinder werden froh sein, daß der zornige Vater endlich aus dem Hause ist.

Und doch hat der Fuchs nur getan, was das Naturgebot ihm vorschreibt und wozu ihn der Hunger trieb. Als Gott die Welt und alle Wesen fertig hatte, da sagte er zu ihnen: »So, nun geht hin und freßt einander auf. Satt wird, wer die besten Zähne hat.« Ein anderer Sinn ist aus dem Weltgetriebe nicht herauszulesen. Der fromme Vater Höhrle erschrak über diese gotteslästerliche Erwägung, die vielleicht nicht einmal ganz auf seinem Geistesacker gewachsen war. Seine Gedankenkost hatte er vordem immer aus dem katholischen Sonntagsblatt bezogen, wo Schulze und Müller jedes Thema beinah witzig behandelten unter einem Kreuze mit der Ausschrift: »In diesem Zeichen wirst du siegen.« Ja, hat er nun mit seinem frommen Denken und seiner Rechtschaffenheit gesiegt? Ach, nein, auf der ganzen Linie war er geschlagen.

So hatte er in der letzten Zeit zuweilen auch in andere Blätter geguckt und eingesehen, daß die Weisheit von Müller und Schulze mit einem Dreier die Nummer zu teuer erkauft war. Er fing selber an zu denken. Wenn der Fuchs Hühner stiehlt, so übt er nur sein Jagdrecht aus, er kann vom Gras nicht leben. Vorm Menschen ist ja gar nichts sicher, nicht der Vogel in der Luft, nicht der Fisch im Wasser, nicht die Schnecke, die am Boden 164 kriecht, und der Nebenmensch erst recht nicht. Und dabei kann er nicht einmal sagen, daß die Not ihn vorwärts stößt. Da sind Groß und Moos, die da unten, die den Stempel ihrer Habsucht frech an den Himmel drücken, sie haben zum Leben mehr als zu viel, und doch drängen sie ihn aus seiner Mühle. Er weiß es wohl, es wird der Tag kommen, wo er, seine Kinder an der Hand, aus der Türe schreiten wird, über die seine Vorfahren den Spruch gemeißelt haben:

»Wer andrer Gut schätzt wie das seine,
Erfüllt von zehn Geboten neune.«

Er, ja er hatte nach dem Spruch gehandelt. Er hatte gelebt und hatte leben lassen, aber was half es ihm, wenn Groß und Moos anders dachten. Wenn sie das Mehl zehnpfundweise in kleine Säckchen packten, die man nur aufzuschneiden brauchte, um ein leinernes Hosenbein zu besitzen. Was sollte aber einer mit einem Hosenbein beginnen? Also er kaufte zwei Säckchen Mehl und hatte eine Hose. Konnte Vater Höhrle dies nachmachen? Ach, nein, er war zu ungeschickt, er kannte keine Bezugsquellen, er war zu ehrlich, um den Wert der Verpackung an der Ware herauszuschinden. Wären die Verhältnisse geblieben, wie sie vordem waren, Vater Höhrle wäre wohlhabend, wie er ins Leben hineintrat, auch aus dem Leben hinausgegangen, aber unter der Herrschaft eines grenzenlosen Kapitalegoismus mußte er ersticken, wie die Buche im Föhrenwald.

165 Wie pfiff doch der kalte Nachtwind dem Müller so eisig um Nacken und Ohren. Er fühlte, daß ihm die Luft ausgehe. Der Sturm, der von hinten an ihm schob, als ob er ihn einem Abgrund zutreiben wolle, blies ihm den Atem vorm Munde hinweg. Er eilte ihm nach, schnappte nach ihm und kam in einen kleinen Hundetrab.

»Vater,« sagte Hans, »nur nicht so eilig, die Mädchen können nicht mit.«

Ach, ja, die Kinder, dachte Höhrle, aus seinem schweren Traum aufgerüttelt, wenn nur die wenigstens nicht nachmüßten in die Armut hinein! Wenn es nur für die eine starke Wurzel gäbe, an der sie sich halten könnten über dem Abgrund des finsteren Schicksalbrunnens. Vater Höhrle sann ein wenig, und wie er sann, so öffnete ein freundlicher Gedanke die Türe zur Folterkammer seiner finsteren Selbstquälereien, setzte sich neben die Schreckgestalten, und bald wurde es etwas Licht um den Alten, und alles Häßliche überzog ein rosiger, freundlicher Schimmer.

Vater Höhrle hatte heute aus der Westentasche seines Sohnes ein breites mit Silber beschlagenes Band heraushängen sehen. Das war etwas Besonderes, das hatte nicht jedermann. Er erinnerte sich, ein Gleiches einmal gesehen zu haben an Christoph Arnold, und dann dauerte es nicht lange mehr, und er war Staatsanwalt in Darmstadt. Ach, ja, das war nun was. Ein paar Jahre noch, dann konnte Hans ein Arzt sein, viel gesucht und viel beschäftigt, und Liese und Suse waren bei ihm und er selber auch. Und er konnte so ein wenig nach des 166 Doktors Pferden sehen und sich so das Altenteil verdienen. Dieser letztere Gedanke machte ihn sehr glücklich. Großes hatte er im Leben nicht zu vollbringen vermocht, im Kleinen aber wollte er treu und redlich sein. Ja, wenn man ihm nur Zeit ließe, vielleicht könnte man die Pferde, die jetzt noch in der Mühle standen, für den Hans erhalten. Zur Arbeit waren sie nicht recht geeignet, dazu waren sie zu leicht. Aber so vor einem Wagen springen und schnell irgendwohin und wieder zurück, ja, das konnten sie. Damit lohnte sich der Hafer, den sie fraßen, und sie konnten dem richtigen Herrn noch Geld verdienen helfen. Bei diesem entzückenden Gedanken wurde es dem armen Grübler wieder warm in seiner Haut, und er fror nicht mehr, obwohl der Wind feuchte, naßkalte Schauer durch das fadenscheinige Gewebe seines Hochzeits- und Leichenrockes blies. Aber dem Hans wollte er etwas näher rücken, er tat deshalb langsam, berührte wie zufällig im Gehen die Hand seines Sohnes und schritt dann vor der kraftvollen Gestalt einher, stolz fast, wie ein Hund vor einem Pferde schreitet.

