Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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28. Kapitel

Es war ein glühender August voll gleißenden Sonnenscheins. Das Gras auf den Wiesen stellte sich dünn. Nur magere strohige Stengel reckten sich und schauten sich um, ob es den Lanzenblättern des Rasens möglich sein werde, ihnen zu folgen. Aber sie blieben allein, umgeben von häßlich grauen Brandplacken, auf denen es selbst der Grille zu heiß wurde. Umsponnen und rostig hing das Laub von den Obstbäumen nieder, die Stengel der Früchte wurden dürr, diese selber fielen ab, und die Mäuse an den Straßenböschungen hatten billige Mahlzeiten. Im Tannenwald brütete die Hitze, brachte die Nadeln am Boden zum Aufstehen, stieg an den Stämmen in die Höhe und schmolz das Harz, daß es in Tropfen niederrann und feinen Terpentingeruch ausströmte. Es duftete wie in einer Schreinerwerkstätte und war heiß wie in einer Backstube. Die Sonne, die unbarmherzige Sonne tat, was sie nur konnte, um sich gründlich verhaßt zu machen. Sie zerrieb den Straßenkot zu scharfem Pulver und schickte kleine Tagediebe von Wirbelwinden, die ihn Menschen und Tieren ungezogen in die Augen werfen mußten. Wer konnte, 286 wich diesen Gemeinheiten aus, lag auf einer Bank, gähnte, schwitzte und hütete sich, Wasser zu trinken, um nicht noch mehr schwitzen zu müssen. Die Wege waren verödet, die Dörfer leer, selbst Enten und Gänse wollten sich nicht die Füße verbrennen an den glühenden Pflastersteinen; sie blieben lieber in den Tümpeln um den Dunghaufen stehn. Kein Ton weit und breit. Nicht einmal die Kegel rappelten auf den Kegelbahnen. Ob die Grillen zirpten? Ich weiß es nicht, und auch die zwei Wanderer wissen es nicht, die matt und schwerfällig sich die Straße hinanschleppten und sich umdrehten, wenn in der Ferne eine Windhose ihre ärgerliche Spirale in die Luft schraubte. Dem einen der Wegemüden hing die Zunge heraus, und ab und zu fiel ein Tropfen von ihr nieder und bildete im Straßenstaub eine feuchte, erbsengroße Kugel. Auch der andere stieß zuweilen die Zunge etwas hervor und befeuchtete damit die trockenen Lippen unter leisem Ächzen.

In der Ferne sah man ein weißgestrichenes Chausseehaus, das einen langen Arm vorstreckte, an dem es einen Elefanten schlankweg in die Luft hinaushielt. Diesem Zeichen steuerten die zwei Wanderer mühsam entgegen, traten durch die Haustür und wurden von einer sanften Kühle und einladendem Weingeruch, die beide aus dem Keller kamen, freundlich empfangen. Aber im nächsten Augenblick schon erhob sich ein schreckliches Gekläff und Gewinsel, das von einem Wollklingel ausging, der nach einem Mausloch suchte, um sich darin zu verkriechen.

»Barmherziger Himmel,« klang eine metallene Stimme 287 aus der Küche, »was für ein Eselshuf mag dem Zamperle aufs Fell getreten haben, daß er gar so erbärmlich jammert?« Und ein Weiberrock stürzte hervor und wickelte den Wollklingel in die Schürze, wo er aber immer noch fortfuhr zu protestieren und zu wettern, als ob ihm ein bis dato unerhörtes Unrecht widerfahren wäre.

»Potz Schweineschwänzchen und kein Ende,« hob die Blechtrompete wieder an, »füttern sie herumlungernde Handwerksburschen mit dem Ungetüm, Herr Höhrle? Nun, dann gut, dann mag der Sauhund billig halten sein, aber Kartoffel, Kartoffel! Ein Rittergut bringt in dem trockenen Jahrgang nicht soviel hervor, als der brauchen könnte, und nun gar die ausgemergelten Lappen ihres Alten,« und sie warf den kläffenden Wollklingel unter die Zudecke eines Kinderwagens, der da im Wege stand.

Das war der Empfang, den Holofernes und sein Herr im Weißen Elefanten zu Weiher fanden, als sie eben in die Herbstferien gingen. Mehrere Stunden Eisenbahnfahrt, mehrere Stunden Fußmarsch liegen hinter ihnen, und hinter ihnen am Eisenbahnschalter liegt ihr letzter Groschen. Wer in solcher Verfassung hungrig und müde in ein Wirtshaus tritt, sollte eine bessere Stimmung finden wie die war, die Holofernes, wenn auch ohne es zu wollen, vorbereitet hatte. Die Wirtin war verdrossen. Verdrossen stellte sie einen Schoppen Apfelwein auf den Tisch, verdrossen schlug sie mit dem Kochlöffel die Eier in ihrer Lederschürze zu einem Pfannkuchen, verdrossen stellte sie denselben auf den Tisch und gerade vor die Nase des am Tische stehenden 288 Holofernes, dessen Tugend dadurch einer schweren Versuchung ausgesetzt war. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken an den Uhrkasten, steckte beide Hände unter die Schürze und sah mit verhaltenem Ingrimm zu, wie ein halber Laib schweren Bauernbrotes mitsamt den Eiern in zwei Mäulern verschwand.

So lange das Essen währte, befand sich Hans Höhrle leidlich wohl, dann aber wurde er unruhig. Er sah zuweilen auf die Straße hinaus und dachte: »Wenn ich nur erst so weit von diesem Hause weg wäre, als man von hier aus sehen kann.« Zuweilen zog er seine Uhr in auffälliger Weise hervor, weil er hoffte, daß deren Anblick seine Kreditwürdigkeit in den Augen der Wirtin steigern könne.

Holofernes, der zum Ärger der lauernden Frau unglaublich große Brotbrocken verschlungen hatte, schlief und schnarchte sogar ein wenig. Er war satt und kannte über das hinaus keine Sorge. Ein Schwarm von Mücken hatte sich über die mikroskopischen Reste von beider Wanderer Mahlzeit hergemacht. Sie fragten nicht, was es etwa kosten könne. Beide, Hund und Mücken, überließen es vertrauensselig unserem Hans, darüber nachzudenken, wie er, ohne einen Pfennig in der Tasche, die Zeche begleichen möchte. Verdammt, wenn nur die Wirtin nicht gar zu bärbeißig dreinschauen möchte; sie kannte ihn doch, warum richtete sie nicht eine einzige Frage an ihn? Hans suchte ihre Stimmung mit einer Schnurre zu verbessern.

»Im Halben Mond zu Trippsdrill wettete der Postmeister Hallwachs, daß sein Stangenreiter in einem Sitz 289 einen Hammel essen könne. Die Leute lachten ihn aus. Da schickte er nach seinem Vielfraß. Der kam und hörte, wie der Postmeister sich hineingeredet hatte.

»Ich laß meinen Herrn nicht stecken,« sagte er und setzte sich mit dem Todesmut eines Gladiators im Gesicht hinter den Tisch. Mau brachte ihm das Opferlamm zu Ragout geschnitten. Ist's da ein Wunder, wenn der Brave den Hammel nicht erkannte und ihn für eine Vorspeise hielt, die seinen Appetit reizen sollte? Er aß mit Lust so eine Stunde und wohl auch zwei; da aber, als eben die Wirtin die letzten Brocken von dem geschlachteten Tiere brachte, erwachte in ihm das Bewußtsein, daß er für das Interesse seines Herrn zu speisen habe.

»Wenn jetzt der Hammel nicht bald kommt,« sagte er entrüstet, »so hör' ich auf zu essen. Ich sehe schon, ihr wollt mir meinen Appetit verderben.«

Leider verfehlte die Erzählung ihren Zweck. Die Wirtin zum Elefanten zog den Mund in ihrem Kürbisgesicht ein wenig in die Breite und zeigte zwei mächtige Zahnlücken; das war rein alles, was aus ihr herauszuholen war.

Indessen verglühte die Sonne im Westen, die Linde vorm Weißen Elefanten warf einen Schatten ans Fenster, und die Uhr über dem Kopfe der Wirtin behauptete, ohne Widerspruch zu finden, daß die neunte Abendstunde gekommen sei. Nun mußte irgend etwas geschehen, um eine Auseinandersetzung mit dem Elefantenweibe herbeizuführen. Haus holte sein Portemonnaie heraus und fragte nach der 290 Rechnung. Sie war an sich nicht groß, nur eben in diesem Augenblick unerschwinglich.

»Können Sie einen Hundertmarkschein wechseln?« fragte Hans mit einem erwartungsvollen Blick in das Kürbisgesicht. Bei Gott, die Wirtin konnte das, denn sie nickte mit dem Kopfe.