Vater Höhrle merkte bald, daß ihn jetzt der Wind etwas überstrich. Das war ihm recht. So sollte es bleiben. Hans mochte die starken Schultern den Stürmen des Lebens entgegenstemmen, er wollte für sich nur ein stilles Plätzchen, wo ihn Schnee und Regen nicht erreichten und von wo aus er die Schornsteine von Groß und Moos nicht mehr zu sehen brauchte.

Jetzt schimmerte unten am Bache ein Licht durch die Finsternis, und eine Unsumme glühender Stricknadeln 167 wurde hinausgesendet in die dicke Finsternis. Baschel, der Mühlbursche, war zeitig nach Hause gekommen und hatte die Lampe ans Fensterkreuz gehängt, damit die Herrschaft den Pfad finden möchte, der von der Landstraße quer durchs Wiesental nach der Mühle führte.

»Das ist nett von ihm,« dachte Vater Höhrle, »es gibt doch noch Leute, die nicht ausschließlich an sich, sondern auch an andere denken.«

Im Zimmer war es freilich sehr unwirtlich. Der Firnisgeruch des Sarges füllte noch den Raum, und ein paar Kränze, die zu spät gekommen waren, um auf dem Sarge zu prangen, gaben dem Gemach die düstere Stimmung einer Leichenkammer. Vor der Öde fliehend verschwand von den vieren eines nach dem anderen, nahm aber einen Stuhl mit, und bald saßen alle in der Küche um das offene Herdfeuer, das ihre Suppe wärmte. Sie sprachen nichts, kein Ton war zu hören, als das Klappern der Mühle und zuweilen vom Stalle her das Brüllen eines Kalbes, das man von der Mutter weggebunden hatte, um es abzugewöhnen.

»Gute Nacht,« sagte zuerst Hans und ging.

»Gute Nacht,« sagten Suse und Liese und gingen gleichfalls.

Auch Vater Höhrle ging in sein Schlafzimmer. Er war Witwer und ging doch zu zweien ins Bett. Mit ihm zog sich eine aus, die er nicht bestellt hatte und die ganz und gar nichts Verlockendes für ihn hatte. Ihr hageres Gesicht war so runzelig wie ein getrockneter 168 Schellfisch, und ihr erschrecklich dünner Hals starrte aus dem gelben Schultergürtel wie ein Pfahl aus einer Lehmgrube. Frech war sie, das muß man ihr lassen, denn sie legte sich neben Vater Höhrle und drängte ihn nach der Wand zu, daß sein Kopf vom Kissen niederglitt und auf den Rand der Bettlade zu liegen kam, wo er allerdings eine erwünschte Kuhle fand.

Frau Sorge war's. Er schloß die Augen, um sie nicht sehen zu müssen, aber er konnte die Ohren nicht schließen, und Hängeohren wie ein Lapin hatte er nicht. Und wenn auch, es hätte nicht viel genützt, denn sie redete zu ihm in einer hohen Fistelstimme, die mit Nadeln in sein Gehirn einstach.

»Vater Höhrle,« sagte sie, »nun hast du Platz in deinem Bette, ei, so mach es dir doch bequem, wer weiß, wie lange es noch dauert und der Gerichtsvollzieher zieht dir das Leintuch unter dem Gesäße weg. Du hoffst auf deinen Hans, schön, ja, aber hast du nicht hundertmal die Bäume blühen sehen und doch im Herbst kein Obst geerntet. Der Wind hat es dir niedergeweht. In manchem Apfel saß ein Wurm, und er fiel, bevor noch der Herbst ihn gereift hatte.«

Dieser Gedanke war Vater Höhrle ganz unerträglich, er rieb mit dem Daumennagel an seiner Stirn, als ob er ihn ausradieren wolle aus seinem Gehirn.

»Vater Höhrle, wirst du das Geld aufbringen können, das seine Ausbildung noch erfordern wird. Ich glaube kaum. Hör' doch, wie deine Mühle klappert? Verstehst du, was sie sagt: ›Bankerott, Bankerott.‹«

169 Der geängstigte Müller setzte sich auf. Wahrhaftig, es war so. »Bankerott, Bankerott!« so rief die Mühle, da mußte irgend etwas nicht in Ordnung sein. Ach, und es war ja vieles nicht in Ordnung. Sein Geld war knapp geworden, manches war vernachlässigt, und an Hansens Erziehung konnte jetzt nicht gespart werden. Sollte es nicht ganz reichen, nun dann, dann war ja wohl noch ein Engel da, der helfen konnte. Vater Höhrle dachte in diesem Augenblick zum ersten Male in diesem Zusammenhang an Agnes, die heute Abend mit Hans angestoßen hatte. Er dachte an sie mit inbrünstigem Glauben. Der Gedanke gab ihm Ruhe, er schlief ein, trotzdem Frau Sorge ihr eckiges Skelett neben ihm ausstreckte, und trotzdem die Mühle höhnte: »Bankerott, Bankerott.« 170

 


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