»Dann, dann,« fing Hans zu stottern an, »nun, dann brauchen Sie ja das Geld nicht so nötig und können meine Rechnung mit der Kreide einstweilen hinter die Kammertür schreiben.«

»Na, so was,« brach die Dicke los, »so was läuft in der Welt herum mit zwei Mäulern und hat nicht für eines Futter. Glaubt er, meine Henne müht sich ab, um Eier zu legen für Leute von seiner Sorte? Und die Zumutung an ein rechtschaffenes Weib, bei solcher Hitze am Herd zu stehen und zu backen für Leute, die nicht zahlen wollen. Kredit geben, wem denn? Dem Sohne des Bankerottmüllers? Heißt das nicht, sein Geld in die Furche werfen und hoffen, daß es wie grüne Erbsen wieder herauswachsen werde? Daraus wird nichts!« schrie das ergrimmte Weib und stemmte die fetten Hände auf die prominenten Hüften.

Hans war in qualvoller Verlegenheit und hätte mit Vergnügen seinen Hunger und seinen Durst wieder eingetauscht gegen dieses mit solcher Beschämung gepfefferte Gefühl des Sattseins. Er hätte von seinen Händen einen Finger hergegeben für einen Taler, den er diesem Weibe ins Gesicht werfen konnte. Er sah an sich nieder, zog 291 die Uhrkette durch das Knopfloch und legte sie mitsamt der Uhr auf den leeren Teller, der vor ihm stand.

»Euer Essen war gut. Dafür nehmt, was hier vor euch liegt. Für den Nachtisch aber, den ihr mir hoffentlich unentgeltlich geliefert habt, dafür segne euch Gott!« Und er nahm sein Ränzlein über die Schulter und schritt, von Holofernes gefolgt, über die Schwelle des ungastlichen Hauses.

Das Gehen förderte unsere Reisenden mächtig voran, denn Hans war in Erregung. Wie war es nur möglich, daß dies Weib ihm derartig begegnen konnte, ihm, dem auf dem Trottoir der Universitätsstadt mancher auswich, der über einen klangvollen Namen und starken Arm verfügte? Ihm, hinter dessen Klinge die Luft sang, wenn er sie über den Köpfen seiner Gegner schwirren ließ. Hatten denn die Riegel, die auf Stirn und Wange lagen und vernehmlich predigten, daß ihr Träger das Schwert als seinen Rächer führte, auf dies inferiore Menschenkind keinen Eindruck gemacht? War es denn mit den Münzen, die auf der Universität galten, so windig bestellt, daß man sie beim ersten Schritt ins Leben hinein in den Straßenkot werfen konnte? Während Hans über diesen Gegenstand nachdachte, rieselte viel überspannter Idealismus durch seine Haut hernieder und ging verloren, wenn nicht allenfalls Holofernes ihn auflas.

Andere Gedanken, Kanonen von schwerem Kaliber, fuhren vor dem Studenten auf und versuchten, ihm eine ernste Wahrheit ins Ohr zu donnern. Was sollte die malitiöse 292 Bemerkung heißen: »Dem Sohne des Bankerottmüllers?« Stand es denn wirklich so schlecht um seinen Alten? War er denn nicht mehr der Sohn vermöglicher Leute? Saß zu Hause die Not am Tisch und schnitt das Brot vor, während er im Burschenhaus gemächlich tafelte? Nie doch hatte der Vater mit einem Worte verraten, daß ihn der Mangel drückte. Aber Hans hätte sehen können, wie er gebeugt einherlief, wie sein Rock, sein Hut schon fast um ein Almosen bettelten.

Auch das Bild seiner Schwester kam vor seine Seele. Sie sah seit dem Tode der Mutter so hausgemacht aus, so zusammengemustert. Die Stoffe ihrer Kleider waren geringwertig, und manche Jacke saß, als ob sie mit der Heugabel an ihren Leib geworfen wäre. Hans schämte sich, wenn er sein wohlgepflegtes Äußere sich neben dem seiner Schwester vorstellte, und er war froh, daß die Dunkelheit, die sich niedersenkte, ihn vor sich selber in einem verschwommenen Grau verbarg. So kam er nach dem kleinen Marktplatz von Husterloh und kehrte in dem Eckhause ein, wo sein Onkel Schütteldich zwischen gewässerten Stockfischen und stinkenden Schwefelhölzern noch immer ein sehr erträgliches Leben führte. Bei ihm, wo die dem Verderben geweihten Reste einer Viktualienhandlung immerhin noch Leckerbissen für eine Hundetafel abgaben, sollte Holofernes bleiben. Er selber wünschte von dem Onkel nichts als einige Aufklärung über die Verhältnisse des Vaters, die ihm seit seiner Einkehr im Weißen Elefanten wenig vertrauenerweckend vorkamen.

293 Die Tür des Kramladens war etwas geöffnet, und Hans sah, wie sein Onkel mit einem brennenden Streichholz von einem Leiterstuhl herunterstieg, während eine verstaubte Petroleumlampe über seinem Haupte einen zunächst schwachen Versuch machte, Klarheit auszubreiten über tausend verworrene Kleinigkeiten, die ohne innere Wahlverwandtschaft sich nebeneinander gelagert hatten, wie es der Zufall gerade wollte. Da der junge Student einen Schritt vorwärts, Herr Schütteldich einen rückwärts machte, so waren Onkel und Neffe im nächsten Augenblick näher beieinander, als es durch die bestehenden Familienbande und durch die Rücksicht auf die beiderseitigen Hühneraugen geboten erschien.

»Ei, Hundebuckel und keine Quaste dran,« platzte der alte Jäger heraus. »Was für ein Seiler möchte hier wohl aus vier Menschenbeinen einen Strang flechten?« Und er drehte sich mitsamt dem Streichholz auf dem Absatz herum und leuchtete seinem Neffen ins Gesicht.

»Tausend Dackelhunde, du hier, und mit einer Visage voller Schnörkel wie ein Judengrabstein? Wer in aller Welt hat dir das Aleph, Beth, Gimel, Daleth ins Gesicht gezeichnet?«

»Ich bin gefallen, Onkel,« sagte Hans ausweichend.

»Dann sicher in den Warenhaufen eines Trödeljuden. Wie könntest du sonst aussehen wie ein Gartenbeet, in dem die Hühner scharrten! Bei Gott, Hans, mein Junge, dein Onkel knöpft seine Hosen nicht mit der Kneifzange zu. Welcher Held aus des Caroli magni Tafelrunde hat dich 294 bekriegt? Repetent in der Quinta, dann Schnupftabakslieferant für den Wirt in der Hirschgasse zu Heidelberg, wie sollte mir da der Unterschied zwischen einer Quart und einem Durchzieher ein Geheimnis bleiben? Keine Flausen, mein Wickelkind; hier, sieh nach meiner Uhrkette! Menschenzähne, so wahr ich Schütteldich heiße, und nicht von einem Barbier herausgezogen, nein, herausgeschlagen mit einer Tiefquart, die ich vom linken Ohrläppchen bis in den Mundwinkel zog. Ich, ich, dein leibhaftiger Onkel,« und dabei nahm er Hans an einem Westenknopf und zog ihn neben sich auf das Ledersofa, in dessen fettigem Glanze sich die Petroleumlampe gar anmutig bespiegelte.

Während sich diese Erkennungsszene abspielte, hatte sich richtig Holofernes mit den Vorderfüßen in eine Kanne Bodenöl verirrt und war nun eifrig dabei, das, was er mit den Pfoten aufgetragen hatte, mit der Rute glattzustreichen über die Diele hin. Nach getaner Arbeit kam er näher und legte Herrn Schütteldich zutraulich die Schnauze aufs Knie, weil er irgend ein Kartellverhältnis zwischen diesem und seinem Herrn voraussetzte.

»Du treibst wohl neben deinen Studien ein kleines Milchgeschäft?« fragte Schütteldich und suchte mit der Hand auf dem Hundefell nach Kahlhieben, wie sie das Ledergeschirr an Arbeitshunden zu schlagen pflegt.

»Doch nicht,« sagte Hans mit Lachen, »der Hund gehört der Burschenschaft; ich habe ihn nur mitgebracht, weil ich dir, dem Onkel Nimrod, eine Freude machen wollte und weil ich dachte, er wird in unserem Hofe niemanden genieren.«

295 »Das schon,« sagte Schütteldich, »der Hof ist hoch und tausend Hunde hätten darin Platz, wenn man sie übereinander stellt; nur fressen dürfen sie nicht, denn Milch und Kartoffeln sind bei dir zu Hause ein wenig knapp. Aber dies alles,« betonte er großartig, »sind nur transitorische Zustände. Fortuna tanzt auf einem Rad. Im Nu sind Nord- und Südpol vertauscht. Im Weltschirm trinken die Leute Champagner, und wenn dein Vater morgen abend wiederkommt und rouge et noire sind günstig gefallen, so ist Futter da für dich und Holofernes. Indessen bleibt ihr gelehrten Herren bei dem Repetenten aus der Quinta; er will den erhabenen Moment genießen, wenn zwei Millionäre, Vater und Sohn, sich die Hände schütteln.«

Onkel Schütteldich, der gute Onkel, hatte übrigens für ein reichliches Nachtessen gesorgt, und Hans ging nach demselben zeitig zu Bett. An der blau und weiß gestreiften Tapete seines Zimmerchens hing in einem runden Holzrahmen das Bild seiner Mutter. Hans lag schon unter der schwellenden Bettdecke, in deren Entstehungsgeschichte die Leiden geschundener Gänseherden eine Rolle spielten, aber er konnte sich nicht entschließen, das Licht auszublasen. Sein Blick wanderte auf den Streifen der Tapete unruhig hin und her, bis er immer und immer wieder zurückkehrte zum Bilde der Mutter. Ihr Gebein ruhte nicht weit von dem seinen, und die Eule, die zuweilen durch die Nacht rief, saß vielleicht auf der Traueresche, die ihre Zweige über ihren Grabstein niederrieseln ließ. Außer der Eule ließ sich in regelmäßigen Zeitabständen 296 das Kuhhorn des Nachtwächters hören und streifte von Hans alles ab, was so von studentischer Hyperkultur an ihm hing. Der Stehumlegkragen verlor seine herausfordernde Bedeutung, die Sparröllchen errangen sich das Bürgerrecht. Der Atem der Vergangenheit stieg mit dem Geruch der Heimaterde vor ihm auf und führte Gestalten mit sich, die im Getriebe der Stadt sich nicht sehen lassen durften, aber doch echt waren und ganze Menschen.

Da war die Zuckerbäckersfrau, die mit dem Staubbesen die Übertretung des siebenten Gebots an Hansens Sitzfleisch rächte. Da waren die Esel wieder, die einst das Haus Höhrle in grenzenlose Verlegenheit gestürzt hatten. Da war Agnes, und der sonnendurchleuchtete Septembernebel, der vorm Walde ihr beider süßes Geheimnis überschleierte. Da war die hohe Tromm und jener Septembervollmond, der herniederblickte, als zwei Menschenkinder sich das Versprechen gaben, eins zu werden und eins zu bleiben, was auch das Leben bringen mochte. Hans fragte sich, ob er zu seinem Teil getan habe, was er konnte, um diesem Ziele näher zu rücken, und er antwortete vor sich selber: Ja. Aber er verhehlte sich nicht, daß auf dem Wege zum Gipfel noch eine schwierige Kletterpartie vor ihm liege. Sein Vater, sein guter, ehrlicher Vater war auf einen Weg gedrängt worden, auf dem nur der Leichtsinn des Onkel Schütteldich das Glück suchen konnte. Wie, wenn die Heimtücke der rollenden Kugel, die Bosheit der fallenden Kartenblätter gegen ihn entschieden! Hans sah den Postwagen ankommen, sah ein kleines zusammengeschrumpftes Männlein, dem der 297 Rockkragen über den Schädel hinwegguckte, aussteigen, sah, wie der Wind dies schwankende Skelett vor sich hin blies immer das Tal hinab, immer die Straße entlang, die er, der Vater und die Schwestern am Begräbnistag der Mutter so trübselig gewandert waren.

Wohin, du armer, du gequälter Pilger? Weißt du nicht, daß da oben auf dem Kirchhof für dich ein Bett bereitet ist? Was ziehst du noch einmal an deiner Herberge vorüber, noch einmal in jenes Haus, in dem vier vorwurfsvolle Augen auf dich warten, Susens Augen und die des alten, treuen Mühlbaschel?

Ein namenloses Mitleid mit dem Bilde seines Vaters packte unseren Hans und warf ihn aus dem Bett, in dem er Schlaf gesucht hatte. Er trat ans Fenster und sah zum Weltschirm hinüber, wo herabgelassene Vorhänge die rote Glut der Lampen filtrierten und ein gemildertes Licht auf die Nacht der Straße fallen ließen. In diesem Lichte sah er einen Mann stehen mit einer Hellebarde in der Faust, eine Hubertusmütze mit hoher Reiherfeder auf dem Kopfe. Das Ganze glich einem Stück Mittelalter aus der Erbachschen Sammlung zu Erbach. Der Mann hatte einen Stein unter seine Füße gewälzt und streckte sich an der Mauer empor, offenbar um durch irgend einen Vorhangsspalt ins Innere des Zimmers sehen zu können, und blieb solange an der Fensterbrüstung hängen, bis drüben das Licht erlosch. Dann hörte man grobe Stiefel ungeniert lärmend über das Pflaster schreiten, aber nicht lange. Es verhallten die Tritte, und Hans zog daraus den Schluß, 298 daß der Mann da irgendwo in der Nähe sich untergebracht habe, um den Verlauf irgend einer unheimlichen Sache zu beobachten. Jetzt war die Bühne leer. Zu sehen war nichts, zu hören auch nichts. Hans schloß das Fenster, kroch unter die Bettdecke und schlief nach einem grausamen Tage, der ihm so manches geraubt, einem noch grausameren entgegen. 299

 


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